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11. – Sonntag (Nationalfest).
Wir sind auf den Castello-Platz gegangen, um die Musterung der Soldaten zu sehen, welche vor dem Kommandanten des Armeecorps inmitten einer großen Volksmenge vorbeimarschierten. Nach und nach, wie sie unter dem Spiele der Musik vorbeizogen, bezeichnete mir mein Vater die Corps und den Ruhm der Fahnen. Zuerst passierten die Schüler der Akademie, welche sich zu Offizieren des Genies und der Artillerie ausbilden, ungefähr dreihundert, schwarz gekleidet, mit jener kühnen und freien Eleganz, welche an Soldaten und Studenten zu sehen ist … Nach ihnen zog die Infanterie vorbei: die Brigade Aosta, die bei Goito und San Martino kämpfte, die Brigade Bergamo, die bei Castelfidardo stritt, vier Regimenter, Kompagnie hinter Kompagnie, Tausende von Pompons, welche aussahen wie viele blutrote, an beiden Enden gehaltene, schwankende Guirlanden die man durch die Menge trüge. Nach der Infanterie kamen die Geniesoldaten, die Arbeiter des Krieges, mit schwarzen Federbüschen und roten Tressen, und während sie vorbeigingen, sah man hinter ihnen Hunderte von langen, geraden Federn vorwärtskommen, welche die Köpfe der Zuschauer weit überragten: es waren die Alpenjäger, die Verteidiger der Thore Italiens, alle groß, blühend und stark, sie trugen kalabresische Hüte und Abzeichen in schönem, lebhaftem Grün, in der Farbe der Kräuter ihrer Berge. Noch zogen die Alpenjäger vorbei, als ein Brausen durch die Menge lief, und die Bersaglieri (Scharfschützen), das alte zwölfte Bataillon, die ersten, welche in Rom durch die Bresche der Porta Pia eindrangen, braun, behend, lebhaft, mit flatternden Federbüschen, wie die Woge eines schwarzen Stromes vorbeimarschierten. Sie erfüllten den Platz mit ihren lauten freudigen Trompetenklängen. Aber ihr Spiel wurde übertönt von einem dumpfen Getöse, das die Feldartillerie ankündigte; und nun passierten, stolz auf den hohen, von dreihundert ungestümen Pferdepaaren gezogenen Caissons sitzend, die schönen Soldaten mit den gelben Schnüren, und die langen Kanonen von Bronce und Stahl glänzten auf ihren leichten Laffetten; sie sprangen und tönten, daß die Erde zitterte. Und dann kam langsam, schwer, schön in ihrem ernsten, rauhen Anblick, mit den großen Soldaten und kräftigen Maultieren die Bergartillerie heran, die Schrecken und Tod hinaufträgt, so weit der Fuß des Menschen steigt. Und endlich passierte im Galopp, mit in der Sonne blinkenden Helmen, aufgerichteten Lanzen und flatternden Fähnchen, schimmernd von Silber und Gold und die Luft mit Geklingel und Wiehern erfüllend, das schöne Regiment Genova cavalleria, das auf zehn Schlachtfeldern von Santa Lucia bis Villafranca stürmte. – O wie schön! – rief ich aus. Aber mein Vater machte mir fast einen Vorwurf wegen dieser Worte und sagte zu mir: – Betrachte das Heer nicht als ein schönes Schauspiel. Alle diese Jünglinge voll Kraft und Hoffnung können von einem Tage zum andern gerufen werden, unser Land zu verteidigen, und in wenig Stunden von Kugeln und Kartätschen zerschmettert fallen. Jedesmal, wenn du bei einem Feste rufen hörst: Es lebe das Heer, es lebe Italien, stelle dir, weit weg von den Regimentern, welche vorbeiziehen, ein Feld mit Leichnamen bedeckt und mit Blut getränkt vor, und alsdann wird der Hochruf aus tiefstem Herzen kommen und das Bild Italiens wird dir ernster und größer erscheinen.
14. – Dienstag.
