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Wandern und Reisen.
Beiblatt zum Kosmos, Handweiser für Naturfreunde.
Von Wilhelm Bölsche.
Mit 2 Abbildungen
Es ist ein eigentümliches Ding um die großen Glanzlichter in einem menschlichen Schicksal. Wenn man sich heute die letzten dreißig Jahre in Darwins Leben fort dächte und mit ihnen den Mann der »Entstehung der Arten« und der »Abstammung des Menschen« in ihm: – wie vielen würde die ganze Leuchtkraft dieses Lebens mit einemmale erlöschen. Und doch ist gewiß, daß heute, zu seinem hundertsten Geburtstage, Darwin auch so von einer engeren, aber sehr echten und bedeutenden Gemeinde gefeiert werden würde. Man würde dort den Darwin suchen, der tatsächlich ein berühmter und wissenschaftlich hoch verehrter Mann war, als die »Entstehung der Arten« noch gar nicht erschienen war und den ungeheuren Lärm, den sie nach sich zog, noch längst nicht erregen konnte. Damals, um die Zeit der vierziger und fünfziger Jahre, dachte man bei dem Namen Darwin an den großen Reisenden dieses Namens. In der letzten Ausgabe der »Ansichten der Natur« von Alexander v. Humboldt (der im Erscheinungsjahre der »Entstehung der Arten« starb) finden sich mancherlei versteckte Anspielungen auf den Entwicklungsgedanken im Bereich der Tier- und Pflanzenarten, der seit Buffons und Goethes Tagen, also seit Humboldts Jugend, ja im Grunde stets gärte; aber der Name Darwin, der in diesem Buche oft und mit beifälligen Adjektiven vorkommt, tritt nie in Zusammenhang mit diesen Bemerkungen, – immer ist lediglich der Weltfahrer als allgemein bekannte Person gemeint.
Im ganzen war es damals, um die Mitte des Jahrhunderts, noch leichter, als Reisender berühmt zu werden, als heute. Die Sache war noch rarer und hatte mehr farbigen Nimbus, selbst innerhalb der strengsten wissenschaftlichen Entdeckungen mehr Poesie. Mit Cook und Forster hatte das begonnen: daß man in der ganzen gebildeten Welt, auch der rein literarischen, ästhetisch angehauchten, bedeutende Reiseberichte nicht als eine fachwissenschaftliche, sondern als eine allgemein interessierende, auch literarisch unbedingt zu beachtende Sache nahm. Humboldt selbst hatte dem den nachhaltigsten Drücker gegeben. Heute lähmt die Masse, das Alltägliche dicker Reisebände die wirklich meist unliterarische Form; sagen wir es geradezu: daß das Reisebeschreiben selbst auch im Verfall begriffen ist und meist schon in der Absicht (Ausnahmen gelten natürlich) nicht soviel Liebe verrät, daß für den, der nicht Fachwissenschaft sucht, die rein literarische Anteilnahme lohnte. Es hatten damals wenige auf dem Felde etwas zu sagen, aber wie sagten es die paar Erwählten! Man muß die Werke von Barth, von Junghuhn darauf lesen, Werke, in denen nicht bloß eine Reise, sondern jedesmal ein Menschenleben steckt.
