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Der Philosoph von Down.

Persönliches über Charles Darwin.

Der zuerst 1845 – 58 in 4 Bänden erschienene »Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« Alexander von Humboldts (1769 – 1859) stellt einen säkularen Abschluß des gesamten Naturwissens jener Zeit dar. Dieser große Forscher, zugleich der Urheber eines populär-wissenschaftlichen Schrifttums in klassischer Form, hat die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso entscheidend beeinflußt wie Darwin die zweite; er gemahnt an den Propheten, der von der Höhe das gelobte Land erblickt, das er selbst nicht mehr betreten soll, und es den Seinen verkündet, wenn er um die Mitte des vergangenen Säkulums von seinem Vertrauen in eine naturwissenschaftliche Weltbetrachtung spricht: »Meine Zuversicht gründet sich auf den glänzenden Zustand der Naturwissenschaften selbst: deren Reichtum nicht mehr die Fülle, sondern die Verkettung des Beobachteten ist. Die allgemeinen Resultate, die jedem gebildeten Verstande Interesse einflößen, haben sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wundervoll vermehrt. Die Tatsachen stehen minder vereinzelt da; die Klüfte zwischen den Wesen werden ausgefüllt. Was in einem engern Gesichtskreise, in unserer Nähe, dem forschenden Geiste lange unerklärlich blieb, wird durch Beobachtungen aufgehellt, die auf einer Wanderung in entlegensten Regionen angestellt worden sind. Pflanzen- und Tiergebilde, die lange isoliert erschienen, reihen sich durch neuentdeckte Mittelglieder oder durch Übergangsformen aneinander. Eine allgemeine Verkettung: nicht in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe, nach höherer Ausbildung oder Verkümmerung gewisser Organe, nach vielseitigem Schwanken in der relativen Übermacht der Teile, stellt sich allmählich dem forschenden Natursinne dar.« Humboldt selbst suchte nicht die Fülle der Erscheinungen durch allgemeine Naturideen zu verknüpfen, sondern er reihte, der durchaus objektiven Richtung seiner Sinnesart entsprechend, die Dinge und Tatsachen in naturgemäßer Weise aneinander. So führt er in seinem »Kosmos« die Naturbeschreibung »nur bis zu der Pforte, die den Zugang zur Weltanschauung eröffnet«? Dr. Rudolf Steiner: » Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert«, Bd. II, S. 7 (Berlin, S. Cronbach).

Diese Pforte hatten die Vorläufer Darwins bereits geöffnet, er aber stieß das Tor weit auf, so daß jedermann der Zugang ermöglicht wurde zu einer neuen Weltanschauung, welche die natürliche Entwicklung lehrt und zur Erklärung der uns umgebenden belebten Welt auf das Wunder verzichtet. Nicht minder groß als seine wissenschaftliche Leistung ist aber auch die Persönlichkeit Charles Darwins, die als eine wahrhaft vorbildliche bezeichnet werden darf. Sein ganzes Leben war der wissenschaftlichen Forschung und Arbeit gewidmet; über alles setzte er die Erkenntnis der Wahrheit, für die er kein Opfer scheute. Stets erwies er sich als gütig und hilfsbereit; auch den Gegnern gegenüber blieb er gerecht und objektiv, und ebenso groß wie seine persönliche Liebenswürdigkeit und die Neidlosigkeit, mit der er auf alle Mitforscher blickte, war seine Bescheidenheit. »Ich werde zu der Bemerkung veranlaßt,« sagt er in einer kleinen, 1876 abgefaßten Selbstbiographie, die das von seinem Sohne Francis zusammengestellte Buch »Leben und Briefe von Charles Darwin« wiedergibt, »daß ich beinahe immer von meinen Kritikern anständig behandelt worden bin, wobei ich diejenigen ohne wissenschaftliche Kenntnisse als nicht der Erwähnung wert beiseite lasse. Meine Ansichten sind häufig grob entstellt, mit Bitterkeit angegriffen und lächerlich gemacht worden; dies ist aber, wie ich glaube, meist in gutem Glauben geschehen. Im ganzen zweifle ich nicht daran, daß meine Arbeiten wiederholt bedeutend über Gebühr gepriesen worden sind. Ich freue mich darüber, daß ich Streitigkeiten vermieden habe, und dies verdanke ich Lyell, der mir vor vielen Jahren, mit Rücksicht auf meine geologischen Arbeiten, dringend riet, mich niemals in einen Streit verwickeln zu lassen, da ein solcher selten etwas gutes bewirke und einen elenden Verlust an Zeit und Stimmung verursache. So oft immer ich fand, daß ich mich versehen habe, oder daß meine Arbeit unvollkommen sei, und wenn ich verächtlich kritisiert und selbst wenn ich über Gebühr gelobt wurde, so daß ich mich gedemütigt fühlte, ist es meine größte Beruhigung gewesen, mir selbst hundertmal zu sagen: ›Ich habe mich so angestrengt und so gut gearbeitet, wie ich nur konnte, und kein Mensch kann mehr als dies tun.‹ Ich erinnere mich, als ich in der Good Succes Bay im Feuerlande war, gedacht zu haben (und ich glaube, ich habe in demselben Sinne nach Hause geschrieben), daß ich mein Leben nicht besser anwenden könne, als ein wenig zur Förderung der Naturwissenschaften beizutragen. Dies habe ich nach besten Kräften getan, und meine Kritiker mögen sagen was sie wollen, diese Überzeugung können sie mir nicht zerstören.«

