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Darwin als Ornithologe.

Von Dr. Kurt Floericke.

Mit 3 Abbildungen.

Er war kein eigentlicher Fachornithologe, der große englische Gelehrte auf dem einsamen Landsitze Down, und doch hat er der ornithologischen Wissenschaft so wertvolle Dienste geleistet wie kaum ein anderer vor und nach ihm, doch hat er seinen Namen mit unvergänglichen Lettern eingetragen in das goldene Buch der Ornithologie, denn er war ein Naturforscher im schönsten und edelsten Sinne des Wortes, und sein allumfassender, die ganze Natur mit klarem Verständnis durchleuchtender Forschergeist, seine durch weite Reisen geschärfte Beobachtungsgabe sind auch dem ornithologischen Spezialgebiete in höchstem Maße zugute gekommen. Engherzige Zunftornithologen haben ihn nie als den ihrigen anerkennen wollen, und es ist wahr, er hat wenig neue Subspezies »gemacht« und keine Eierschalen nach Milligrammen abgewogen, aber dafür hat er eine unendlich befruchtende Wirkung auf die gesamte Ornithologie ausgeübt, ihr neue Formen und Ziele gegeben, uns die plastische Veränderlichkeit der Art klargelegt und wenigstens zum Teil die dabei wirksamen Gesetze aufgedeckt. Je mehr Darwin sich selbst in seine weltbewegende Lehre vertiefte, je mehr er den zahlreichen Anfeindungen gegenüber nach Beweisen suchte, um so mehr mußte er zu der Überzeugung kommen, daß gerade die Vogelwelt ihm solche in reichem Maße darbot, und deshalb hat er ihr auch eine immer steigende Aufmerksamkeit zugewendet, ihr allein in seinem Hauptwerke 4 umfangreiche Kapitel gewidmet (der ganzen übrigen Tierwelt zusammen 6), sich immer mehr für ihre Geheimnisse interessiert und so manches davon entschleiert. Der liebliche Zauber, den die Vogelwelt auf jeden unbefangenen Naturfreund ausübt, hat auch bei diesem kühl wägenden Gelehrtenkopfe nicht versagt, denn seine Sprache wird wärmer, seine Schilderung lebhafter und inniger, wenn er auf die Gefiederten zu sprechen kommt, und selbst Gedanken an Natur- und Vogelschutz klingen schon zwischen den Zeilen durch. Wenn man sich Darwins ungeheure Bedeutung auch für die Ornithologie klar machen will, braucht man sich nur vor Augen zu halten, in welchen Bahnen sich diese Wissenschaft vor und nach Darwin bewegte. Selbst ein den geringfügigsten Abänderungen des Vogelkörpers gegenüber so wundersam empfindlicher und scharfsinniger Geist wie der des älteren Brehm kam niemals über ein ödes Beschreiben, Benennen, Klassifizieren und Rubrizieren hinaus, die Vogelbiologie entbehrte selbst bei einem Naumann der großen, umfassenden und verbindenden Gesichtspunkte, und die Vogelpsychologie war überhaupt nichts als ein Sammelsurium merkwürdiger und teilweise unglaubhafter Anekdoten. Darwins bahnbrechendes Auftreten bedeutet hier einen Wendepunkt sondergleichen, seine Ausführungen – kristallklar in der Form, gediegen im Inhalt, von fast übertriebener Gewissenhaftigkeit und fast überladen mit einer erdrückenden Fülle von überzeugenden Beweisen – führten eine ungeahnte Wandlung herbei, die der ornithologischen Forschung bis heute noch Form und Richtung gegeben, erst rechten Zusammenhang und wahres Verständnis in die wirre Fülle sachlicher Wahrnehmungen gebracht hat. Vorher ein Chaos unverstandener Beobachtungen – jetzt ein wohlgeordnetes Gesamtbild, zusammengesetzt aus einer überwältigenden Menge sorglich geklärter Tatsachen. Erst durch Darwin hat die Tiergeographie eine eigentlich wissenschaftliche Grundlage gewonnen, erst durch ihn erhielt die Systematik Wert und tieferen Sinn, erst durch ihn wurde eine Tierpsychologie überhaupt möglich.