Bringe dem Vaterland an seinen Festtagen diesen Gruss: – Italien, mein Heimatland, edles und liebes Land, wo mein Vater und meine Mutter geboren wurden und begraben sein werden, wo ich zu leben und zu sterben hoffe, wo meine Söhne aufwachsen und sterben werden; schönes Italien, gross und glorreich seit vielen Jahrhunderten, einig und frei seit wenig Jahren; welches so viel lichtvolle, göttliche Schönheit über die Welt verbreitet, und für welches so viele Tapfere auf den Schlachtfeldern und so viele Helden auf dem Richtplatze starben; erhabene Mutter von dreihundert Städten und dreissig Millionen Söhnen; ich, ein Kind, das dich noch nicht ganz versteht und kennt, ich verehre und liebe dich mit ganzer Seele, und bin stolz von dir geboren zu sein und mich deinen Sohn zu heissen. – Ich liebe deine prächtigen Meere und deine erhabenen Alpen, ich liebe deine feierlichen Denkmäler und deine unsterblichen Erinnerungen, ich liebe deinen Ruhm und deine Schönheit; ich verehre und liebe dich als grosses ganzes Land ebenso sehr wie jenen kleinen Teil von dir, wo ich zum erstenmal die Sonne sah und deinen Namen hörte. Tapferes Turin, stolzes Genua, gelehrtes Bologna, bezauberndes Venedig, mächtiges Mailand, liebliches Florenz, majestätisches Palermo, grosses und schönes Neapel, wunderbare, ewige Roma, ich liebe euch alle, alle mit gleicher kindlicher Liebe, ich habe für euch alle die gleiche Dankbarkeit, die gleiche Verehrung. Ich liebe dich, heiliges Vaterland! Und ich schwöre dir, dass ich alle deine Söhne wie Brüder lieben, dass ich deine grossen Lebenden und deine grossen Toten immer in meinem Herzen verehren werde, dass ich mich bestreben werde, ein thätiger und guter Bürger zu werden, der stets sucht, sich zu veredeln, um sich deiner würdig zu machen, um mit seinen kleinen Kräften zu helfen, damit eines Tages von deiner Oberfläche das Elend, die Unwissenheit, die Ungerechtigkeit, das Verbrechen verschwinden mögen, und du ruhig leben und dich ausbreiten könnest, in der Majestät deines Rechtes und deiner Kraft. Ich schwöre dir, dass ich dir dienen werde, je nachdem es mir beschieden sein wird, mit dem Geiste, dem Arm, dem Herzen, demütig und kühn; und dass, wenn der Tag kommt, an dem ich mein Blut und mein Leben für dich geben soll, ich es geben und sterben werde, indem ich deinen heiligen Namen zum Himmel rufe und meinen letzten Gruss deiner geweihten Fahne schicke.
16. – Freitag.
Während fünf Tagen seit dem Nationalfest ist die Hitze um drei Grad gestiegen. Jetzt sind wir im vollen Sommer, alle beginnen müde zu werden, alles hat die schönen, rosigen Farben des Frühlings verloren, Hals und Beine werden dünner, die Köpfe wackeln hin und her, die Augen schließen sich. Der arme Nelli, der sehr von der Hitze leidet, hat ein Gesicht, weiß wie Wachs, schläft hie und da fest ein, den Kopf auf dem Hefte; aber Garrone ist aufmerksam und pflanzt ein offenes Buch gerade vor ihn hin, damit ihn der Lehrer nicht sehe. Crossi legt seinen roten Kopf auf die Bank, daß man meint, er sei vom Rumpfe abgetrennt und dorthin gelegt. Nobis beklagt sich, wir