Der 12. Februar 1809, an dem Charles Darwin im Hause des geschätzten Arztes Robert Waring Darwin zu Shrewsbury als dessen zweiter Sohn zur Welt kam, war ein Sonntag, und die Anhänger des alten Volksglaubens, daß Sonntagskinder besonders hellsichtig seien, können sich auf dieses Beispiel berufen. Seine Mutter verlor der Knabe bereits, als er wenig über 8 Jahre alt war. Früh erwachte seine Neigung zu naturgeschichtlichen Dingen, zunächst aber nur in einer allgemeinen Sammelleidenschaft sich betätigend, die sich auch auf andere Gegenstände erstreckte. Die Lehre und das Beispiel seiner Schwestern weckten frühzeitig humane Regungen in ihm; er nahm niemals mehr als ein einziges Ei aus einem Vogelnest, und als der eifrige Angler hörte, daß man die als Köder dienenden Würmer mit Salz und Wasser töten könne, steckte er niemals wieder einen lebenden Wurm an die Angel, obwohl die Beute dadurch geringer wurde. Noch in hohem Alter vermochte rohe Behandlung von Tieren ihn bis zu leidenschaftlichem Zorne zu empören.

Sein gütiger Vater, der den Kindern in erster Linie ein treuer, älterer Freund und Berater sein wollte, legte offenbar mehr Wert darauf, sie zu tüchtigen Menschen heranzubilden, als sie von vornherein einem bestimmten Berufe zuzuführen. Charles' Erziehung war eine ziemlich ungebundene; erst gedachte er Arzt zu werden, wie der Vater, allein in Edinburg, wo er Medizin studieren sollte, dünkten ihm die naturwissenschaftlichen Vorlesungen über die Maßen trocken, und dazu kam, daß er – eine vom Vater auf ihn übergegangene Schwäche – kein Blut sehen konnte, so daß ihm das Studium der Anatomie und alle Operationen eine unüberwindliche Abneigung einflößten. Dann sollte der Jüngling Geistlicher werden; er vertauschte deshalb 1828 die Universität Edinburg mit dem Christ-College zu Cambridge, wo er nach bestandenem ersten Examen den Grad eines Bakkalaureus der Theologie, aber zugleich die Überzeugung erlangte, daß auch die Gottesgelahrtheit ihm keine volle Befriedigung bieten könne. Glücklicherweise jedoch fand er dort Lehrer, den Botaniker Henslow und den Geologen und Mineralogen Sedgwick, die es verstanden, die in ihm schlummernde Neigung für das Studium der Natur zu wecken und ihm die richtigen Wege zu weisen. Er sammelte eifriger denn je und war auch ein leidenschaftlicher Jäger, allein erst die durch Henslow an ihn gelangte Aufforderung, als Naturforscher an der Erdumseglung des »Beagle« teilzunehmen, wurde für seine Laufbahn und die Richtung seiner Studien entscheidend. Unter allen Büchern, die er bis dahin gelesen hatte, waren es Humboldts Reisen gewesen, die den tiefsten Eindruck auf ihn gemacht hatten; er nahm daher jenes Anerbieten freudig an. »Ich vermute jedoch,« sagt er selbst in einem 1880 an Prof. Preyer-Jena geschriebenen Briefe, »daß niemals jemand schlechter vorbereitet ausbrach, als ich es war, denn ich war nichts als ein bloßer Sammler. Ich verstand nichts von Anatomie und hatte niemals ein systematisches Werk über Zoologie gelesen. – Ich hatte niemals ein zusammengesetztes Mikroskop angerührt und mit der Geologie hatte ich erst vor sechs Monaten begonnen. Aber ich nahm eine reichliche Anzahl von Büchern mit und arbeitete am Bord des Schiffes soviel ich konnte und zeichnete alle Arten niederer Seetiere ab. Ich empfand damals fürchterlich den Mangel an Übung und Kenntnis. Mein Unterricht ( education) begann in der Tat erst am Bord des ›Beagle‹.«

siehe Bildunterschrift

Darwins Geburtshaus in Shrewsbury.