Schon als der junge Darwin sich 1831 an Bord des »Beagle« zu seiner für die Wissenschaft so bedeutungsvoll gewordenen, fünfjährigen Reise um die Welt einschiffte, war er von aller Einseitigkeit frei, beobachtete er in den entlegensten Weltgegenden alle Teile der Tier- und Pflanzenwelt mit gleicher Liebe und gleichem Verständnis, tat er allenthalben tiefe Einblicke, gab er überall scharfsinnige Erklärungen. Und die Vogelwelt ist dabei wahrlich nicht zu kurz gekommen. Vielmehr hat seine Reise auch für die Ornithologie ungleich wertvollere und nachhaltigere Ergebnisse gezeitigt, als so manche reklamehaft verherrlichte der Gegenwart, die mit Dutzenden »neu entdeckter Arten« prunkt. Und wie wohltuend berührt es im Gegensatze zu gewissen »wissenschaftlichen« Massenmorden und Suitenjägereien unserer Zeit den Vogelfreund, daß der junge Gelehrte stets den Hauptwert auf sorgsame und eindringende Beobachtung legte, nicht aus Zustandebringen möglichst umfangreicher Balgsammlungen! Die Schilderungen Darwins über das anziehende Leben und Treiben der südamerikanischen Geierfalken, über das herrliche Flugvermögen des gewaltigen Kondors, über die eigentümliche Art und Weise, wie der merkwürdige Scherenschnabel Fische fängt, über den treffend als »Dampfer« charakterisierten Micropterus cinereus, über den sagenhaften Riesensturmvogel usw. atmen eine wahrhaft klassische Plastik und gehören wohl zu dem Schönsten und Besten, was jemals auf ornithologischem Gebiete geschrieben worden ist. Großartig versteht er es, mit wenigen, oft von feinem Humor gewürzten Worten eine bestimmte Vogelart zu charakterisieren, sie uns mit fast lebendiger Anschaulichkeit im Geiste vorzuführen. So sagt er von einer chilenischen Pteroptochusart: »Ein schlecht ausgestopftes Exemplar ist aus einem Museum entflohen und wieder lebendig geworden.« Und bei einer anderen Art derselben kuriosen Vogelgattung, die durch die über den Rücken gebogene Haltung des Schwanzes ausgezeichnet ist, meint er, man sei immer versucht, ihr zuzurufen: deck' deinen Hintern zu! Vom südamerikanischen Strauß wird festgestellt, daß er vorzüglich zu schwimmen vermag, und daß die Eier nicht vom Weibchen, sondern vom Männchen bebrütet werden; schließlich wird gar noch eine bis dahin unbekannte Straußenart gefunden, die der berühmte Ornithologe Gould dem Entdecker zu Ehren als Rhea darwini (Abb. 1) benannte. Wie drollig mutet der Kampf Darwins mit einem Eselpinguin auf den Falklandinseln an, und doch wie tiefe Einblicke tun wir dabei in das Seelenleben dieses »tapferen« Vogels! Durch raffinierte Beobachtungen wird in den Anden festgestellt, daß die Geier beim Aufsuchen des Aases niemals durch den Geruch, sondern einzig und allein durch das Auge geleitet werden, eine Tatsache, die man später wiederholt lebhaft bestritten hat, die aber trotzdem heute als unumstößlich richtig gilt. Ferner führt Darwin ganz richtig aus, daß sich die Kolibris nicht, wie man bis dahin zumeist annahm, von Blütensäften, sondern in der Hauptsache von Blüteninsekten ernähren. Auch weist er darauf hin, daß die Kraft der Flügel bei diesen fliegenden Edelsteinen im Verhältnis zum Körpergewicht mächtiger sei als bei irgendeiner anderen Vogelfamilie, daß also in dieser Beziehung die Kolibris eine Parallelerscheinung zu den Schmetterlingen darstellen. Ganz besonders aber beschäftigt den jugendlichen Gelehrten die eigentümliche Vogelwelt der entlegenen Galapagosinseln, weil hier zum ersten Male der variierende Einfluß der Isolation mit packender Lebendigkeit vor sein klarblickendes Forscherauge tritt. Möglich, ja wahrscheinlich, daß hier der erste Anstoß zu seinen späteren, die ganze wissenschaftliche Welt aufwühlenden Lehren gegeben wurde. Er findet auf dem Archipel 26 Landvögel vor, worunter nicht weniger als 25 eigene Arten, Diese Zahlen sind durch spätere Forschungen etwas modifiziert worden, jedoch nur unwesentlich.die durchgängig kleiner und trüber gefärbt erscheinen, als die verwandten Formen des nächsten Festlandes. Am interessantesten ist eine den Inseln eigentümliche Gattung der Kegelschnäbler ( Geospiza) mit 13 Arten, deren ganz allmählich sich abstufende Schnabelform Anlaß zu den tiefsinnigsten Betrachtungen gibt. Unter den 11 im Archipel brütenden Wat- und Wasservögeln sind dagegen nur 3 eigene Arten, und Darwin folgert daraus das wichtige und wohl für alle Zeiten geltende Gesetz: die Wasserformen sind auf jedem gegebenen Punkte der Erdoberfläche weniger eigentümlich als die Landformen derselben Klasse. Höchst auffallend war auch die verblüffende Zutraulichkeit der Vögel auf diesen damals nur selten von Menschen besuchten Eilanden. »Sie alle kamen häufig hinreichend nahe, um mit einer Gerte und zuweilen, wie ich selbst versucht habe, mit einer Mütze oder einem Hute totgeschlagen zu werden. Eine Flinte ist hier beinahe überflüssig, denn einmal stieß ich mit dem Flintenlaufe einen Falken vom Zweige eines Baumes herunter. Eines Tages kam, während ich am Boden lag, eine Spottdrossel und setzte sich auf den Rand eines aus der Schale einer Schildkröte gefertigten Eimers, den ich in meiner Hand hielt, und fing ganz ruhig an, das Wasser zu schlürfen; sie ließ mich den Eimer vom Boden in die Höhe heben, während sie darauf saß; ich habe oft versucht, und es wäre mir beinahe geglückt, diese Vögel bei ihren Beinen zu ergreifen.«

