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Von Dr. H. Dekker.
mit Abbildung.
Aus der Not des Menschengeschlechts ward die Heilkunde geboren, und an der Not genährt, hat sie ihre ersten Kinderschritte gemacht. Priester halfen den Kranken in ihrer ängstlichen Verzweiflung, Priester, Zauberer und Medizinmänner, und trieben die bösen Geister durch schreckhaften Lärm, durch Beschwörungen, Räucherungen oder mit bitteren Latwergen aus dem Körper. Aus diesem primitiven Betrieb bildeten sich die ersten Anfänge einer Heilkunde; in jahrhundertelanger Arbeit sammelte sich durch die Beobachtungen am Krankenbett ein kleiner Schatz von Erfahrungen, den man immerhin mit Vorteil zum Segen der Menschheit gebrauchen konnte. Daß man aber, um den Menschenkörper zu verstehen, in ihm Bescheid wissen müsse, daß man versuchen müsse, seinen Bau und seine Verrichtungen verstehen zu lernen, diese Erkenntnis hat, bevor sie Allgemeingut wurde, Jahrhunderte gebraucht. Wohl ahnten schon früh bevorzugte Geister, daß die Heilkunde Wissenschaft sei, Naturwissenschaft, aber es fehlten kühne Nachfolger, und das unfruchtbare Mittelalter erstickte jeden Versuch zu fröhlichem Schaffen im Keime. Aber dann, mit dem Aufschwung der übrigen Wissenschaften, begann auch für die Medizin der Morgen einer großen Zeit. Schwann stellt fest, daß alles Lebendige, Rose wie Eichbaum, Löwe und Mensch aufgebaut sei aus Zellen, und mit einem gewaltigen Ruck ward die Medizin auf einen festen naturwissenschaftlichen Boden gestellt. Der Chemiker Woehler stellte den Harnstoff »künstlich« dar, von dem man früher glaubte daß er nur im lebenden Organismus geheimnisvoll entstehen könne. Also war's aus mit der vermeintlichen »Lebenskraft«, die weltfremd, abgesondert von allen übrigen Naturkräften, im lebenden Körper ihr eigenes Dasein führt; aus mit der Naturphilosophie, die zum Schaden der Wissenschaft die beobachteten Tatsachen mit irreleitendem, phantasiegeborenem Arabeskenwerk verbrämt hatte. Rob. Jul. Mayer, der gelehrte Heilbronner Arzt, findet das Gesetz der Erhaltung der Kraft, und ernüchtert erkannte man, daß dieses Gesetz auch Gültigkeit habe für die Lebenserscheinungen, für alle Vorgänge im lebenden Körper, daß unsere Leistungen, unsere Körperwärme, unsere Körpertätigkeit genau entsprächen der Kräftemenge, die uns von außen – in Nahrung und Wärme – zugeführt wird. Ein Rechenexempel, weiter nichts. Botanik, Chemie, Zoologie blühten auf und überstürzten sich in neuen Entdeckungen. Jeder Tag brachte neue Schätze, zeigte neue Horizonte. Und die Medizin erntete mit von den Früchten zu reichem Gewinn.
Da erscheint Darwin. Man war überrascht, geblendet, bestürzt. Fast gewaltsam ward die Naturwissenschaft in neue – biologische – Bahnen gedrängt. Was Darwin brachte, war ja im Prinzip nichts Neues: die Hypothese einer Entwicklung war vom Altertum an oftmals verkündet, freilich mehr philosophisch geahnt, als naturwissenschaftlich begründet, und gerade bei Darwins Auftreten lag sie so in der Luft, daß Wallace um ein Haar Darwin zuvorgekommen wäre. Aber Darwin war der erste, der durchdrang, der die Entwicklung nicht nur als philosophisches Postulat hinstellte, sondern naturwissenschaftlich so begründete, daß es unmöglich war, sich der Wucht der Beweisgründe zu entziehen. Das eben ist Darwins Ruhm, daß er der Vollender wurde, daß er die Lehre von der Entwicklung zum bleibenden Eigentum und zum Rüstzeug der Wissenschaft gemacht hat.
