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In uralter Zeit lebte einmal ein junger Bauer, der den Vater schon in der Jugend verloren hatte. Deshalb führte er seine Frau hin zu seiner Mutter, daß sie sie pflege, und war in allen Dingen so gehorsam und freundlich, wie man es selten finden mag. Seine Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit waren so groß, daß er jedem Armen oder Alten, dessen er ansichtig wurde, gerne half, ob er selbst auch nicht viel mehr als seine vier Wände im Hause hatte. Eines Tages nun kam ein Mönch daher und bat um ein Almosen. »Wenn Ihr hungrig seid,« sagte der junge Bauer, »im Hause ist noch etwas übriggebliebene Speise, eßt Euch einmal satt daran!« »Ich möchte nichts anderes essen«, erwiderte der Mönch, »als den Hahn, den Ihr in Eurer Steige habt. Er ist so bunt und glänzend und erregt das Verlangen. Wollt Ihr mir diesen schenken, daß ich meinen Magen an ihm ersättige?« »Wenn Ihr es durchaus wünscht,« sagte der Bauer, »warum sollte ich nicht?«, nahm sogleich den Hahn aus der Steige und gab ihn dem Mönche. Kaum hatte dieser ihn ergriffen, so zerriß er ihn und aß ihn sogleich, so daß in kurzem kein Federchen noch Knochen davon übrig war. Als der Mönch dann fertig gegessen hatte, machte er sich wieder auf den Weg.
Als der Bauer am nächsten Morgen erwachte, hörte er das Krähen eines Hahns und wunderte sich sehr darüber. Er erhob sich und sah nach, da war der Hahn noch in der Steige. Sogleich ahnte ihm, daß der Mönch kein gewöhnlicher Mann gewesen und die Lehre der Gottmenschen besitzen müsse. Da wollte auch er sie erlernen und nahm Abschied von Mutter und Frau. Er wanderte durch Gebirge, schritt durch Gewässer, nächtigte unterm Tau und aß vor dem Winde. Überall suchte und forschte er, aber niemand hatte den Mönch, den er beschrieb, gesehen. Nach einem Monat war sein Reisegeld verbraucht, sein Kleid zerrissen und seine Schuhe durchlöchert. Bettelnd ging er weiter, ohne zu klagen. Wieder war etwa ein Monat vorübergegangen, als er in ein Dorf kam und eben betteln wollte. Plötzlich rief eine Stimme ihm zu: »Seid Ihr nicht der junge Bauer aus jenem Lande? Warum seid Ihr so elend geworden?« Der Jüngling sah dem Sprecher ins Gesicht, da war es der Mönch, den er suchte. Sogleich erzählte er ihm alles, aber der Mönch sprach: »Ihr habt Mutter und Weib zu Hause, wie ertragt Ihr's, sie zurückzulassen, um ein Gottmensch zu werden?« »Auf Erden,« erwiderte der Jüngling, »gibt es kein ewiges Zusammensein. Ob hundert Jahre oder ein Tag – in der Stunde des Abschieds ist es gleich schwer. Wenn Ihr mich nicht gering schätzt, so möchte ich Euch den Sack tragen und mit Euch gehen. Ich werde es bis zu meinem Tode nicht bereuen.« »Es sei!« sagte der Mönch und übergab ihm sogleich seinen tuchenen Sack. So folgte ihm der Jüngling auf Schritt und Tritt, auf ihrem Wege trafen sie nur selten eines Menschen Spur. Sie gruben nach Kräutern zum Essen und schöpften ihren Trunk mit der Hand. Hungernd und dürstend wanderten sie wohl ein halbes Jahr, bis sie endlich an ein Gebirge kamen. Dieses war mehrere tausend Djang hoch, die Bäume darauf berührten beinahe den Himmel. Gräser bedeckten den Boden, Felsen standen steif wie Wände, Wasserfälle blinkten weiß wie Schnee. Kein Mensch hatte je diese Gegend betreten. Als sie in das Gebirge stiegen, hörte er, wie die Bäume sausten. Vögel flogen und Löwen und Tiger brüllten und mischten ihre Stimmen furchterregend in die vielerlei Laute der Einsamkeit. Der Jüngling aber, entschlossen, ein Gottmensch zu werden, fürchtete sich nicht und wanderte immer mit weiter. Wieder vergingen einige Tage, da waren sie endlich inmitten des Gebirges und schritten auf ein Tal zu. Da erblickte der Jüngling eine aus Gras geflochtene Hütte, die aus drei Räumen bestand. Ringsum war Bambus gepflanzt und ein kleines Bächlein floß vor der Hütte, dessen klares Wasser unaufhörlich dahinrann. Als sie bis an die Tür gelangt waren, öffnete der Mönch und trat ein. Auch der Jüngling folgte, aber die Tür dünkte ihn so klein wie die einer Hundehütte und schien für einen Menschen keinesfalls groß genug. Jedoch als er eintrat, ging er hindurch, ohne sich zu zwängen. In der Hütte selbst gab es nur wenige Gegenstände, außer einem von Lehm gemachten Herd und einem Strohlager war nichts darin als einige Lappen, Besen und ein Feuerhaken.