Ausgedehnte Reisen sind von jeher die hohe Schule der Naturforscher gewesen, und niemals hat sich diese alte Erfahrung glänzender bewahrheitet, als bei dem genialen Charles Darwin. Zurückgekehrt in die Heimat, begann er, selbst durch glückliche Vermögensverhältnisse dem »Kampf ums Dasein« entzogen, mit der Bearbeitung der gesammelten Beobachtungen. Immer tiefer drang er dabei ein in die verborgensten Geheimnisse der schaffenden Natur, und was selbst ein Goethe nur geahnt, was gleichstrebende Vorgänger auf wissenschaftlichem Gebiete nur zaghaft anzudeuten gewagt hatten, das entschleierte sich mehr und mehr seinem alles durchdringenden Geiste und nahm in seinen epochemachenden Hauptwerken klare und bestimmte Gestalt an. Ein Leben unermüdlicher Arbeit und rastlosen Schaffens, reicher Erfolge, aber auch edelster Bescheidenheit war es, das sich da auf dem stillen englischen Landsitze abspielte, von dem aus ein wahrer Gedankenstrom die wissenschaftliche Welt durchflutete, längst abgebauten Boden düngend mit neuer Lebenskraft, prächtige Blüten und lachende Früchte hervorlockend an dürren, scheinbar abgestorbenen Ästen. Und gerade über die Ornithologie hat der große Brite ein reiches Füllhorn leuchtender Gedankenperlen ausgeschüttet; nicht alle sind ausgehoben und von sachverständiger Hand bearbeitet worden, vielmehr sind nicht wenige später unter dem Wust systematischer Haarspaltereien und modernen Nomenklaturgeträtsches wieder versunken und harren noch heute eines scharfsichtigen Finders. Freilich lassen sich Darwin auch manche Schnitzer nachweisen, besonders in der paläarktischen Ornithologie, wenn er z. B. vom Kuckuck sagt, daß er sich ebensosehr von Früchten, wie von Raupen ernähre, wie ja auch seine Erklärung für den Brutparasitismus des Gauchs, den er auf das Legen der Eier in langen Zwischenräumen zurückführt, heute als abgetan gilt. Wenn aber auch in ornithologischer Beziehung solche Mißgriffe in den späteren Arbeiten Darwins immer seltener werden, so hat er dies zum nicht geringen Teile der weitgehenden, eifrigen und vornehm-selbstlosen Unterstützung zu verdanken, die ihm in englischen Ornithologenkreisen zuteil wurde, und die unseren deutschen Fachgelehrten, die in der Verkleinerung Gleichstrebender und in der Verketzerung Andersdenkender leider so oft die Aufgabe der »Wissenschaft« zu erblicken wähnen, als leuchtendes Beispiel dienen könnte. Es würde viel zu weit führen, hier die Bedeutung der Darwinschen Lehren im einzelnen gerade für das ornithologische Gebiet abzuhandeln. Wir müssen uns damit begnügen, einige besonders wichtige Punkte kurz zu streifen und namentlich solche hervorzuheben, die noch des weiteren Ausbaus seitens der Ornithologen harren.