seien zu viele und verpesten ihm die Luft. Ach! welche Anstrengung muß man jetzt machen um zu lernen! Ich betrachte durch die Fenster des Hauses die schönen Bäume, die einen so dunkeln Schatten werfen, wo ich so gerne herumspringen möchte, und ich werde traurig und zornig, daß ich mich in die Bänke schließen lassen muß. Dann fasse ich wieder Mut, wenn ich meine gute Mutter sehe, die mich, wenn ich aus der Schule komme, immer betrachtet, um zu sehen, ob ich bleich sei; und sie sagt mir bei jeder Seite meiner Arbeit: – Bist du noch wohl? – und jeden Morgen um sechs Uhr, wenn sie mich für die Lektion weckt: – Mut! Es sind nur noch so viele Tage: dann bist du frei und kannst ausruhen, kannst in den Schatten der Alleen gehen. – Ja, sie hat recht, mich an die Knaben zu erinnern, die auf dem Felde oder im weißen Kies der Flüsse arbeiten, geblendet und verbrannt von der stechenden Sonne, und an diejenigen der Glasfabriken, die den ganzen Tag unbeweglich das Gesicht über eine Gasflamme neigen, und die alle früher aufstehen als wir und keine Ferien haben. Mut also! Derossi ist immer der erste von allen, er läßt sich weder von Hitze noch Schlaf bemeistern, immer ist er lebendig, heiter, mit seinen blonden Löckchen, wie er im Winter war, und er lernt ohne Mühe und hält alle um sich munter, als ob er mit seiner Stimme die Luft erfrische. Noch zwei andere sind immer geweckt und aufmerksam: der hartnäckige Kopf von Stardi, der sich in die Lippen beißt, um nicht einzuschlafen, und je müder er wird und je heißer es ist, um so mehr beißt er die Zähne zusammen und sperrt die Augen auf, als ob er den Lehrer aufessen wolle; und dann der Krämer Garoffi, emsig beschäftigt, aus rotem Papier Fächer zu fabrizieren, die er mit Bildchen von Streichholzschächtelchen schmückt und für zwei Centesimi das Stück verkauft. Aber der bravste von allen ist Coretti; der arme Coretti steht um fünf Uhr auf, um seinem Vater Holz tragen zu helfen! Um elf Uhr kann er in der Schule die Augen nicht mehr offen halten und der Kopf fällt ihm auf die Brust. Und nichtsdestoweniger rafft er sich auf, giebt sich mit der Hand Schläge ins Genick, bittet um die Erlaubnis hinausgehen zu dürfen um sich das Gesicht zu waschen, läßt sich von den Nachbarn rütteln und kneipen. Aber trotz allem konnte er sich diesen Morgen nicht mehr halten und fiel in einen bleiernen Schlaf. Der Lehrer rief ihn laut: – Coretti! – Er hörte es nicht! Der Lehrer wiederholte erzürnt: – Coretti! – Nun erhob sich der Sohn des Kohlenhändlers, der in seiner Nähe wohnt, und sagte: – Er hat von fünf bis sieben Uhr gearbeitet, er hat Reisig getragen. – Der Lehrer ließ ihn schlafen und fuhr eine halbe Stunde im Unterricht fort. Dann ging er zur Bank Corettis und weckte ihn leise, leise, indem er ihm ins Gesicht blies. Als er den Lehrer vor sich sah, fuhr er erschrocken zurück. Aber der Lehrer nahm ihm den Kopf zwischen die Hände und indem er ihn auf das Haupt küßte, sagte er: – Ich mache dir keinen Vorwurf, mein Sohn. Dein Schlaf ist nicht der Schlaf der Trägheit; es ist der Schlaf der Arbeit.
17. – Samstag.