Aber neu und unerhört war es, daß er die Entwicklung auch auf den Menschen ausgedehnt wissen wollte. Man denke, auf den Menschen! Das Ebenbild Gottes nicht am sechsten Tag fertig aus des Schöpfers Hand hervorgegangen, sondern niederer Abstammung! Man glaubte die Würde des Menschen bedroht, glaubte Religion, Kultur, alles was schön und edel, in Gefahr. Laute, flammende Proteste wurden gegen diese »Irrlehre« erhoben, und mit leidenschaftlicher Erbitterung die Anhänger Darwins bekämpft und verfolgt.
Während dieses Kampfes um das Menschenproblem taten die Vertreter der Medizin – wenige Anatomen ausgenommen –, als ginge sie der Streit gar nichts an. Was kümmerte sie diese »Frage aller Fragen«! War das nicht graue Philosophie? Und Philosophie war den Medizinern nach sehr traurigen Erfahrungen, die noch nicht weit genug zurücklagen, als daß man sich ihrer nicht mit Beschämung erinnerte, ein Greuel. Da hatte Darwin als eine seiner Hauptstützen die vergleichende Anatomie. Die Medizin hatte den Nutzen dieser Vergleichung der Einrichtungen und Organe des Menschen mit denen der Tiere längst erkannt, hatte auch schon bemerkt, daß stets dieselben Organe in allen erdenklichen Graden der Ausbildung wiederkehrten, und daß die Verschiedenheit bedingt war durch die Verschiedenheit der Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse. Aber wozu daraus den Schluß der Entwicklung oder gar Abstammung ziehen? War nicht Cuvier, ein Bahnbrecher der vergleichenden Anatomie, Gegner des Entwicklungsgedankens gewesen?
Und doch! Gute Ideen sind wie Samen, sie brauchen Zeit zu wachsen und zu reifen. Langsam ist die Entwicklungslehre den Medizinern so in Fleisch und Blut übergegangen, daß man sie heute als Selbstverständlichkeit betrachtet und gar nicht mehr darüber streitet. Wie konnte es anders sein! Spricht denn nicht dafür schon der Menschen und Tieren gemeinsame Bauplan, die Entwicklung des Embryo, der zwar nicht genau, immerhin leise erkennbar Entwicklungsstufen entfernter Ahnen reproduziert? Oder das Vorhandensein der verkümmerten, rudimentären Organe, die, heute zwecklos, nur verständlich sind aus ihrer Geschichte, durch die Annahme, daß sie den Urvorfahren einmal von Nutzen waren? Oder die eigentümliche Anordnung von Knochen und Muskeln, die ursprünglich auf den Typus eines Vierfüßlers zugeschnitten waren? Oder die gelegentlichen Rückschläge, wie sie sich etwa in einem fürwitzigen Schwänzchen zeigen? Oder die vererbten Instinkte und Gewohnheiten? Oder die Tatsache, daß alle Anklänge an die Vorfahren bei den »niedrigen« Menschenrassen deutlicher ausgeprägt sind? Und vieles andere?
Obendrein brachte die Medizin unabsichtlich, indem sie arglos ihr Tatsachenmaterial mehrte, Schlag auf Schlag neue Dokumente für die Entwicklung des Menschen: Friedenthal einerseits, anderseits Uhlenhuth wiesen nach, daß »verwandte« Tiere ähnliches Blut haben. vgl. Kosmos Bd. II, S. 165. Durch unglaublich feine Reaktionen kann man verwandte Gruppen absondern: Pferd, Esel – Hammel, Ziege, Rind – Huhn, Perlhuhn, Taube – aber auch – Mensch, Gibbon, Orang, Gorilla, Schimpanse. Das bedeutet nicht Abstammung, sondern Verwandtschaft, vielleicht Entwicklung aus gemeinsamen Urvorfahren. Oder ein anderes Beispiel aus vielen: des Menschen Hand ähnelt in allem so sehr der der Schwanzlurche, daß man (auch aus anderen Gründen) annehmen mußte, daß sie sich aus solcher Grundform entwickelt habe (s. Abb.). Nur suchte man vergeblich ein Knöchelchen der Handwurzel, das os centrale. Es muß da sein, sagten die Forscher, und nach langjährigem Suchen gelang es Rosenthal festzustellen, daß dieses kleine Knöchelchen in der Tat beim Menschenembryo vorhanden ist, um später durch Verwachsung unserem Auge unsichtbar zu werden.