In diese Elite nun gehörte auch noch die »Reise eines Naturforschers um die Welt« von Charles Darwin. Die Vollendung der mehrjährigen Reise selbst lag beim Erscheinen des Buches (im großen Reisebericht 1839, separat 1845, von Anfang an auch in deutscher Übersetzung) schon mehrere Jahre zurück; auch das war damals anders, als in unserer Schnellfeuerzeit, – der Heimgekehrte pflegte lange und umsichtig an seinem Berichte zu feilen, bis er ihn der Welt gab; Humboldt selber war das Muster des Extrems, indem er bis zum 90. Lebensjahre niemals ganz mit seinem Reisewerk fertig geworden ist. Fünf Jahre hatte die Reise Darwins gedauert. Die Weltumseglung (von England nach Brasilien und von da um die Erde bis zum gleichen Fleck Brasiliens zurück) war bei ihr nur Begleiterscheinung. Der offizielle Zweck der Expedition waren langwierige Vermessungen zur Verbesserung der englischen Schiffskarten in den südlichsten Küstengebieten Südamerikas. Mit Ausnahme von ein paar Landtouren bis in die Indianergebiete bot die eigentliche Reise keine besonderen Gefahren, abgesehen von der einen, die überhaupt in solchem mehrjährigen Leben unter mehr oder minder fremdartigen klimatischen Verhältnissen liegt. Schließlich ist diese letzte Gefahr aber für viele Menschen die stärkste. Von neueren Expeditionen ist kaum eine zweite so friedlich und ungestört verlaufen, wie die berühmte Tiefsee-Expedition des »Challenger«, und doch hat sie fast dem ganzen Stabe ihrer wissenschaftlichen Leiter gleichzeitig oder in den Folgen das Leben gekostet.) Auch Darwin war nach den fünf Jahren für den Rest (den kostbaren, weltbekannten Rest) seines Lebens körperlich ein siecher Mann, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sein schweres chronisches Magenleiden eine Folge der unausgesetzten Seekrankheit gewesen ist.
Als er die Reise antrat, war er 22 Jahre alt. Die Art, wie die Expedition überhaupt zustande kam, entbehrt nicht der Komik, und die Art, wie er persönlich hinein geriet, muß beinah als ein Unfug bezeichnet werden. Ein spleeniger englischer Kapitän hatte vom Feuerlande ein paar nackte Wilde gewaltsam nach England entführt, sie sollten dort zu bekleideten und sittlich wohlanständigen Kulturmenschen erzogen werden, dann zu ihren wilden Genossen heimgebracht werden und so einen Keim von Kultur dort säen, zum Nutzen Schiffbrüchiger an diesem bösen Gestade und auch sonst. Ein Grundzweck der erneuten Feuerlandfahrt, der sich erst nachträglich mit jenem kartographischen Staatsauftrag verknüpfte, diente dem Schlußakte dieses Experiments: die kultivierten Naturkinder wurden heimgebracht, zogen ihre Kleider wieder aus und wurden nackte Wilde, und die Sache blieb, wie sie war, – traurig, aber historisch. Vor der Abreise wünschte der Kapitän aber noch, daß die Expedition in so interessante, wenig erforschte Gegenden von einem Naturforscher begleitet werde, und das war sehr in der Ordnung. Minder wieder in der Ordnung aber war, daß dabei der Botaniker Henslow einen blutjungen Studenten vorschlug, der von der Medizin zur Theologie übergegangen war und seine theologischen Kollegien schwänzte, um Käfer zu sammeln. Wir sind ja im späteren 19. Jahrhundert auch daran gewöhnt worden, daß große Entdeckerfahrten ersten Ranges von Leuten vom Bildungsgrade Stanleys ausgeführt wurden, einem Bildungsgrade, der bei Pflanzenschilderungen die Blumen in rote, blaue und gelbe einteilt. Daneben muß man für die ältere Epoche aber stellen, wie Humboldt oder Barth sich auf ihre Reisen mit allen denkbaren Mitteln vorbereitet haben, im höchsten Sinne durchdrungen von der Verantwortung einer solchen Aufgabe. Es wird erzählt, daß der Kapitän das schlanke Studentchen zurückweisen wollte, weil ihm seine Nase nicht gefiel. Ich glaube, der gute Henslow konnte seine