Es ist nun im höchsten Grade bewunderungswürdig, wie Darwin es verstanden hat, durch unausgesetztes theoretisches und praktisches Studium aus dieser berühmt gewordenen Reise die Lücken seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu ergänzen. Überall erforschte er auf seinen zahlreichen Expeditionen zu Lande die geologischen Verhältnisse, er sammelte Tiere aller Klassen, arbeitete unermüdlich mit dem Mikroskop und bemühte sich, in seinem Tagebuche alles gewissenhaft und lebendig zu beschreiben. Alle diese Studien waren jedoch, wie er in seiner Autobiographie Sie ist auch in dem Auszuge aus dem großen Werke von Prof. Francis Darwin (geb. 1848, gegenwärtig Präsident der British Association) enthalten, der unter dem Titel » Charles Darwin. Sein Leben, dargestellt in einem autobiographischen Kapitel und in einer ausgewählten Reihe seiner veröffentlichten Briefe«, erschienen ist. Deutsch von J. [= Julius] Victor Carus (Stuttgart, 1893).] meint, »von keiner Bedeutung, verglichen mit der Angewöhnung an energischen Fleiß und konzentrierte Aufmerksamkeit auf alles das, womit ich nur immer beschäftigt war; beides eignete ich mir an, alles, worüber ich nachdachte oder was ich las, brachte ich in direkte Beziehung zu dem, was ich gesehen hatte oder was ich höchst wahrscheinlich sehen würde; und diese geistige Gewohnheit wurde während der fünf Jahre der Reise fortgesetzt. Ich bin sicher, daß diese Dressur es war, die mich dazu befähigt hat, das in der Wissenschaft zu leisten, was ich etwa geleistet habe.« In seinem rastlos tätigen Geiste vereinten sich alle Erfahrungen und Beobachtungen, die er machte, zu einer neuen Anschauung über die Gesetze der Veränderung lebender Wesen, und als Darwin am 2. Oktober 1836 zu Falmouth den heimatlichen Boden wieder betrat, brachte er nicht nur große Sammlungen von Mineralien, Versteinerungen, Tieren und Pflanzen mit, sondern auch die Gedankenkeime seiner späteren Werke, deren Ausarbeitung sein ganzes übriges Leben gewidmet war. Eine günstige Schicksalsfügung für ihn war es, daß er vermöge des von den Voreltern ererbten Besitzes ohne Erwerbsamt, äußerlich ebenso unabhängig wie in seinem Denken arbeiten und schaffen konnte.