siehe Bildunterschrift

Abb. 1. Darwins Strauß ( Rhea darwini).
Nach einer Originallithographie von P. Jury (in den
Transactions of the zoological society of London 1862.)
Von Darwin in Südamerika entdeckt und ihm zu Ehren
benannt. Bei dieser Art gelang dem Forscher der später
auch für die anderen Strauße bestätigte Nachweis, daß
bei diesen Laufvögeln die Eier nicht vom Weibchen, sondern
vom Männchen ausgebrütet werden.

Mit genialem Scharfblick erkannte Darwin die Unzulänglichkeit und Willkür der bisherigen Einteilung der Tiere und setzte überzeugend auseinander daß die embryonalen Charaktere die maßgebenden für die Klassifikation sein müßten, daß die starre Systematik auch Rücksicht auf die bewegliche Biologie zu nehmen habe. In seinen gründlichen Ausführungen über die Schnäbel der Enten und Meisen zeigt er die stufenweise Entstehung neuer Formen in weitgehender Anpassung an die jeweilige Ernährungsweise, und seine Darlegungen weisen überzeugend auch solchen Arten ihren bestimmten Platz an, die man bis dahin im System nirgends recht unterzubringen wußte. Wer diese Abschnitte gelesen hat, wird z. B. nicht länger daran zweifeln, daß der Kleiber zu den Meisen und nicht zu den Spechten gehört und daß die Kohlmeise das die beiden erstgenannten verbindende Glied ist. Mit Recht führt er die altbekannte Neigung der Spezialisten, zu viele Arten aufzustellen, darauf zurück, daß sie zwar die Unterschiede auf ihrem Sondergebiete scharf erkennen, aber zu wenig allgemeine Kenntnisse von analogen Verschiedenheiten in anderen Gruppen haben. Wenn's nur mehr beherzigt würde! Für ihn ist jeder Organismus weiter formbar als ein plastisches Produkt aus den Faktoren der Vererbung und denen der äußeren Einflüsse. Gut ausgeprägte Varietäten sind beginnende Arten, und der erste Schritt zur Variation ist die individuelle Verschiedenheit.

Die Natur macht – wenigstens bis zu einem gewissen Grade – keine plötzlichen Sprünge, sondern formt in langsamem, aber beständigem Flusse; sie ist verschwenderisch in Abänderungen, aber geizig in Neuerungen. Plötzlich auftretende Abänderungen, wie sie leichter im männlichen als im weiblichen Geschlechte vorkommen können, werden entweder gar nicht oder ganz unverändert überliefert. Die Charaktere der Art sind veränderlicher als die der Gattung, und am veränderlichsten erweisen sich vielfache, rudimentäre und niedrige Bildungen sowie die sekundären Sexualcharaktere, die bei den Vögeln auffallender zutage treten als sonst irgendwo im Tierreiche. Oft zeigen einzelne Arten verschiedener Gattungen unter der Einwirkung ähnlicher äußerer Faktoren analoge Verschiedenheit, oder sie kehren gemeinsam zu gewissen Merkmalen der ursprünglichen Stammart zurück, wie wir dies sehr schön bei den Tauben beobachten können. Der Kampf ums Dasein äußert sich stets zwischen den nächstverwandten Formen am heftigsten. So konnte Darwin feststellen, daß in England die Singdrossel durch die Misteldrossel verdrängt wird. Besonderes Interesse beansprucht die Ornis von Inseln. Hier finden wir ähnliche, aber nicht gleiche Formen wie auf dem nächstgelegenen Festlande, und dasselbe Gesetz wiederholt sich auch innerhalb der einzelnen Inseln desselben Archipels. Neu gebildete Arten breiten sich dabei auffallend langsam über den ganzen Archipel aus, und so kommt es, daß heute noch vielfach die einzelnen Inseln ihre eigenen Formen besitzen. Ich habe selbst Gelegenheit gehabt, diese Angaben Darwins auf den Kanaren eingehend nachzuprüfen, und habe sie vollauf bestätigt gefunden.