Empfehlung damals auch mit nicht vielmehr begründen als mit dem Gegenteil: daß er in die Nase des jungen Darwin Vertrauen setze. Äußerlich mit geringerer fachwissenschaftlicher Vorbildung konnte nicht leicht jemand an die schwerste Kraftprobe herangehen, als Darwin. Wenn er dann doch in den fünf Jahren eine Leistung vollbracht hat, die sehr ernstlich mit der Humboldtschen verglichen werden darf, im Glück ihrer großen Dauertreffer sie sogar bis zu gewissem Grade überstrahlte, so möchte man sagen, daß auch der Reisende als solcher geboren wird. Darwin war direkt ein Genius im Beobachten; man fühlt das, wenn man nur die ersten paar Seiten seines Reiseberichts gelesen hat. Das Buchwissen ist bei ihm eine Sache des autodidaktischen Fleißes gewesen, zum größern Teil sogar erst später geworden; das Sehen mit unmittelbarem Blick für das Charakteristische und das Kausale hat er von Anfang an mitgebracht. Eine gewisse erste Schulung hat das Sammeln gegeben; an einem der frühesten Reisetage in den Tropen, dem 23. Juni 1832, fing er noch 68 Arten Käfer und 37 Arten Spinnen auf einem einzigen Spaziergang; die ungeheure und einzigartige Sammlung von Naturalien, die er im Laufe der Jahre kistenweise heimgesandt hat und deren Spuren man noch heute überall im Londoner Museum für Naturkunde begegnet, gibt Zeugnis, daß dieser Sinn nie erlosch; aber im Verlaufe der Fahrt zeigte sich dann doch, daß er ein noch stärkerer Sammler von Ideen war.
Dem reinen Kartenbilde nach berührte die Reise drei Erdteile: Südamerika von Bahia in Brasilien bis zu jenem Feuerlande und westlich aufwärts wieder bis Lima in Peru, mit zahlreichen Kreuz- und Querzügen durch den Kontinent und immer erneuten Kreuzfahrten an den Küsten. Dann Australien mit Neu-Seeland und Polynesien. Endlich über Mauritius: das afrikanische Kapland und über St. Helena nochmals in Bahia: Südamerika. Als eigentlicher Entdeckungsreisender mit neuen und überraschenden Sachresultaten in verschwenderischer Zahl, die die ganze vorhandene Kenntnis umarbeiteten und auf eine neue Stufe brachten, kann Darwin dabei für das südlichste Südamerika, die Galapagosinseln und die Korallenarchipele des Stillen und Indischen Ozeans gelten. Zu den erhöhten Schwierigkeiten gerade dieses Teils der Reise gehörte, daß er vielfach durch nicht englisches Gebiet führte. Darwin hatte individuelles Geschick, sich mit Menschen zu vertragen, eine Gabe, die er später als der wütend befehdete Vertreter der Entwicklungslehre durch die mustergültige Anständigkeit seiner Polemik bewährt hat.
Die streng fachwissenschaftliche Ausbeute aus diesem Hauptstück der Reise füllt allein zur Zoologie und Geologie acht Bände, unabhängig von jenem Reisebericht. Die Fülle der Dinge, mit denen der Reisende sich überhaupt beschäftigt, die er entdeckt oder klargestellt hat, ist so enorm, daß es (um ein Wort Peschels dazu zu zitieren) »fast gewagt erscheint, besonders Wertvolles zu bezeichnen«. Bloß um einen Begriff von der Vielseitigkeit zu geben, greife ich ein paar Punkte heraus. Darwin hat in seinen Reisepublikationen unter anderm behandelt: die Zusammensetzung des atmosphärischen Staubes; den physiognomischen Eindruck des tropischen Urwaldes; die Färbung des Meerwassers; das Problem der Sklaverei (die er mit größter Energie bekämpfte, – eine Anteilnahme, die ihm seine Grabstelle in der Westminsterabtei neben dem Sklavenbefreier Wilberforce eingebracht hat, zugleich etwas Notausweg, wo man den Begründer der Abstammungslehre in der frommen Abtei einrubrizieren sollte!); das Leuchten der Insekten und des Meeres; die Blitzröhren; die Reste prähistorischer Kultur in Südamerika; die Symbiose von Eulen und dem Nagetier Viscatscha; die Mopsrasse der Rinder bei Montevideo; die ehemalige Existenz einheimischer Pferde