Schon bald nach seiner am 29. Januar 1839 geschlossenen ehelichen Verbindung mit seiner Base, Emma Wedgwood, zog er sich mit den Seinen aus der lärmenden Weltstadt London in ländliche Stille zurück, wozu besonders eine chronische Magenlähmung ihn nötigte, die ihn nie mehr verlassen und fortan zu einem schwerkranken Manne gemacht hat. Viele meinen, die Entbehrungen und Anstrengungen der großen Reise, besonders die nie endende Seekrankheit, hätten den Grund dazu gelegt. Begründeter erscheint W. Bölsches » Charles Darwin« von Wilhelm Bölsche (2. Aufl., Leipzig, R. Voigtländer, Pr. Mk. 2. – ). Vermutung, es habe sich an Darwin »etwas gerächt, das wie ein Verhängnis durch das Leben so vieler großer Denker und Genien der Menschheit zieht: gerade er, der ohne Beschwerde das wildeste Jägerleben in vier Erdteilen ausgehalten, brach wehrlos zusammen, als er jahrelang (wie es jetzt in London geschehen) im Dunst der Großstadt sich an den Arbeitstisch gekettet fand, tagaus, tagein über den Schreibtisch gebeugt, immer mit dem Gehirn in fieberhafter Spannung, aber ohne jede gesunde Entlastung für Lunge und Magen, die vorher jahrelang in freier Bewegung und frischer Luft zu arbeiten gewohnt gewesen waren. Wie viele haben wir in solchem Übergang, aus dessen Gefahren sie nicht achteten, verloren von unsern Geistesgrößen, und auch Darwin trat jetzt in die Reihe derer, die zwar zum Glück nicht ganz verloren gingen, aber doch fortan im Leben standen, wie ein vom Tode gezeichneter, dessen Schicksal an eines Haares Breite hing.« Nicht ohne Ergriffenheit liest man die Aussage seines Sohnes Francis über den körperlichen Zustand des Vaters, die uns zugleich sein glückliches und inniges Familienleben kennen lehrt. »Er trug seine Krankheit mit einer solchen, sich nie beklagenden Geduld, daß selbst seine Kinder – glaube ich – kaum die Größe seines habituellen Leidens sich vergegenwärtigen können. Was sie betrifft, so wird diese Schwierigkeit noch durch die Tatsache erhöht, daß sie ihn von den Tagen ihrer frühesten Erinnerungen beständig in krankem Zustande gesehen haben, – und ihn trotzdem voller Freude darüber, was ihnen Freude machte, gesehen haben. Ihre Wahrnehmung dessen, was er zu erdulden hatte, mußte daher in den späteren Jahren von dem Eindrücke gelöst werden, welchen er während ihrer Kindheit unter Bedingungen nicht erkannter Schwierigkeit durch seine beständige heitere Freundlichkeit auf sie hervorgebracht hatte. In der Tat kennt niemand außer meiner Mutter den vollen Umfang des Leidens, das er ertrug, oder den vollen Umfang seiner wunderbaren Geduld. In allen den letzteren Jahren seines Lebens hat die Mutter ihn auch nicht für eine Nacht verlassen, und ihre Tage waren so eingeteilt, daß er alle seine Ruhestunden mit ihr teilen konnte. Sie schützte ihn vor jeder vermeidbaren Belästigung und unterließ nichts, was ihm Unruhe ersparen, oder ihn vor Übermüdung bewahren, oder was das viele mit seiner Kränklichkeit verbundene Unbehagen erleichtern konnte. Ich nehme Anstand, von etwas so Heiligem, wie der lebenslangen Hingebung zu sprechen, welche diese beständige und zarte Sorgfalt eingab. Aber ich wiederhole es, es ist ein hervortretender Zug in seinem Leben, daß er für nahezu vierzig Jahre nicht einen Tag gekannt hat, an dem er gesund wie ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre, und daß sein Leben dadurch ein langer Kampf gegen das Abspannende und Drückende des Krankseins war. Und dies kann nicht erwähnt werden, ohne der einzigen Bedingung zu gedenken, welche ihn befähigte, bis zum Ende den Druck zu ertragen und den Kampf auszukämpfen.«

Das kleine einsame Örtchen Down mit dem von Darwin angekauften Landhause, das er seitdem bis auf gelegentliche Erholungsreisen nicht mehr verlassen hat, liegt, eine Eisenbahnstunde von London entfernt, bei Beckenham in Kent. Darwins Haus, das gegenwärtig nicht mehr im Besitze der Familie ist, befindet sich außerhalb des Dorfes, dicht an der Straße, von der es eine hohe Steinmauer trennt, die von stattlichen Kiefern, Eichen, Buchen und Ulmen überragt wird, während über ihren oberen Rand dichter Efeu herabfällt. Mit Schlinggewächsen ist auch die Front des Hauses bedeckt, das mit seiner säulengetragenen Vorhalle einen vornehmen Eindruck macht. Es war ursprünglich ein ziemlich öder Kasten, der erst durch spätere Anbauten, namentlich den rückwärtigen Erkeranbau, den wiederum ein Gewirr von Kletterpflanzen umhüllt, seinen jetzigen Charakter erhielt.

