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Hiang Kao aus Tai Yüan, mit dem Ehrennamen Tsu Tan, und dessen Halbbruder Tsing waren einander in unverbrüchlicher Liebe ergeben. Da verliebte sich Tsing mit solcher Glut in ein käufliches Mädchen, namens Pe Si, daß er geschworen haben würde, sich um sie das Fleisch aus dem Arme schneiden zu lassen. Weil aber die Mutter, bei der Pe Si sich aufhielt, einen zu hohen Preis verlangte, blieb sein Wunsch, das Mädchen zu kaufen, unerfüllt. Nun wollte es der Zufall, daß die Mutter, des sittenlosen Lebens satt, sich in ein bürgerliches Dasein zurückziehen und zu diesem Zwecke vorerst Pe Si aus dem Hause haben wollte. Da war nun ein Junker, Tsuang mit Namen, der Pe Si seit langem liebte, dem bot sie das Mädchen um Geld zur Nebenfrau an. Pe Si aber sprach zu der Mutter: »Wenn wir zusammen dieses Haus verließen, so wäre es mir nicht anders, als ob wir aus dem irdischen Kerker in den Palast des Himmels hinaufstiegen. Wenn ich aber eines Mannes Nebenfrau sein soll, wo liegt da der Unterschied? Willst Du tun, was ich begehre, so gib mich dem Jüngling Hiang.« Die Mutter war es zufrieden und ließ Tsing ihre Absicht mitteilen. Dieser hatte gerade seine Frau verloren und noch nicht wieder geheiratet. So freute er sich denn, gab alles dahin, was er besaß, und nahm Pe Si in sein Haus. Als Tsuang davon vernahm, wurde er zornig über Tsing, daß dieser ihm die Geliebte weggenommen hatte. Zufällig begegnete er ihm unterwegs und stellte ihn fluchend zur Rede. Tsing widersprach, da befahl er seinem Geleit, Baumzweige zu brechen und Tsing zu schlagen. Tsing fiel bewußtlos zu Boden, dann entfernte sich Tsuang. Als Tsings Stiefbruder Kao dies hörte, lief er an die Stelle, um nachzusehen, aber sein Bruder war schon tot. Da konnte er sich des Schmerzes und der Wut nicht ersättigen, setzte eine Klage auf und ging damit vor den Richter. Tsuang aber hatte bereits allerseits Bestechungsgelder bezahlt, so daß Kao sein Recht nicht bekommen konnte. Da erfüllte geheimer Zorn seine Brust, er mochte ihn nicht klagen noch aussprechen. Sein einziger Gedanke war, wie er Tsuang am Wege ermorden möchte. So nahm er denn jeden Tag einen scharfen Dolch zu sich und verbarg sich in den Büschen des Bergwegs. Aber allmählich kam auf, was er beabsichtigte, und Tsuang erhielt Kenntnis von seinem geheimen Plan. Wenn er nun ausging, ließ er sich stets auf das schärfste bewachen. Zudem vernahm er von einem gewissen Tsiao Tung, der im Bezirke Fen lebte, einem tapferen und schießkundigen Manne: diesen dingte er sich um teures Geld und ließ sich von ihm begleiten. So vermochte Kao seine Absicht nicht auszuführen, doch lag er immer noch auf der Lauer, Tag um Tag.
Einmal nun, im Hochsommer, ergoß sich plötzlich ein so heftiger Regen, daß alles rings umher und oben und unten in Wasser schwamm. Kao fror und zitterte gar kläglich, da kam unter prasselnden Hagelschauern aus allen vier Himmelsrichtungen ein beißender Wind daher. Der Körper begann ihn zu schmerzen und von der Nässe zu jucken, er fühlte seine Glieder nicht mehr. Auf dem Gebirgsgipfel stand von altersher eine Kapelle des Berggottes, dorthin gedachte er in seiner Not zu flüchten. Als er in die Kapelle hineintrat, fand er daselbst einen Priester, der ihm schon bekannt war. Er hatte früher oft im Dorfe gebettelt und Kao ihn stets gespeist. Darum kannte er nun auch Kao. Als er sah, daß Kao's Kleider gänzlich durchnäßt waren, nahm er seinen tuchenen Mantel und gab ihn ihm. »Nehmt diesen einstweilen um«, sagte er. Kao schlug sich den Mantel um die Schultern, litt Frost und saß wie ein Hund. Plötzlich gewahrte er, wie Haare aus seiner Haut wuchsen und sein Körper sich in einen Tiger verwandelte. Der Priester aber war verschwunden.
Ein Schrecken faßte Kao, ihn reute die Wandlung. Doch dachte er nun: Bekomme ich jetzt den Feind, so fresse ich sein Fleisch. Der Plan dünkte ihn gut, rasch eilte er hinab an den Ort, wo er sich früher versteckt gehalten hatte. Da sah er, daß sein Leichnam dort unter den dichten Gebüschen lag. Er glaubte nun, sein Leib sei gestorben, doch fürchtete er, Falken und Raben möchten ihn bestatten. So blieb er an dem Ort und bewachte den Leichnam Tag und Nacht.
Es war tags darauf, da kam Tsuang gerade dort des Weges vorüber. Plötzlich setzte der Tiger aus dem Gebüsch, zerrte Tsuang vom Rosse, biß ihm den Kopf ab und verschlang ihn. Tsiao Tung wandte um und schoß. Er traf den Leib des Tigers, der sogleich tot zu Boden fiel. In diesem Augenblicke war es Kao unter dem Gebüsch, als ob er aus einem Traum erwache. Noch eine Nacht, so vermochte er wieder zu gehen. Mühsam begab er sich nach Hause.
Weil er einige Nächte nicht zurückgekommen war, fand er gerade alle seine Angehörigen in Jammer und Verzweiflung. Als sie ihn erblickten, freuten sie sich und fragten getröstet, wo er gewesen? Aber Kao lag nur da, seine Zunge war schwer und konnte nicht sprechen. Nach einiger Zeit vernahm man, was mit Tsuang geschehen war. Da kamen sie gedrängt an Kao's Bett und brachten ihm freudestrahlend die Kunde. Da sprach Kao: »Der Tiger bin ich selbst.« Dann erzählte er die ganze Wundergeschichte, die sich bald überall verbreitete. Zwar versuchte Tsuangs Sohn, den der Tod seines Vaters bitter schmerzte, Kao zu verklagen, doch hielt der Richter die Sache für zu märchenhaft und unbeweisbar und wies die Klage zurück.
Möge jeder ein Tiger werden, dem Unrecht geschah! spricht der Dichter.