in Amerika, die bei der Entdeckung Amerikas durch die Spanier wieder vollkommen ausgestorben zu sein schienen (auch diese Tatsache, über die in der Folge eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist, hat Darwin zuerst nachgewiesen); die Luftschiffahrten der Spinnen auf den Fäden des Altweibersommers; die Lebensweise des Guanako und des Kondors; die geheimnisvollen »Steinströme« aus Quarzstücken der Falkland-Inseln; die Lebensart und ethnologische Stellung der Feuerländer; die Gletscher des Feuerlandes (Beginn der südpolaren Eiswelt) und die weitere nördliche Verbreitung erratischer Blöcke (eine Tatsache von außerordentlicher Bedeutung damals für die Begründung der Theorie von der Eiszeit); die Naturprodukte der antarktischen Inseln; den Kolibri im Andengebiet; die Heimat der wilden Kartoffel; die Bildung des Torfs; den psychischen Eindruck und die Ursache des Erdbebens; das Seebeben; die Bergströme der Kordilleren und ihre geologische Rolle; den roten Schnee; die Bergkrankheit (diese Stoffe bei Gelegenheit eines Übergangs über die Kordilleren); die Riesenschildkröten und die merkwürdigen, zum Teil gleich den urweltlichen Sauriern ins Meer hinausschwimmenden und Seetang fressenden Eidechsen der Galapagosinseln (Abb. 1); die Zahmheit der Vögel auf unbewohnten Inseln; das Volksleben auf Tahiti; die Maoris auf Neu-Seeland; die Eukalyptuswälder Australiens; die Lebensweise des Schnabeltiers; die Besiedelung der Koralleninseln.
Alle diese Einzelergebnisse treten aber zurück gegen vier größte Errungenschaften des Reisenden Darwin. Er löste das größte und populärste naturgeschichtliche Problem, das die Entdeckung der Südhalbkugel der Erde bis dahin dargeboten hatte: die Entstehung der ringförmigen Koralleninseln (Atolle) im Stillen und Indischen Ozean. Korallentiere haben mit diesen Atollen zahllose Inseln mitten im Meere durch Anhäufung ihrer Kalkgehäuse gebildet, Inseln, die aber konstant die Gestalt eines offenen Turmes haben, den außen die freie Welle peitscht und innen ebenfalls Wasser fast bis zum Rande erfüllt, so daß dieser Rand nur eben wie eine Brunnenbrüstung aus dem Spiegel ragt. Die Gebilde sehen aus wie tote Krater mitten im Meer. Die alte Theorie bis auf Darwin nahm sie auch als erloschene unterseeische Vulkankrater, auf deren Ring sich die Korallen erst angesiedelt und den Turm ausgebaut hätten. Darwin zeigte, daß es sich hier um einen einheitlichen historischen Vorgang handle: um den wunderbaren Wettkampf von versinkendem Terrain und Schritt haltendem Baufleiß der Korallentiere in ihrem Gebiet. Ein großes Schloß mit Turm und Ringmauer soll versinken. Jedes Jahr soll das Ganze um einer Quader Höhe sinken, Turm wie Umfassungsmauer. Aber auf der Mauer setzen fleißige Hände alljährlich eine Quader gerade mehr wieder auf. Nach Jahrhunderten ist das Schloß selbst, dem niemand nachgeholfen, im Boden verschwunden, Haus wie Turm. Nur die Ringmauer steht aufrecht, als sei nichts geschehen, denn bei ihr hat Nachbauen und Sinken sich Schritt gehalten. So lag an der Stelle des Atolls einst eine echte Insel im Meer. Rings um ihren Strand bauten in gewisser Tiefe die Korallentiere. Da begann das Ganze zu sinken. Die Insel sank, sank, versank mit all ihren Bergen. Aber jener Uferrand, wo die bauenden Korallen im gleichen Tempo nachbauten, blieb stehen. Bis eines Tages da, wo die Insel selbst versunken war, ein Loch war, um das wie ein Brunnenrand das allein gerettete alte Ufer ragte. Das ist in nuce die Darwinsche Korallentheorie. Bezweifelt, hat sie sich gerade in neuerer Zeit wieder immer sieghafter erwiesen. Damals, lange vor der Abstammungstheorie, war sie die spezifische »Darwinsche Theorie«, die als solche in alle Lehrbücher kam und Darwins Namen mit einem Schlage berühmt machte.
