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Stuttgarter Sagen.

I.

Der Blutturm im Nesenbachtal.

Zur Zeit des deutschen Königs Arnulf lebten auf der Biberburg am Neckar in der Nähe von Cannstatt zwei Brüder, Ericho und Werner. Ihr Charakter war sehr verschieden. Der ältere Ericho war ruhig und ernst, der jüngere Werner dagegen leichtsinnig, unbesonnen und schnell aufbrausend. Trotz dieser Verschiedenheit lebten die Brüder in großer Einmütigkeit beisammen. Ihr Hauptvergnügen war die Jagd. Besonders gerne jagten sie im Nesenbachtal, denn die Abhänge desselben bedeckten große Wälder, und das Wild kam oft herab ins Tal, um an dem Bach zu trinken oder in den Seen zu baden.

Als sie einst wieder dort jagten, wurden sie von einem Gewitter überrascht. So ungern sie es taten, denn sie hatten noch gar nichts erlegt, mußten sie sich doch nach einem Schutz vor dem Gewitter umsehen. Sie begaben sich daher in einen alten Turm, welcher noch aus der Römerzeit stammte und nah beim Egelsee stand. Als sie in der Nähe des Turmes waren, zerschmetterte ein Blitzstrahl eine gewaltige Eiche, und ein Reh, welches unter ihr Schutz gesucht hatte, sprang herbei und legte sich in seiner Angst zu Erichos Füßen. »Nun dürfen wir doch nicht ohne Beute heimkehren,« rief Werner und erhob seinen Jagdspeer. »Schone das arme Tier, das bei uns Schutz sucht!« rief ihm sein Bruder zu und beugte sich über das zitternde Reh. Aber schon hatte Werner den Speer geschleudert, und dieser fuhr in Erichos Schulter. Nach wenigen Minuten gab der tödlich Getroffene seinen Geist auf, nachdem er noch seinem Bruder vergeben und ihn ermahnt hatte, seiner Unbesonnenheit Meister zu werden.

Werner geriet in Verzweiflung. Nachdem sein Bruder im Erbbegräbnis ihrer Familie zu Mühlhausen am Neckar beigesetzt worden war, nahm er seine Wohnung in dem alten Turm, der nun der Blutturm hieß. An der Stelle, wo die unselige Tat geschehen war, ließ er ein hohes Steinkreuz errichten. Sechs Jahre lebte er hier in tiefster Einsamkeit, täglich gequält von Gewissensbissen, und konnte die Ruhe seiner Seele nicht finden. Endlich entschloß er sich auf den Rat eines alten Priesters, der sich zufällig zu ihm verirrt hatte, eine Pilgerfahrt ins heilige Land zu unternehmen. Ehe er ging, grub er in das Steinkreuz die Worte: »Den Brudermord sühnt nicht Reue und Buße.«

Erst nach 62 Jahren kehrte er wieder zurück. Er war in Palästina in die Gefangenschaft geraten, hatte bei verschiedenen Herren als Sklave gedient, war im Gefängnis gelegen und endlich bei einem Zug durch die Wüste ohnmächtig zusammengebrochen, und der Sklavenvogt hatte ihn als Futter für die Schakale liegen lassen. Ein alter, milder Araber hatte ihn gefunden und es ihm ermöglicht, in die Heimat zurückzukehren. Nun stand er als armer Greis wieder an der Stätte, an der sein Leben eine so ernste Wendung genommen hatte. Der Blutturm hatte inzwischen wieder einen Bewohner gefunden; denn an jener Stelle des Tales hatte Herzog Luitolf von Schwaben einen Stutengarten angelegt, und der Aufseher wohnte nun in dem Blutturm. Niemand wußte mehr etwas von der unglücklichen Tat, welche hier geschehen war. Denn die Inschrift an dem Kreuz war unleserlich geworden.

Noch einmal betete Werner an dem Steinkreuz. Einige Tage später fand man ihn tot am Grabe seines Bruders in der Kirche zu Mühlhausen liegen. Seine Züge waren friedlich. Er hatte seine Schuld hart gebüßt und konnte nun versöhnt zu seiner Ruhe eingehen.

(Nach K. Pfaff.)


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