Das sind theoretisch interessante Fragen, die da auftauchen. Noch nie hat die Entwicklungslehre, wenn man sie auch auf die schärfste Probe gestellt, am Menschen versagt. Aber sie hat auch ihre große praktische Bedeutung für die Medizin. Sie hilft uns Probleme stellen und lösen. Erst seit man sich gewöhnt hat, zur Erklärung des Baus und der Leistungen der Organe von den einfachsten Verhältnissen bei niedersten Tieren auszugehen, gewinnt man klarere Einsicht: so hat man die verwickelte Tätigkeit der weißen Blutkörperchen bis zu den niedrigsten Lebewesen rückverfolgt und aus primitivsten Anfängen ableiten können; so macht die Erkenntnis von Bau und Leistungen unseres Gehirns, unserer Sinnesorgane große Fortschritte, so hat man erst eine klare Auffassung des inneren Ohres durch Untersuchungen und Experimente an niedersten Tieren gewonnen, die ergaben, daß ein großer Teil desselben nicht zum Hören, sondern zum Wahrnehmen von Raum- und Bewegungseindrücken dient. Man hat sich bis auf den heutigen Tag den Kopf zerbrochen über die Bedeutung der Nebennieren, merkwürdiger Gebilde, die wie ein Zweimasterhut der Niere jederseits aufsitzen. Die Entwicklungslehre gibt uns jetzt wenigstens Anhaltspunkte: sie hat gezeigt, daß bei den Selachiern, niederen Fischen aus unserer angenommenen Vorfahrenreihe, zwei getrennte Organe mit verschiedenen Funktionen deren Stelle vertreten, und daß diese bei höheren Tieren die Neigung haben, miteinander zu verwachsen und zu verschmelzen, ohne jedes seine Fähigkeiten aufzugeben. In der Tat hat man so erfahren, daß in der Rinde und im Mark der Nebenniere auch beim Menschen zwei verschiedene ineinander geschachtelte Organe, jedes mit eigener besonderer Tätigkeit, vorliegen. So hat man schon eine Reihe wertvoller Aufschlüsse durch die Entwicklungslehre erhalten. Immerhin sind es erst verheißungsvolle Anfänge, ein gewaltiges Feld steht hier der Forschung noch offen für suchende Geister, die neue Ziele stecken. Es lohnt sich der Mühe!
Darwin hat aber mehr gegeben, als die Entwicklungslehre. Er fragte weiter: warum diese Entwicklung? Und er fand die Antwort: ein jedes Tier, ein jedes Organ ist so geworden, weil das lebende Wesen dem Tod verfiel, wenn es nicht so »wurde«. Unter dem Einfluß der Außenwelt, die bei allmählicher Änderung auch eine Änderung der Lebensverhältnisse und Bedürfnisse mit sich brachte, mußte sich auch die Welt des Lebendigen in steter Anpassung ändern. Diese Tatsache der Anpassung, des Angepaßtseins an die Lebensbedingungen und der Fähigkeit des fortwährenden schlagfertigen Sichanpassens an die immerfort ruhelos wechselnden Ausgaben und Ansprüche der Außenwelt, diese Tatsache uns wieder eindringlich zu Bewußtsein gebracht zu haben, auch das ist Darwins Verdienst. Einer Anpassung, die bis ins Kleinste geht und gehen muß, da sie das Leben erst möglich macht.
Darwin fragte weiter: wie kommt Entwicklung und mit ihr Anpassung zustande? Und nach langem Suchen und Grübeln findet er – offenbar unter dem Eindruck philosophischer Anschauungen – seine Antwort: Anpassung kommt durch Auslese des Nichtangepaßten zustande. Das war eine verblüffend einfache Lösung. So verblüffend, daß man in jubelnder Begeisterung gar nicht die Schwächen dieser Theorie bemerkte. Heute hat sich nun herausgestellt, daß die Lösung doch nicht so ganz einfach ist, und man sucht nach einer befriedigenderen Auffassung des Lebensproblems. Wie dem auch sei, gerade diese Theorie hat den Wissenschaften ungeahnte Anregung gegeben: die heißen Bemühungen, dem Leben seine Geheimnisse zu entlocken, haben immer tiefer geführt, die größten und tiefsten Probleme des Lebens sind aufgerollt – und ein jedes noch so unnahbar wie je. Was ist Leben, wie offenbart es sich? Wie kommt Entwicklung, Fortpflanzung, Vererbung zustande? Wie Wachstum und Altern, Heilen und der Ersatz verloren gegangener Teile? Sind hier nur mechanisch-physikalische Kräfte im Spiel oder – noch etwas anderes außerdem?