Sie hatte eine zoologische Seite in der zähen Arbeit der Korallentiere, eine geologische in der Voraussetzung langsamer Senkungen des ganzen Atollgebiets. Ganz geologisch war nun die zweite große Tat: ein großartiges Gemälde der langsamen, periodischen Wandlungen der Erdoberfläche im Südteile von Südamerika während einer relativ jungen, aber offenbar für sich allein noch ungeheuer langen Epoche der Erdgeschichte. Darwin hatte sich auf der Reise selbst zu Lyell, dem neuen Ketzer von damals in der Geologie, der kühn die wilde Humboldt-Cuviersche Katastrophenlehre zugunsten eines viel langsameren, aber viel glatteren, viel organischeren Entwicklungsganges der Dinge in der Erdgeschichte verwarf, bekehrt. Als er selbst dann, heimgekehrt, seine Studien zur Geologie Südamerikas veröffentlichte, warfen gerade diese Studien und Tatsachen das Schwergewicht dort in die Wage. Wesentlich durch ihn hat Lyell damals gesiegt. So bezeichnet diese zweite Tat eine Wende in der ganzen Geologie, die größte, die das 19. Jahrhundert erlebt hat. An diese geologische Tat aber knüpfte sich nun wieder eine zoologische. Aus diesen Schichten Südamerikas, die zum erstenmal sich durch ihn in ein großes geologisches Werdebild einordneten, grub er eine Fülle urweltlicher Tierknochen aus. Durch einen Zufall kannte man längst von dort (Goethe hatte es schon beschrieben) das kolossale Skelett des Riesenfaultiers. Dazu traten jetzt Riesengürteltiere (Glyptodon, Abb. 2), Toxodonten, Macrauchenien, der Mastodon-Elefant und das ursprüngliche Wildpferd. Auch diese Tierwelt, phantastischer als irgendeine, erhielt zum erstenmal ihren geologischen Hintergrund. Darwin wies auf den wunderbaren Zusammenhang hin, daß heute noch in diesem ehemaligen Reich der Riesengürteltiere Gürteltiere fortlebten, wenn auch nur kleine. Er erörterte die Möglichkeiten, wie die Riesenformen von ehemals ohne wüste Katastrophe, die geologisch hier unmöglich war, rein durch gewisse langsame Wandlungen der Existenzbedingungen ausgerottet werden konnten. Hier erhebt sich der Blick des Reisenden aber wieder zu ganz neuen Problemen. Biologische Gesetze von heute werden – ein Seitenstück zu der Lyellschen neuen Betrachtungsweise in den anorganischen Prozessen der Geologie – angewendet zur Lösung von Fragen vor diesen Tiergestalten und Tiererlebnissen der geologischen Vergangenheit. Gerade hier aber konnte nicht unbedeutsam bleiben, daß die vierte Tat Darwins sich an eine der interessantesten biologisch-geographischen Entdeckungen in der Gegenwart anschließen durfte: das zoologische Wunder der Galapagosinseln. Diese Inselgruppe, eine Strecke weit von der amerikanischen Westküste einsam in den Ozean verschneit und jungen, vulkanischen Ursprungs, besitzt eine Tierwelt, die als ein Ableger der südamerikanischen erscheint. Aber im Detail sind alle Arten etwas anders als drüben in Amerika. Und mehr: die einzelnen Inseln, durch lokale Umstände scharf noch wieder unter sich gesondert, zeigen je für sich besondere Nuancen dieser Abweichungen. Das alles auf geschichtlich jungem Boden, während das Festland drüben alt ist! Bezeichnen jene Knochenfunde rein sachlich einen der schönsten Entdeckermomente in der damals noch sehr jungen Wissenschaft der Paläontologie, so gehört diese Galapagosstudie zu den Grundsteinen einer Wissenschaft, die damals als solche noch gar nicht da war und erst von jüngeren Zeitgenossen und Schülern Darwins ins Leben gerufen werden sollte: der Tiergeographie.