»Dies ist mein Museum und Laboratorium,« sagte der Hausherr den naturforschenden Freunden, die häufig bei ihm vorsprachen, wenn er ihnen den ausgedehnten, ebenfalls durch ihn verschönerten Garten, seine Sammlungen, sein Taubenhaus, sowie die Hühnerhöfe und Kaninchenställe zeigte. Hier züchtete und pflanzte, grübelte und beobachtete er unermüdlich. Als wenige Jahre vor seinem Tode ihn ein Londoner Verleger persönlich um eine Selbstbiographie ersuchte, war er nicht wenig erstaunt, als Darwin ihm sagte: »Sie können sie sogleich mitnehmen.« Dabei übergab er ihm ein Papier, das er soeben vor den Augen des Buchhändlers beschrieben hatte. Dieser erschöpfte sich in Danksagungen und verabschiedete sich. Als er draußen voll Spannung das Blatt öffnete, las er folgendes: »Ich heiße Charles Darwin, bin geboren 1809, studierte, machte eine Reise um die Welt und studiere weiter.« Er stand beizeiten auf, machte vor dem ersten Frühstück einen kurzen Spaziergang und ging dann an die Arbeit, für die er die Stunden von 8 – 9½ Uhr als die beste Zeit ansah. Alsdann kam Darwin in das Wohnzimmer, um nach der eingelaufenen Post zu sehen; er ließ sich, aus dem Sofa liegend, die Familienbriefe und einen Abschnitt aus einem Roman vorlesen. Von 10½ Uhr setzte er die Arbeit bis 12 oder 12¼ Uhr fort, sah dann aber das eigentliche Tagewerk als beendet an und machte bei jeder Witterung einen zweiten Spaziergang. »Polly, sein weißer Pinscher, ging bei schönem Wetter mit ihm,« erzählt Prof. F. Darwin; »bei Regen schlug aber der Hund die Aufforderung ab oder war zögernd in der Veranda zu sehen, mit einem gemischten Ausdruck von Abscheu und Scham über seinen eigenen Mangel an Mut; indessen siegte doch meist sein Gewissen, und sobald mein Vater entschieden fortgegangen war, konnte er es nicht aushalten zurückzubleiben.« –

siehe Bildunterschrift

Darwins Landsitz in Down.

Das zweite Frühstück Darwins fand nach dem mittäglichen Spaziergange statt. Hernach las er, im Wohnzimmer auf dem Sofa liegend, seine Zeitung. Dann kam seine Zeit, Briefe zu schreiben, die er – ebenso wie die Manuskripte seiner Werke – in einem großen roßhaarüberzogenen Stuhle am Kamin sitzend, niederschrieb, wobei das Papier auf einem Brette ruhte, das aus der Armlehne des Stuhles lag. Waren viele oder lange Briefe abzufassen, dann diktierte er sie nach einem flüchtigen Entwurf. Gegen 3 Uhr nachmittags ging der Philosoph von Down in sein Schlafzimmer, um etwas zu ruhen; er lag dabei auf dem Sofa, rauchte eine Zigarette und hörte der Vorlesung eines Romans oder sonstigen, nicht wissenschaftlichen Werkes zu. Wenige Minuten nach 4 verließ er das Haus zu einem neuen Spaziergange und arbeitete nochmals von ½5 bis ½6 Uhr; nach dem Essen spielte er mit feiner Frau zwei Partien Puff; gegen ½11 ging er zu Bett, doch waren die Nächte infolge seines Leidens meist schlecht.

Für seine Kinder hegte der große Forscher die lebhafteste Zärtlichkeit, und sein Werk über den »Ausdruck der Gemütsbewegungen« zeigt, wie eingehend er sie beobachtet hat. Die Kleinen freuten sich ganz besonders über die Spiele, die er mit ihnen trieb, und die Geschichten, die er ihnen erzählte, was freilich nicht häufig vorkam. Er liebte es sehr, mit ihrer Mutter oder einigen von ihnen langsam im Garten umherzuwandern oder, auf einer Bank auf dem freien Platze oder im Grase sitzend, an einer Gesellschaft teilzunehmen. Er hat den Kindern kaum jemals ein böses Wort gesagt; ihnen kam es aber auch niemals in den Sinn, nicht gehorchen zu wollen. Als der kleine Leonard eines Tages auf dem Sofa herumtanzte, was ihm wegen der Springfedern verboten war, sagte der Vater: »O Lenny, Lenny, das geht gegen alle Regeln.« Darauf erwiderte der kleine Bursche keck: »Dann, glaube ich, ist's besser, wenn du aus dem Zimmer gehst.« Bezeichnend dafür, auf welchem Fuße er mit den Kindern stand und wie hoch diese ihn als Spielkameraden schätzten, ist, daß einer seiner Söhne im Alter von ungefähr vier Jahren ihn eines Tages mit einem Sixpence zu bestechen suchte, während der Arbeitsstunden herauszukommen und mit ihm zu spielen. Auch mit seinen Dienstleuten war er gut und sprach immer in höflicher Weise mit ihnen. Drollig ist ein Erlebnis, das sein vertrauter Freund, Lord Avebury (diesen Titel führt der unter dem Namen »Sir John Lubbock« bekannte Naturforscher seit 1899) in der Festsitzung der Linnean Society zum besten gab. Als er sich eines Tages bei einem Besuche in Down mit Darwins Gärtner unterhielt, äußerte dieser über den großen Gelehrten: »Ein lieber, guter Herr, – schade, daß er nichts zu tun hat! Er verbringt seine Zeit damit, im Garten spazieren zu gehen, und kann eine Viertelstunde lang eine einzige Blume betrachten!«