Nein gewiss, keiner deiner Kameraden, weder Coretti noch Garrone würden ihrem Vater antworten wie du dem deinigen diesen Abend geantwortet hast. Heinrich! Wie ist es möglich? Du musst mir heilig versprechen, dass dies nie mehr vorkommen soll, so lange ich lebe. Jedesmal, wenn bei einem Vorwurf deines Vaters dir eine ungebührliche Antwort auf die Lippen tritt, so denke an jenen Tag, der unfehlbar kommen wird, wenn er dich an sein Bett rufen wird, um dir zu sagen: – Heinrich, ich verlasse dich. – O mein Sohn, wenn du seine Stimme zum letztenmal hören wirst, und auch lange Zeit hernach, wenn du in seinem verlassenen Zimmer weinen wirst, inmitten aller dieser Bücher, die er nicht mehr öffnen wird, dann wenn du dich erinnerst, ihm hie und da nicht die gebührende Achtung erwiesen zu haben, wirst du dich fragen: – Wie ist es möglich? – Dann wirst du einsehen, dass er immer dein bester Freund gewesen; auch wenn er gezwungen war dich zu strafen, litt er mehr darunter als du, und er hat dich nie weinen gemacht, als um dir Gutes zu erweisen; und alsdann wirst du bereuen, wirst weinend das Pult küssen, an dem er sich für seine Kinder abgearbeitet hat. Jetzt verstehst du ihn nicht: er verbirgt dir sein ganzes Wesen, ausser seiner Güte und seiner Liebe. Du weisst es nicht, dass er hie und da von der Arbeit so erschöpft ist, dass er glaubt, nur noch wenige Tage zu leben, und dass er in diesen Augenblicken nur von dir spricht, keine andere Sorge im Herzen hat als die, dich arm und ohne Schutz zurückzulassen! Und oftmals, wenn er das bedenkt, tritt er in deine Kammer, während du schläfst, und steht da, mit dem Lichte in der Hand, um dich zu betrachten, und dann rafft er sich wieder auf, und müde und traurig wie er ist, kehrt er zur Arbeit zurück! Und du weisst ebenfalls nicht, dass er dich oft aufsucht und bei dir bleibt, weil sein Herz verbittert wurde, weil ihm Unannehmlichkeiten begegneten, von denen kein Mensch auf der Erde unverschont bleibt, und er sucht dich wie einen Freund, um sich zu stärken und zu vergessen; er muss sich zu dir flüchten, um die Heiterkeit und den Mut wieder zu finden. Denke also, welchen Schmerz er empfinden muss, wenn er bei dir anstatt Liebe Kälte und Unehrerbietigkeit findet! Beflecke dich nie mehr mit dieser schrecklichen Undankbarkeit! Denke, dass wenn du auch gut wärest wie ein Heiliger, du ihn nie genug belohnen könntest für das, was er an dir gethan hat und fortwährend thut. Und denke auch: auf das Leben kann man nicht zählen, ein Unglück könnte dir deinen Vater rauben, während du noch ein Knabe bist, in zwei Jahren, in drei Monaten, morgen. O! mein armer Heinrich, wie würde sich dann alles um dich verändern; wie leer, wie trostlos würde dir das Haus mit deiner armen trauernden Mutter erscheinen! Geh, mein Sohn, geh zu deinem Vater; er ist in seinem Zimmer und arbeitet; gehe auf den Fussspitzen, dass er dich nicht eintreten hört, lege deine Stirne auf seine Kniee und sage ihm, er möge dir verzeihen, er solle dich segnen.
Deine Mutter.
19. – Montag.