Nicht nur die äußere Form der Vögel und die Färbung ihres Gefieders verändern sich im Verlaufe der Zeiten und Generationen, sondern auch, gewissermaßen als Voraussetzung davon, ihre biologischen Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten. Nicht nur jedes körperliche Vermögen, sondern auch jede Fähigkeit des Intellekts kann nur stufenweise erworben werden. Deshalb gibt es auch so häufig lokale Verschiedenheiten in der Biologie, und deshalb ist es so unendlich schwer, über Nutzen und Schaden häufiger und weitverbreiteter Arten ein richtiges und sicheres Urteil zu fällen, wobei nur an Amsel, Bussard und Würger erinnert sei. Die bei uns meist gesellig balzenden Birkhühner tun dies in England nur äußerst selten, und die Kohlmeise hat dort die Gewohnheit angenommen, an den Stämmen wie ein Baumläufer emporzuklettern. Einen südamerikanischen Specht ( Colaptes campestris) sah Darwin in manchen Gegenden nie an den Bäumen klettern und sein Nest in steilwandigen Flußufern anlegen, während er anderwärts ganz die typische Lebensweise aller Spechte führte. Die dortige Hochlandgans ( Chloephaga maghellanica) geht fast nie ins Wasser, obwohl sie regelrecht ausgebildete Schwimmfüße besitzt, die also nur der Verrichtung, nicht aber auch der Form nach verkümmert, die dem heutigen Tiere demnach von keinem Nutzen mehr sind, es aber sicherlich seinen Vorfahren waren. Was die geistigen Fähigkeiten der Vögel anlangt, so spricht ihnen Darwin zwar nur wenig Verstand zu, aber um so mehr Gefühl und Leidenschaft, was sicherlich vollkommen richtig ist. Er betont, daß sie Gedächtnis und Anhänglichkeit, eine Idee von Eigentum und Besitz, scharfe Beobachtungsgabe und einen überraschend hoch entwickelten Geschmack für das Schöne in Form, Farbe und Ton besitzen. Sie sind ihm die ästhetischsten Tiere, zumal ihre Geschmacksrichtung vielfach derjenigen des Menschen parallel läuft. Gerade das Liebesleben der Vögel lieferte Darwin die schlagendsten Beispiele für seine geschlechtliche Zuchtwahl, und deshalb hat er auch den Gesang, die Balzspiele, die Instrumentalmusik, die Befiederung, die Zweikämpfe und das Brutgeschäft der in dieser Beziehung besonders interessanten Arten sorgfältig berücksichtigt und zum Teil sehr eingehend geschildert. Von welch liebevoller Vertiefung in den Gegenstand, von welch mühseliger Kleinarbeit, von welch erschöpfender Gründlichkeit zeugt z. B. der Abschnitt über die wundervollen Kugelflecke im Gefieder des Argusfasans! Und es zeigte sich, daß auch die urwüchsigsten und scheinbar unveränderlichsten Instinkte von der natürlichen Zuchtwahl beeinflußt werden, wie Darwin am Beispiel des Kuckucks nachwies, dessen allmählich entstandenen Brutparasitismus er auf dem Umwege über die amerikanischen Viehstare stufenweise aufklären konnte. Unter diesem Gesichtspunkte erscheint auch die bekannte Beobachtung der Gebrüder Müller von einem gelegentlichen Selbstbrüten des Kuckucks nicht mehr so unglaublich, wie sie in geradezu beleidigender Form von unseren Zunftornithologen hingestellt worden ist. Um so größeres Interesse beansprucht aber unter diesen Umständen des allzu früh verstorbenen Leverkühn bienenfleißige Studie über »Fremde Eier im Nest«. Etwas stiefmütterlich behandelt worden ist die Vogelwelt eigentlich nur in dem Buche über den Ausdruck der Gemütsbewegungen, wo außer dem Klappern der Störche bei freudiger Aufregung, dem Sträuben des Gefieders bei Zorn und seinem knappen Anliegen bei Furcht nur das Zischen vieler Nestjungen bei Schreck erwähnt wird. Hier hat die moderne Forschung noch ein großes und ergiebiges Arbeitsfeld vor sich, denn die Momentphotographie hat uns gelehrt, daß auch die dem flüchtigen Beobachter starr und unbeweglich erscheinenden Gesichtszüge des Vogels in nicht zu verkennender Weise seinen jeweiligen Gemütszustand widerspiegeln.