Darwins äußere Erscheinung in späteren Jahren schildert Prof. Ernst Haeckel in einem Berichte über seinen ersten Besuch in Down, der im Jahre 1866 erfolgte: »Eine hohe, ehrwürdige Gestalt, mit den breiten Schultern des Atlas, der eine Welt von Gedanken trägt; eine Jupiterstirne, wie bei Goethe, hoch und breit gewölbt, vom Pfluge der Gedankenarbeit tief durchfurcht; die freundlichen, sanften Augen von einem mächtigen Dache vorspringender Brauen beschattet; der weiche Mund von einem gewaltigen, silberweißen Vollbart umrahmt. Der einnehmende herzliche Ausdruck des ganzen Gesichts, die leise und sanfte Stimme, die langsame und bedächtige Aussprache, der natürliche und naive Ideengang seiner Unterhaltung nahmen in der ersten Stunde unseres Zwiegesprächs mein ganzes Herz gefangen, wie sein großes Hauptwerk früher gleich beim ersten Lesen meinen ganzen Verstand im Sturm erobert hatte. Ich glaubte einen hehren Weltweisen des hellenischen Altertums, einen Sokrates oder Aristoteles lebendig vor mir zu sehen.« Das Gespräch des Forschers mit dem damals zweiunddreißigjährigen Fachgenossen, der sich schon 1863 rückhaltlos der Darwinschen Lehre angeschlossen hatte, drehte sich natürlich in erster Linie um die Fortschritte und Aussichten der Entwicklungslehre, die von der Mehrzahl der angesehensten Autoritäten anfangs abgelehnt wurde. »Mit rührender Bescheidenheit äußerte Darwin, daß seine ganze Arbeit nur ein schwacher Versuch sei, die Entstehung der Tier- und Pflanzenarten auf natürliche Weise zu erklären, und daß er einen namhaften Erfolg dieses Versuches nicht erleben werde; denn der Berg von entgegenstehenden Vorurteilen sei zu hoch. Ich selbst, meinte er, habe sein geringes Verdienst allzusehr überschätzt, und das hohe Lob, welches ich in der »Generellen Morphologie« In diesem bahnbrechenden Werke, das 1866 erschien, gab der deutsche Gelehrte den Darwinschen Theorien erst jenen folgerichtigen Aus- und Durchbau, der sie zu einem wissenschaftlichen System erhob. ihm gespendet, sei gar sehr übertrieben.

Weiterhin lenkte sich unser Gespräch auf die zahlreichen und heftigen Angriffe gegen sein Werk, die damals noch ganz die Oberhand hatten. Bei vielen dieser armseligen Machwerke wußte man in der Tat nicht, ob man mehr den Mangel an Verstand und Urteil bejammern sollte, der sich darin entblößte, oder mehr Entrüstung über den Hochmut und die Anmaßung empfinden, mit der miserable Skribenten Darwins Ideen verhöhnten und seinen Charakter besudelten. Ich hatte dem gerechten Zorne über diese verächtliche Sippschaft schon damals, wie auch wiederholt später, entsprechenden Ausdruck verliehen. Darwin lächelte darüber und suchte mich zu beruhigen mit den Worten: ›Mein lieber junger Freund, glauben Sie mir, mit solchen armen Leuten muß man Mitleid und Nachsicht haben; den Sturm der Wahrheit können sie nur vorübergehend aufhalten, aber niemals dauernd hemmen.‹«

Noch viel heftigere Angriffe wurden aber gegen Darwin gerichtet, als er in seinem 1871 erschienenen Werke »Die Abstammung des Menschen« seine Theorie von der Veränderung der Arten auch auf den »Herrn der Schöpfung« ausdehnte, nachdem er am Schlusse seines ersten Werkes über die »Entstehung der Arten« bei der Aufzählung der durch die neue Anschauungsweise zu erhoffenden Fortschritte bereits geäußert hatte, »es werde Licht geworfen werden auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte«. Diese Worte hatte der erste deutsche Übersetzer, Prof. H. G. Bronn, unberechtigterweise einfach weggelassen, und als nun das neue Werk vorlag, suchte man Darwin voll Entrüstung als einen Feind des Glaubens und der Religion hinzustellen, weil er den Menschen auf einen tierischen Ursprung zurückführte und die alte Schöpfungslehre und den Wunderglauben zurückwies. Meist wurde ihm als schlimmste Ketzerei und größte Herabwürdigung des Menschen vorgeworfen, daß er behauptet habe, dieser stamme vom Affen ab, obwohl er nur für die gegenwärtig von den meisten Zoologen geteilte Meinung eintrat, daß Affe und Mensch aus einer gemeinsamen Wurzel entstanden seien.