»Wir sind den ganzen Weg durch Wind und Reif gegangen«, sprach der Mönch zu dem Jüngling, »und sind durch die unbewohnte Gegend gekommen, ohne ein einziges Mal satt zu werden. Im Kruge ist noch etwas übriggebliebener Reis, nimm einige Körner davon und koche sie zur Abendmahlzeit!« Der Jüngling nahm den Reis heraus und sah den Topf nicht größer als einen Löffel. Er dachte nur, wie können zwei Menschen von einigen Körnern Reis satt bekommen? Doch hatte der Mönch es so befohlen, und er traute sich nicht, weiter zu fragen. Als der Reis nun gar gekocht war, aß er mit dem Mönche so lange davon, bis sie völlig gesättigt waren, und ohne daß der Reis auch nur um ein Geringes weniger geworden. Von nun an war seine Beschäftigung, zu kochen und zu fegen, Tag für Tag immer das gleiche.
So vergingen einige Monate, da sagte der Mönch eines Tages: »Etwas gegen Westen befindet sich ein Hügel, darauf liegen viele gestürzte Bäume. Man könnte sie zusammenschlagen, damit wir Heizung für den Winter gewinnen. Geh morgen früh dahin, vergiß es aber nicht!« Als der Morgen gekommen war, nahm der Jüngling sein Gerät und begab sich fort, bis er auf den Hügel gelangte. Da sah er mit einemmal ein liebliches Mädchen auf einem Steine sitzen, schön wie die Blumen und der Herbstmond, bunt und edel gekleidet, so daß man über ihren Anblick von Sinnen werden konnte. Aber der Jüngling begehrte nichts, als ein Gottmensch zu werden, sah sie gar nicht an und sprach kein Wort mit ihr. Da hub das Mädchen ihre Augen, langsam wie die Welle im Herbst, und sprach zu ihm: »Ich bin allein hier im tiefen Gebirge, Wölfe und Tiger machen mir Angst. Erbarmt Euch über mich und nehmt mich zu Euch, so will ich Eure Dienerin sein beim Kämmen und Waschen.« »Ich habe die Meinen verlassen,« antwortete der Jüngling, »um die Lehre der Gottmenschen zu erlernen. Soll ich noch einmal ein Weib zu mir nehmen und ihre Last tragen auf meinem geistigen Wege?« Das Mädchen hielt die Tränen in den Augen zurück: »Ihr seid doch ein mitleidiger und barmherziger Mensch,« sprach sie, »wollt Ihr dulden, daß ich den wilden Tieren zum Fraße diene? Hundert Jahre lebt der Mensch wie eine Stunde, er freue sich, wenn es ihm vergönnt ist, und ergötze sich an der Lust! Was soll ihm die Lehre der Gottmenschen? Warum sollte er sich der Leidenschaften und der Liebe abtun und sein Leben in Kummer und Schmerzen dahinbringen?« Da entgegnete der Jüngling: »Die Freude der gewöhnlichen Menschen ist die Freude des Leibes, die Freude der Gottmenschen aber ist die Freude der Seele. Die Freude des Leibes schwindet dahin mit dem Tode, aber die Freude der Seele wird zehntausend Jahre bestehen. Ich bin entschlossen und kann Euch nicht gewähren.« Das Mädchen sprach ihm noch mit vielerlei zärtlichen Reden zu, doch der Jüngling hörte nicht darauf und entfernte sich.
Er hatte Holz zusammen gesammelt und brachte es mit nach Hause. Der Mönch blieb stumm. Einige Tage später ging er fort, um Heilkräuter zu sammeln, verlor aber unterwegs seinen Haarring. Da befahl er dem Jüngling, den Weg entlang, den er gegangen, nach dem Ringe zu suchen. Der Jüngling suchte und suchte wohl einen halben Tag, ohne eine Spur zu entdecken, da trat plötzlich ein Tiger aus dem dicken Walde hervor, und an seinem Halse hing der Ring. Er wetzte die Zähne und spielte die Tatzen, als bereite er sich zum Fraß. Der Jüngling war heftig erschrocken, aber da er nun einmal den Befehl des Mönches empfangen hatte, wagte er es nicht, unverrichteter Dinge heimzukehren. Mit Todesmut ging er auf den Tiger zu, nahm ihm den Ring vom Halse und kehrte nach Hause.