Die bis dahin recht isoliert in der Luft schwebende Ornithologie, die die Verbindung mit den benachbarten Wissenszweigen fast völlig verloren hatte, ist erst durch Darwins Untersuchungen wieder zu diesen in nähere Beziehungen gesetzt worden, denn niemals verlor dieser weitblickende Forscher den engen Zusammenhang aller Organismen und die Innigkeit ihrer wechselseitigen Beziehungen aus den Augen. Dafür zeugen u. a. seine fleißigen und grundlegenden Studien über die Verbreitung von Pflanzen durch Vögel, die er durch eine überraschende Fülle hochinteressanter Beispiele zu erhärten weiß. Auch das Brutgeschäft der Vögel ist nach den verschiedensten Seiten hin auf das gründlichste von ihm beleuchtet worden. So behandelte er namentlich das Werben der Männchen, die Wahlfähigkeit der Weibchen, die Abhängigkeit der Eierzahl von den Nahrungsverhältnissen und die Abhängigkeit des weiblichen Gefieders vom Standort des Nestes. Das Kapitel über die Schutzfarben bildet noch heute einen vielumstrittenen Gegenstand unter den Vogelkundigen.

siehe Bildunterschrift

Abb. 2. Felsentaube (Columba livia).
Diese an den Felsküsten Nordeuropas und der Mittelmeerländer heimische Wildtaube ist von Darwin als die Stammutter aller unserer so verschiedenartigen Haustaubenrassen erkannt.

Hat schon die ornithologische Wissenschaft aus der gewaltigen Lebensarbeit des britischen Geisteshelden hohen Gewinn gezogen, so fast noch mehr die praktische Tierzucht. Für den Geflügelzüchter insbesondere muß Darwins mit fast pedantischer Genauigkeit geschriebenes Werk über das Variieren im Zustande der Domestikation geradezu als eine Art Evangelium bezeichnet werden. Was kann er nicht alles daraus lernen! Welchen Aufschwung hat nicht seitdem auf Grund der Darwinschen Forschungen die Rassezucht genommen! Kann es aber auch etwas Schöneres, Gediegeneres, Gewissenhafteres geben als z. B. Darwins Forschungen über die Taubenrassen? Wie geistvoll und scharfsinnig führt er da aus, daß alle 150 von ihm gekannten Taubenrassen allein die wilde Felsentaube (Abb. 2) zur Stammmutter haben müssen! Die Natur liefert die Abänderungen, anfangs nur Monstrositäten, und der Mensch sammelt und summiert sie in der ihm vorteilhaft erscheinenden Richtung (Abb. 3), während andererseits manche den Wildlingen notwendige Organe durch Nichtgebrauch verkümmern, selbst fest eingeprägte Instinkte, so daß z. B. die Kücken der Haushühner keine Furcht vor Hunden mehr haben. Andererseits können ganz neue Instinkte durch zielbewußte Zucht eingepflanzt werden, wie z. B. das Sichüberschlagen der Purzeltauben in hoher Luft. Der Züchter wird vertraut gemacht mit dem Gesetze der Korrelation, wonach die Abänderung eines Körperteiles auch die eines anderen nach sich zieht, so daß er bei künstlicher Zucht außer mit den gewollten Wirkungen immer auch noch mit davon abhängigen unbeabsichtigten zu rechnen hat. So pflegt das Längerwerden der Beine auch eine größere Streckung des Schädels und einen verlängerten Schnabel nach sich zu ziehen, und das Auftreten von Federfüßen ist fast regelmäßig mit dem einer Spannhaut zwischen den äußeren Zehen verbunden. Gewisse Grenzen sind aber dem Variieren immer gezogen. Auch bei der kurzschnäbeligsten Purzeltaube darf der Schnabel nicht so kurz werden, daß der ausschlüpfende Embryo damit nicht mehr die Eischale durchbrechen könnte. Junge Tauben verschiedener Rassen sind sich viel ähnlicher als alte, was ja auch auf eine gemeinsame Abstammung schließen läßt. Das sich wie ein roter Faden durch die ganze Schöpfung ziehende Sparsamkeitsgesetz der Natur verdient gleichfalls die Beachtung des Züchters, da z. B. großhaubige Hühner nicht zugleich auch stark entwickelte Kämme bekommen können. Über das Auftreten von Rückschlägen kann er sich auch aus Darwins Werke Rat holen. Welches Entsetzen herrscht z. B. in Züchterkreisen, wenn plötzlich ein Huhn mit ausgeprägten Hahnenspornen erscheint! Man hat eben vergessen, daß es noch zu Bechsteins († 1822) Zeiten in Deutschland eine besondere Hühnerrasse gab, bei der auch die Hennen Sporen trugen, die aber wieder ausgemerzt wurde, weil dieser Schmuck sich beim Brutgeschäfte höchst unpraktisch, ja für das Gelege gefährlich erwies. Werden aus diesem Grunde die Weibchen ja vielfach auch im Freien durch natürliche Zuchtwahl von dem Erlangen spezifisch männlicher Eigenschaften (z. B. wallende Federn und glänzende Farben) ausgeschlossen.