Und während Botanik, Zoologie und Physiologie mit Rieseneifer diese Fragen durch Beobachtung und Experiment zu lösen suchen, zieht die Heilkunde aus jeder neu gefundenen Entdeckung für den Fortschritt der Wissenschaft und die praktische Betätigung am Krankenbett ihren Gewinn.
Anpassung! Ja, auch im Menschenleibe ist alles angepaßt der Aufgabe, die zu erfüllen ist. So sehr angepaßt, daß man überall fragen darf, ja, um weiter zu kommen fragen muß: Warum das so? Warum diese Form, die Größe, der innere Aufbau dieses Organs, warum gerade diese ihm eigentümliche Versorgung mit Blut und Nährmaterial, warum gerade diese Zellen an dieser Stelle, und warum gerade hier die Lage des Organs? Was wird aus ihm, wenn sich die Verhältnisse ändern, sei es, durch Verletzung, durch Gift oder sonstwie? Warum! Bis ins kleinste Geschehen, bis ins intimste Leben der einzelnen Körperzellen kann man nach dem »Warum« fragen und findet vernünftige Antwort auf diese Frage. Gewiß sind Anatomen, Physiologen von dieser Tatsache der feinsten Anpassung der Organe an die Bedürfnisse überzeugt, aber bewußt hat sich die Medizin noch nicht unter diesen großen Leitgedanken gestellt. Großzügig diese Konsequenzen aus Darwins Lehren gezogen zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst des Haller Anatomen Wilhelm Roux, der seit 2 Jahrzehnten in seiner »Entwicklungsmechanik« die Tatsache der Anpassung, an die Bedürfnisse im Organismus näher untersucht und eine Reihe prachtvoller Arbeiten geliefert und angeregt hat. Zweckmäßiges Schaffen, d. h. Befriedigung des Bedürfnisses mit dem geringsten Aufwand von Kraft und Material, hatten schon Culmann, Meyer, Wolff in dem kunstvollen Aufbau der Knochen, wie wir ihn an Durchschnitten erkennen, gefunden, auch daß, wenn ein Knochen bricht und heilt, der neue Knochen den neuen Bedürfnissen in Anordnung und Aufbau entspricht. Roux verdanken wir wertvolle neue Untersuchungen über diese Tatsache, verdanken wir den Nachweis, daß im Bindegewebe, in der Schwanzflosse des Delphins, im Trommelfell, vor allem auch in der Anordnung der Blutgefäße (Weite, Wandung, Verlauf, Verästelung, Abgangswinkel) dieselbe weise Ökonomie herrscht. Ja, so »zweckmäßig« ist die Verteilung der Blutbahnen im Körper, daß Reuleaux sie den Wasserbauingenieuren als vorbildlich für Anlage des Rohrnetzes einer Wasserleitung zum Studium empfiehlt. Es vergeht kein Tag, an dem nicht neue entwicklungsmechanische Arbeiten über irgendeinen Teil des menschlichen oder tierischen Körpers entstehen, und die Schule Roux's erkennt ausdrücklich die Verdienste Darwins um die Begründung dieser Ideen an.
Der Gedanke der Anpassung verlangt jetzt immer ungestümer Anerkennung in der Heilkunde. Fast unmerklich dringt er immer weiter siegreich vor, durchdringt das ganze Gebiet der Medizin wie ein Sauerteig und zeigt sich von fruchtbarer Wirkung auch auf scheinbar ganz abgelegenen Gebieten.
Was ist Krankheit? Diese Frage brennt seit Jahrtausenden und ist einwandfrei auch heute noch nicht gelöst. Ursprünglich waren es nebelhafte Geister, die den Körper besetzt hielten, später irgendwelche Stoffe unklarer Art; als man gelernt hatte, im toten Körper die krankhaften Veränderungen zu erkennen, hielt man diese für die Krankheiten, dann wieder waren es die Bakterien, und wer ganz tief eingedrungen zu sein glaubte, klammerte sich an Virchows Erklärung, daß Krankheit »Leben unter veränderten Bedingungen« sei. Neuerdings hebt sich die Erkenntnis des Wesens der Krankheiten schärfer aus dem Nebel unklarer Vorstellungen heraus. Wir dürfen soviel heute behaupten: daß Krankheit entsteht, wenn der Organismus einer gestellten Aufgabe nicht gewachsen ist. Dieser muß er sich »anpassen«. Gelingt es ihm, die »Schädigung« glatt zu überwinden, wohl, so gesundet er, die Krankheit heilt »von selbst«. Gelingt es ihm nicht, so folgt ein heißes Ringen und Mühen – »Krankheit« –, die schließlich in Genesung, Siechtum oder Tod übergeht. Der Körper hat eine Reihe von Einrichtungen und Fähigkeiten, des aufgedrungenen Kampfes Herr zu werden. Nur sind sie nicht so leicht erkennbar. Manche Begleiterscheinungen der Krankheiten, die man Jahrtausende lang als die Krankheit selbst und etwas durchaus Böses angesehen, hat man erst jetzt als Hilfsmittel des Körpers, mit der Schädigung fertig zu werden, erkannt, so die Entzündung, Eiterung, das Fieber und ähnliche Erscheinungen.