Mein guter Vater verzieh mir auch dieses Mal und ließ mich an der Landpartie teilnehmen, die wir Mittwochs mit dem Vater Corettis, dem Holzhändler, verabredet hatten. Es that uns allen Not, ein wenig Bergluft zu schnappen. Das war ein Fest! Wir fanden uns gestern um zwei Uhr auf dem Platze Dello Statuto ein: Derossi, Garrone, Garoffi, Precossi, Vater und Sohn Coretti und ich, mit unsern Vorräten von Früchten, Würsten, gesottenen Eiern; wir hatten auch Becher aus Leder und Blech. Garrone trug eine Kürbisflasche mit weißem Weine darin, Coretti die Feldflasche seines Vaters voll roten Weins, und der kleine Precossi mit dem weiten Schmiedehemde trug unter dem Arm ein großes Brot von zwei Kilogramm. Wir fuhren mit dem Omnibus bis Gran Madre di Dio und dann ging es behende die Hügel hinauf. Das war ein Grün, ein Schatten, eine Frische! Wir wälzten uns im Grase, tauchten das Gesicht in die Bächlein und sprangen über die Hecken. Vater Coretti folgte uns in der Ferne, die Jacke auf den Schultern, aus seiner kurzen Pfeife rauchend, und von Zeit zu Zeit drohte er uns mit der Hand, keine Löcher in die Hosen zu machen. Precossi pfiff; ich hatte ihn nie pfeifen hören. Der junge Coretti machte alles mögliche, während er marschirte; er kann alles machen, der Knirps, mit seinem fingerlangen Taschenmesser: Mühlräder, Gabeln, Spritzen; auch wollte er die Sachen der andern tragen, er war beladen, daß der Schweiß von ihm troff; aber immer behend wie ein Reh. Derossi stand jeden Augenblick still, um uns die Namen der Pflanzen und der Insekten zu nennen: ich weiß nicht, wie er es anfängt, daß er so viele Sachen weiß. Und Garrone aß Brot, ganz still; aber er beißt nicht mehr so lustig hinein, wie früher, der arme Garrone, seit er die Mutter verloren hat. Doch ist er immer noch der Gleiche, gut wie das Brot, das er ißt: wenn einer von uns einen Anlauf nahm um über einen Graben zu springen, war er schon auf der andern Seite, um uns die Hände zu reichen; und weil Precossi sich vor den Kühen fürchtet, da er als Kind von einer gestoßen wurde, so stellte sich jedesmal, wenn eine vorüberging, Garrone vor ihn. Wir gingen hinauf bis nach Santa Margherita und dann springend, rollend, purzelnd die Abhänge hinunter. Precossi, der an einem Strauche stolperte, machte sich einen Riß in sein weites Hemd und schämte sich mit den herunterhängenden Fetzen, aber Garoffi, der immer Stecknadeln in der Tasche hat, flickte es so gut, daß man nichts mehr sah, während jener eifrig sagte: – Entschuldige mich, entschuldige mich, – und wieder zu laufen begann. Garoffi verlor seine Zeit nicht unterwegs: er pflückte Kräuter zu einem Salat, sammelte Schnecken, und steckte jeden Stein, der ein wenig glänzte, in die Tasche, da er glaubte es sei Gold oder Silber darin. Und wir liefen, kletterten weiter, im Schatten und in der Sonne, hinauf und hinunter, über Thäler und Höhen, bis wir mit Seitenstechen und außer Atem auf dem Gipfel eines Hügels ankamen, wo wir uns setzten um im Grase Vesper zu halten. Man sah von da eine ungeheure Ebene und alle die blauen Alpen mit den weißen Gipfeln. Wir starben fast vor Hunger und das Brot schien nur so zu verschwinden. Vater Coretti reichte uns die Wurstportionen auf Kürbisblättern. Und dann sprachen wir alle miteinander von den Lehrern, von den Kameraden, die nicht hatten mitkommen können, von dem Examen. Precossi schämte sich ein wenig zu essen, und Garrone stopfte ihm die besten Bissen seines Teiles mit Gewalt in den Mund. Coretti saß mit gekreuzten Beinen neben seinem Vater: sie schienen eher zwei Brüder als Vater und Sohn, so nahe bei einander, beide rot und lächelnd, mit ihren schönen Zähnen. Der Vater trank mit Behagen, leerte auch die Becher und die Gläser, die wir halb voll ließen und sagte: – Euch, die ihr studiert, thut der Wein nicht gut; wir Holzhändler, wir haben ihn nötig! – Dann nahm er seinen Sohn bei der Nase und sagte: – Knaben, habt