»Darwin war«, wie Dr. Ernst Krause »Darwinistische Schriften Nr. 16: Charles Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland« von Dr. Ernst Krause (Leipzig 1885). Krause, († 1903, bekannt unter dem Namen Carus Sterne), der Verfasser von »Werden und Vergehen«, hat auch zuerst auf die Bedeutung von Erasmus Darwin in der Geschichte der Deszendenztheorie hingewiesen. ausführt, »kein vorwiegend philosophisch angelegter Denker von jener Art, die nur durch ein vollständig durchgeführtes Ideengebäude, durch ein abgeschlossenes System befriedigt werden, er neigte vielmehr der empirischen Schule Herbert Spencers zu, jener Philosophie des gesunden Menschenverstandes, die sich damit begnügt, nur die nächsten, wahrscheinlichsten und sozusagen unvermeidlichen Schlüsse aus den Tatsachen zu ziehen, ohne jemals weit über den Kapitalbestand der Erfahrung hinauszugehen und Anleihen im Reiche der Phantasie zu machen. Wir brauchen hier nicht zu wiederholen, wie Gewaltiges er gerade durch diese Beschränkung auf das Nächstliegende geleistet hat, denn indem er die kleinen Veränderungen der Lebewesen konstatierte und die in ihnen gegebene Möglichkeit einer immer vollständigeren Anpassung an bestimmte Lebensbedingungen nachwies, ging er in der Tat nur äußerst wenig über das experimentell Beweisbare hinaus, und er würde es niemals gewagt haben, daraus weitergehende Schlüsse auf die Entwicklung der Lebewesen aus niedern Formen zu ziehen, wenn ihm nicht die allgemeine Übereinstimmung der Tatsachen der Paläontologie, vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte als genügendes empirisches, wenn auch nicht lückenloses Beweismaterial erschienen wäre. Aber auch darin verfuhr er nicht konstruktiv, sondern beugte sich sozusagen der Wucht der Tatsachen.«

»Dabei blieb er sich indessen jeden Augenblick bewußt, daß wir die ersten inneren Ursachen des Lebensprozesses und seines Ursprungs, wie seine Veränderungsfähigkeit nicht kennen, und daß es zu den Selbsttäuschungen gehört, wenn wir uns darüber mit philosophischen Konstruktionen hinweghelfen. Er billigte solche Versuche als Hypothesen, ohne die man in der Wissenschaft nicht vorwärtskommen kann, aber er gestand niemals zu, daß bezüglich der letzten Ursachen eine befriedigende philosophische Erklärung gegeben sei. Darum blieb er sein Lebenlang dem Glauben an eine im Dunklen verborgene Urkraft oder Gottheit getreu, von der er mit Herbert Spencer vermutete, daß sie dem menschlichen Geiste vielleicht für immer unbegreiflich und unerforschbar bleiben möchte, deren Dasein ihm aber nicht bloß ein Postulat des Gemütes, sondern auch des Verstandes war, sofern ihm namentlich der Ursprung des Lebens ohne eine solche Voraussetzung ein unlösbares Rätsel zu sein schien.«

Über seine persönlichen religiösen Überzeugungen hat sich Darwin wiederholt, auch zu ganz fremden Menschen, offen ausgesprochen. Als ein deutscher Student 1879 bei ihm anfragte, wie er sich zu den Hauptlehren der Kirche stelle, ließ er ihm durch seinen Sohn antworten, er wäre der Ansicht, daß die Entwicklungstheorie mit dem Glauben an einen Gott vereinbar sei; man müsse jedoch daran denken, »daß verschiedene Personen verschiedene Definitionen von dem haben, was sie unter Gott verstehen.« Auf eine abermalige Anfrage bekam der Student dann folgenden direkten Bescheid: »Ich bin sehr beschäftigt, ein alter Mann und von schlechter Gesundheit, ich kann nicht Zeit gewinnen, Ihre Fragen vollständig zu beantworten, – sie können überhaupt nicht beantwortet werden. Wissenschaft hat nichts mit Christus zu tun, ausgenommen insofern, als die Gewöhnung an wissenschaftliche Forschung einen Mann vorsichtig macht, Beweise anzuerkennen. Was mich selbst betrifft, so glaube ich nicht, daß jemals irgendeine Offenbarung stattgefunden hat. In betreff eines zukünftigen Lebens muß jedermann für sich selbst die Entscheidung zwischen widersprechenden unbestimmten Wahrscheinlichkeiten treffen.«