Diese Auffassung ist durchaus im Sinne der modernen Biologie. Auf ihr gründen sich neue hoffnungsvolle Zweige der modernen Medizin, die pathologische Physiologie und die experimentelle Pathologie. Unermeßliche Werte schenkt sie der Wissenschaft und der Menschheit. Die größten und schönsten Triumphe feierte die Heilkunde schon jetzt, wo sie die Frage ernstlich erwog, was ist Schädigung, was Heilbestreben? Was für Mittel gebraucht der Körper, sich zu helfen, und wie helfen wir ihm diese Mittel mit Erfolg anwenden? Auf diesem Gedankengang kam Behring zu seinem Diphtherie-Heilserum, kam Bier zu seiner Methode, durch Blutüberfüllung den Körper in seinem »Heilbestreben« zu unterstützen. Mit großem Erfolg wird auf diesem unübersehbar weiten Gebiet gearbeitet, die Abwehrvorrichtungen des Organismus zu studieren, damit man in der Stunde der Not, wenn dem Körper durch »Krankheit« Gefahr droht, weiß, wie man ihm durch Unterstützung und Förderung der Abwehr zum Sieg über die Schädigung verhelfen kann. Das ist »Naturheilmethode«, die einzig mögliche »natürliche« Heilweise.
Die anderen großen Fragen der modernen Biologie: Entwicklung, Wachstum, Vererbung, sie alle spielen auch in der Medizin eine große Rolle. Ja sie verlangen hier drängend und ungestüm nach einer befriedigenden Lösung wegen der großen praktischen Bedeutung, die sie für das Leben des einzelnen wie für das der Gesamtheit haben. Aber – leider! – sind wir von der Lösung heute weiter entfernt denn je, trotz der ungeheuren Mühen, die gerade auf das Studium dieser Fragen verwandt werden, weil jede Lösung einer Frage tausend neue Fragen aufrollt. So muß man eben an diesem spröden Stoff unbeirrt weiterarbeiten. Einmal wird auch hier die Natur ihre Geheimnisse, wenn auch nicht die letzten, preisgeben zum Wohle der Menschheit und zum Heile der Wissenschaft.
Man mag darüber streiten, ob diese Forschungsrichtung in der neueren Medizin unter dem Einfluß Darwins stehe. Gewiß nicht, wenn man unter »Darwin« nur seine Entwicklungs- und Selektionslehre versteht. Aber läßt sich die Arbeit der modernen Forschung von diesem Namen trennen? Wenn spätere Zeiten rückschauend unserer Tage rühmend gedenken und des ehrlichen Suchens, das durch unsere Wissenschaften geht, dann werden sie von unserer Zeit als dem »Zeitalter Darwins« reden, wie wir von dem des Kopernikus. Und mit Recht! Denn es ist Geist von Darwins Geist, der alle unsere Wissenschaft heute durchtränkt. In diesem Geist, der immer wuchtiger auch die anfangs widerstrebende Medizin unter seinen Bann zwingt, schreiten wir rüstig vorwärts mit sieghaften Schritten, der Menschheit zum Heil!
Darum, wenn jetzt die Kulturwelt am Tage der hundertjährigen Wiederkehr von Darwins Geburt zu seinem Grabe pilgert und sein Gedächtnis feiert als das eines Gewaltigen, auf den wir mit Staunen zurückblicken, bleibt auch die medizinische Wissenschaft nicht fern, ihm in Ehrfurcht huldigend, schuldigen Dank darzubringen.
Ein Lorbeerreis dem Andenken dieses Großen!