siehe Bildunterschrift

Engl. Barbtaube. Carrier. Engl. Kropftaube. Engl. Pfauentaube. Blaue Smyrna-Blondinette. Kurzstirnige Purzeltaube.
Abb. 3. Einige der vielen Nachkömmlinge der Felsentaube, als Beweis für die durch veränderte Lebensbedingungen zu erzielende Mannigfaltigkeit der Arten, die aus einer einzigen Stammform hervorzugehen vermögen.

Eine Fülle ornithologischer Detailfragen hat Darwin aufgeworfen oder flüchtig gestreift, die, hochinteressant an sich, doch von der Ornithologie unserer Zeit nicht aufgegriffen worden sind und noch der Erledigung harren. Wir könnten dem großen Toten gewiß keine bessere, mehr seinem schlichten Gelehrtensinne entsprechende Ehrung erweisen, als wenn wir diese wertvolle Erbschaft endlich einer planmäßigen Bearbeitung zuführen würden. Ich will nur einiges Wenige aufzählen: Ist die Augenfarbe gewisser Arten geschlechtlich verschieden? Haben die Geier den kahlen Kopf und Hals durch Anpassung an ihre widerlichen Leichenschmäuse erhalten, oder ist die Kahlheit zurückzuführen auf den direkten Einfluß faulender Stoffe? Ist es richtig, daß die Vogelweibchen besonders geartete Männchen vorziehen, daß Albinovögel deshalb nicht zur Fortpflanzung gelangen, weil sie von ihren Artgenossen verschmäht werden, daß die Männchen mancher Arten (Moschusente) zur Anlockung der Weibchen einen bestimmten Geruch ausströmen? Kommt einfache und doppelte Mauser innerhalb derselben Gattung (z. B. bei Piepern) vor? Ist der Schnabel beim männlichen Stieglitz wirklich größer als beim weiblichen? Verbindet der Wiedehopf tatsächlich Vokal- mit Instrumentalmusik, indem er erst Luft einzieht, dann mit der Spitze seines Schnabels senkrecht gegen einen Stein oder Baumstamm schlägt, worauf die durch den röhrenförmigen Schnabel abwärts gestoßene Luft den richtigen Laut hervorbringt? Ist die Unverträglichkeit mancher Vögel vielleicht darauf zurückzuführen, daß sie ihre eigene Schmuckfarbe bei anderen nicht leiden mögen? Wäre die gewissenhafte Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen nicht doch vielleicht interessanter und wissenschaftlich wertvoller, als sich endlos darüber herumzustreiten, ob diesem oder jenem Vogelnamen die Priorität gebührt? Wäre sie nicht des »Schweißes der Edlen« wert? Ob sie aber so bald erfolgen wird – der Kenner der Verhältnisse der ornithologischen Gegenwart wird es bezweifeln. Aber wer es mit der ornithologischen Forschung gut und ehrlich meint, der wird ihr gewiß mit mir in diesem Sinne zurufen: Zurück zum Meister Darwin! Denn dieses Zurück bedeutet ein Vorwärts.


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