In einem Briefe an Mr. J. [= John] Fordyce schreibt er zur Weltanschauungsfrage: »Was meine eigenen Ansichten sein mögen, das ist eine Frage, welche für niemand von irgendeiner Bedeutung ist als für mich selbst. Da Sie aber fragen, so darf ich wohl sagen, daß mein Urteil häufig schwankt ... In den äußersten Zuständen des Schwankens bin ich niemals ein Atheist in dem Sinne gewesen, daß ich die Existenz eines Gottes geleugnet hätte. Ich glaube, im allgemeinen (und desto mehr und mehr, je älter ich werde), aber nicht immer, daß Agnostiker Griech.: Nichtwissender. Der besonders von Huxley und Herbert Spencer ausgebildete Agnostizismus befaßt sich nur mit dem für unsern Verstand sicher Erkennbaren, d. h. dem Endlichen, in der Erfahrung Gegebenen, während er das Nichterkennbare, wie den letzten Grund der Dinge, Dasein und Wesen Gottes usw., von der philosophischen Betrachtung grundsätzlich ausschließt. die korrekteste Bezeichnung für meinen Seelenzustand sein würde.« Übereinstimmend damit heißt es am Schlusse eines schon 1873 an einen holländischen Studenten gerichteten Schreibens: »Ich will nur sagen, daß die Unmöglichkeit, sich vorzustellen, daß dieses großartige und wunderbare Weltall mit uns bewußten Wesen durch bloßen Zufall entstanden sei, mir der Hauptbeweisgrund für die Annahme der Existenz Gottes zu sein scheint; ob dies aber ein Beweisgrund von wirklichem Werte sei, bin ich niemals imstande gewesen zu entscheiden. Ich weiß sehr wohl, daß, wenn wir eine erste Ursache annehmen, unser Geist doch noch darüber grübelt, zu erfahren, woher sie kam und wie sie entstand. Dabei kann ich aber auch die Schwierigkeit nicht übersehen, welche das ungeheure Maß von Leiden in der ganzen Welt darbietet. Ich werde auch dazu gedrängt, mich bis zu einem gewissen Grade vor dem Urteil der vielen vortrefflichen Männer zu beugen, welche völlig an Gott geglaubt haben; aber ich sehe gleich hier wieder, was dies für ein schwacher Beweisgrund ist. Der sicherste Schluß scheint mir der zu sein, daß der ganze Gegenstand jenseits des Auffassungsvermögens des Menschen liegt; der Mensch aber kann seine Pflicht tun.« Dies stimmt überein mit Goethes schönen Worten: »Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten.« In Darwins Autobiographie endlich lesen wir das im Jahre 1879 dem Manuskript noch hinzugefügte Bekenntnis: »Was mich selbst betrifft, so glaube ich, daß. ich recht gehandelt habe, stetig der Wissenschaft zu folgen und ihr mein Leben zu widmen. Ich fühle keine Gewissensbisse, irgendeine große Sünde begangen zu haben, ich habe aber sehr oft bedauert, daß ich meinen Mitgeschöpfen nicht mehr direkt Gutes getan habe.«

Mit der ruhigen Gelassenheit eines echten Weltweisen ist Charles Darwin auch aus dem Leben geschieden. Neben seiner alten Krankheit hatte sich zuletzt ein schweres Herzleiden entwickelt, das gegen Ende Februar und Anfang März 1882 beunruhigende Symptome annahm. Am 15. April bekam er bei der Abendmahlzeit einen Schwindelanfall und fiel bei dem Versuche, das Sofa zu erreichen, in Ohnmacht. Noch am 17. nahm er eine pflanzenphysiologische Untersuchung vor, aber während der Nacht des 18. hatte er kurz vor Mitternacht einen heftigen Anfall und wurde ohnmächtig, worauf er durch die Bemühungen seines Arztes nur mit Mühe wieder ins Bewußtsein zurückgerufen werden konnte. Der große Forscher schien die Annäherung des Todes wohl zu erkennen, allein, er sagte: »Ich fürchte mich nicht im mindesten zu sterben.« Dann ist er am Mittwoch dem. 19. April, gegen 4 Uhr nachmittags, im 74. Jahre seines Lebens sanft entschlummert. In seinem Vaterlande wurden Darwin Denkmäler errichtet in seiner Geburtsstadt Shrewsbury und im Naturhistorischen Museum in London: unvergänglicher aber ist das Denkmal, das er sich selber in der Geschichte der Naturforschung wie der allgemeinen geistigen Entwicklung der Menschheit gesetzt hat.

F. Regensberg.


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