Für Darwin selbst aber haben jene vier Taten schließlich eben doch noch etwas anderes gezeitigt, Vor ihnen hat sich der Reisende organisch zum Theoretiker der Entwicklungslehre auswachsen müssen. In dem Reisebericht steht noch nichts über Entwicklungslehre. Es sei denn, daß über Lamarck, den wir heute Darwins Vorgänger nennen, einmal eine abfällige Bemerkung kommt. Viele Jahre später aber hat Darwin doch zugegeben, im stillen sei bei ihm die Idee aufgeblitzt, habe aufblitzen müssen, als er in der Heimat der heutigen Gürteltiere jene tonnenhaft kolossalen Panzer ausgrub, die auch Gürteltieren angehört hatten, und er sich sagte, daß zwischen damals und heute keine wüste Vernichtungskatastrophe geologisch liege, sondern bloß ein ganz langsamer Wechsel des Milieus, der diese Art allmählich bedrängen und beseitigen, jene dagegen (die zufällig besser angepaßte) begünstigen und zur Alleinherrschaft führen mußte; als er auf den Galapagosinseln ein junges Land bevölkert sah mit Zuzüglern eines nahen alten Kontinents, an den feinen Verschiedenheiten aber merken mußte: hier hatte noch in relativ neuer Zeit eine wirkliche Umwandlung durch veränderte Milieueinflüsse stattgefunden, und sogar auf jeder der gesonderten Inseln eine besondere; als er endlich aus seiner eigenen Korallentheorie, in der das geologische Sinken dem feinen Korallenfleiß doch gerade Zeit ließ, sein Terrain dauernd zu retten, entnehmen mußte, wieviel Zeit auch der zuletzt größte geologische Milieuwechsel offenbar der Anpassung des Lebens, der Umwandlung der Arten durch Häufung winzigster Vorteile in der Erdgeschichte gelassen hatte. Umwandlungsmöglichkeit bei den Arten – außerordentlich viel geologische Zeit – und direkte Wahrscheinlichkeit von Entwicklungen in der realen Geschichte durch greifbare paläontologische Funde: ... im Milieu dieser Reiseerlebnisse hat der Reisende Darwin sich zu dem Darwin der Abstammungslehre entwickelt. Und noch eines hat er von der Reise mitgebracht. Um jener paar Feuerländer willen war sie einst zustande gekommen. Als viele Jahrzehnte später Darwin seine »Abstammung des Menschen«, sein verfehmtestes Buch, schrieb, trat dieser wilde, regengepeitschte Strand des unwirtlichen Feuerlandes mit seinen unsagbar rohen nackten Menschen vor seine Seele, und in dem Moment hat er den tiefsten und schlagendsten Satz geschrieben, den für mein Gefühl dieses große und gedankenreiche Buch enthält, den Satz: »Ich für mein Teil möchte ebenso gern von jenem heroischen kleinen Affen abstammen, der seinem gefürchteten Feinde trotzte, um das Leben seines Wärters zu retten, oder von jenem alten Pavian, der von den Hügeln herabsteigend im Triumph seinen jungen Kameraden aus einer Menge erstaunter Hunde herausführte, – als von einem Wilden, der Entzücken bei den Martern seiner Feinde fühlt, blutige Opfer darbringt, ohne Skrupel Kindesmord begeht, seine Frauen als Sklaven behandelt, keinen Anstand kennt und ein Spielball des gröbsten Aberglaubens ist.«