Da sprach der Mönch: »Nun bist Du wohl schon ein halbes Jahr hier, ohne etwas über die Mittel der Gottmenschen erfahren zu haben. Morgen gedenke ich jemand zu besuchen, inzwischen magst Du ein klein wenig den Nebenraum fegen, damit ich Dich darin, so oft Gelegenheit sich findet, spät und früh belehre.« Tags darauf ging der Mönch fort. Der Jüngling wollte dem Auftrag gemäß das Zimmer säubern: als er aber damit fertig war und das Fenster öffnete, erblickte er draußen sein eigenes Haus. Seine Mutter lag schwer krank im Bett und schrie so schmerzlich, daß man ihr Schreien nicht ertragen konnte. Die Frau, schön und still, aber ein wenig bleich und mager, ging mit gesenktem Haupte, eine Kanne in der Hand, im Hause umher. Da bebte er vor heraufquellendem Weinen und die Tränen rannen ihm über die Wangen. In diesem Augenblicke kam der Mönch zurück und sprach: »Ob Dein Gebein schon ein klein wenig gottmenschlich geworden, von der Verwandtenliebe kannst Du nicht lassen und wirst so lange vergeblich die Wege der Gottmenschen suchen.« »Längst schon wollte ich Euch fragen,« erwiderte der Jüngling, »doch wagte ich es nicht. Schon so lange bin ich hier, doch habe ich nichts getan, als Euch den Haushalt führen. Wenn Ihr mich zum Gottmenschen machen wollt, warum lasset Ihr mich nicht einiges über die Lehre der Gottmenschen erfahren?« »Noch ist die Zeit nicht da,« sagte der Mönch, »noch etwas habe ich Dir aufzutragen. Bist Du imstande, es zu vollführen, so sollst Du unter die Gottmenschen eingehen.« »Sprecht ruhig!« antwortete jener, »um ein Gottmensch zu werden, will ich mich nicht weigern, in siedendem Wasser zu baden oder in die Flammen zu springen.« Da nahm der Mönch ein Schwert zur Hand, reichte es ihm und sprach: »Nimm dies, ziehe damit nach Deiner Heimat und töte noch diese Nacht Deine Mutter und Dein Weib! Zum Zeichen sollst Du dann das Schwert vor die Türe hängen, sobald es abgetan ist!« »Ich will es tun,« entgegnete der Jüngling, »aber nach meiner Heimat ist es mehr denn zehntausend Meilen. Wie könnte ich es heute schon vollbringen!« Da nahm der Mönch einen Stab zur Hand, reichte ihn ihm und sagte: »Dieser Stab soll Dir als Fahrzeug dienen. Nur schließe die Augen, während Du fährst, bis der Stab sich zur Erde senkt. Dann öffne sie wieder, und tue ebenso auf der Heimkehr!«
Da nahm der Jüngling das Schwert, schloß die Augen und setzte sich rittlings auf den Stab. Plötzlich flog dieser von selber hoch, er fühlte nur noch den Wind um seine Ohren sausen. Nicht lange, so senkte sich der Stab wieder mit ihm hinab. Er öffnete die Augen und schon stand sein Haus dicht vor seinem Blick. Als er leise die Tür auftat und hineinging, war es Mitternacht. Er ging zuerst nach seinem Zimmer, auf Zehen schleichend, bis vor das Bett. Im Dunkeln tastete er und suchte das Haupt seiner Frau. Als er es unter den Händen fühlte, wandte er sein Gesicht und biß die Zähne aufeinander. Dann hieb er mit Todeskraft der Frau das Haupt vom Rumpfe. Darauf ging er in das Zimmer seiner Mutter und tat ebenso. Als es vollbracht war, troff seine Stirn von Schweiß. Mit großen Schritten ging er hinaus, hängte das Schwert vor die Tür und ritt, nachdem er die Augen geschlossen, auf dem Stabe eilends durch die Lüfte davon.
Am andern Morgen erwachten die beiden Frauen aus dem Schlafe und die Schwiegertochter sprach zu ihrer Mutter: »Heute nacht träumte mir, Dein Sohn sei gekommen.« »Mir träumte das gleiche«, erwiderte die Mutter. Sie standen auf und fanden in jedem Bette einen kopfgroßen Klumpen Gold, sahen einander an und erbleichten, denn sie wußten nicht, wie dies sich zugetragen. Als sie aber die Tür öffneten, fanden sie den Jüngling am Türhaken erhängt. Nun dachten sie, er habe vielleicht ein Verbrechen begangen und sich aus Furcht aufgehängt. Sie weinten und wehklagten, kauften einen Sarg und ließen ihn sogleich begraben. Da sie aber das Gold besaßen, vermochten sie ohne Sorge zu leben.
Als der Jüngling sich mit dem Stabe zur Erde gesenkt und die Augen geöffnet hatte, befand er sich wieder auf dem Gebirge, wo er zuvor gewesen. Nur die Hütte sah er nicht mehr und auch der Mönch war verschwunden. Aber das Schwert, das er gebraucht, lag auf der Erde, man konnte noch die frischen Blutspuren daran erkennen. Eben stand er noch in Schrecken und Verwunderung, da vernahm er plötzlich das Gebrüll wilder Tiere in der Nähe. Er ging hin und sah nun, daß vier oder fünf Bestien sich dort befanden und an seinem eigenen Leichnam fraßen. Da wurde ihm klar, daß er bereits unter die Gottmenschen eingegangen. Plötzlich unterschied er nichts mehr von dem, was um ihn war, nicht Gebirg noch Meer, weder Pflanzen noch Getier. In den Lüften schwebend, glitt er hin und wieder über Himmel und Erde, leicht und frei wie Nebel und Wolken.