den da gern, das ist ein Muster von einem Ehrenmanne; ich sage es euch! – Und alle lachten, außer Garrone. Und er fuhr fort, indem er trank: – Es ist schade, ach! – Jetzt seid ihr als brave Kameraden beisammen; und in einigen Jahren, wer weiß, werden Heinrich und Derossi Advokaten oder Professoren oder was weiß ich sein, und ihr andern vier in einem Laden oder bei einem Handwerker oder weiß der Kuckuck wo. Und alsdann gute Nacht Kameradschaft! – Was! – antwortete Derossi, – für mich wird Garrone immer Garrone, Precossi immer Precossi sein, und die andern ebenso, sollte ich auch Kaiser von Rußland werden; wo sie sein werden, da gehe auch ich hin. – Bravo! – rief Vater Coretti aus, die Flasche erhebend, – brav gesprochen, das will ich meinen! Stoßt an! Sie leben hoch, die guten Kameraden, hoch auch die Schule, die euch zu einer Familie macht, die welche Centesimi haben und die welche keine haben! – Wir stießen mit den Bechern und den Gläsern an seine Flasche und tranken zum letztenmal. Und er schrie: – Es lebe das Carré vom neunundvierzigsten, – indem er auf die Füße sprang und den letzten Schluck that; – und wenn auch ihr Carrés bilden müßt, haltet fest wie wir, Knaben! – Es war schon spät, wir stiegen laufend und singend hinunter und gingen eine lange Strecke alle Arm in Arm und kamen am Po an, als es dämmerte und Tausende von Leuchtkäfern herumflogen. Wir trennten uns erst auf dem Platze Dello Statuto, nachdem wir verabredet hatten, uns am Sonntag alle zusammenzufinden um ins Theater Viktor Emanuel zu gehen und die Verteilung der Preise an die Schüler der Abendschulen zu sehen. Welch schöner Tag! Wie wäre ich so vergnügt ins Haus getreten, wenn ich nicht meine arme Lehrerin getroffen hätte! Sie kam von unserer Wohnung her und begegnete mir auf der Treppe; es war fast dunkel und kaum hatte sie mich erkannt, als sie mich bei beiden Händen ergriff und mir ins Ohr sagte: – Addio, Heinrich, vergiß mich nicht! – Ich bemerkte, daß sie weinte. Ich stieg hinauf und sagte zu meiner Mutter: – Ich habe meine Lehrerin getroffen. – Sie muß sich zu Bette legen, – antwortete meine Mutter, welche gerötete Augen hatte. Und dann sagte sie mit großer Traurigkeit, mich fest ansehend: – Deine arme Lehrerin … ist schwer krank.
25. – Sonntag.
Nach unserm Übereinkommen gingen alle mit einander ins Theater Viktor Emanuel, um die Verteilung der Preise an die Handwerker zu sehen. Das Theater war ausgeschmückt wie am 14. März. Diesmal hatten sich aber fast lauter Arbeiterfamilien eingefunden und das Parterre war von den Schülern und Schülerinnen der Singschule eingenommen; sie sangen einen Hymnus auf die in der Krim gefallenen Soldaten, so schön, daß, als sie geendigt hatten, sich alle erhoben und in die Hände klatschten und riefen, und sie mußten ihn noch einmal singen. Gleich darauf begannen die Prämierten bei dem Bürgermeister, dem Präfekt und vielen andern Herren, welche Bücher, Sparkassenbüchlein, Diplome und Medaillen verteilten, vorbei zu marschieren. In einem Winkel des Parterre sah ich das Maurermeisterlein neben seiner Mutter sitzen, und auf einer andern Seite war der Direktor und hinter ihm das rote Haupt meines Lehrers der zweiten Klasse. Zuerst kamen die Schüler der Abendzeichnenschule, Goldschmiede, Graveure, Lithographen und auch Schreiner und Maurer; dann die der Handelsschule; hierauf die der Singschule, unter welchen einige Mädchen, Arbeiterinnen, alle im höchsten Staate, die mit lautem Beifall begrüßt wurden und lachten. Endlich kamen die Schüler der Elementarabendschulen und nun begann es schön zu werden. Von jedem Alter, von allen Handwerken und auf alle Arten gekleidet kamen sie, Männer mit grauen Haaren, Knaben aus Fabriken, Arbeiter mit schwarzen Bärten. Die Kleinsten waren ungezwungen, die Männer ein wenig verwirrt. Die Menge klatschte den ältesten und den jüngsten Beifall. Aber niemand unter den Zuschauern lachte, wie sie es an unserm Feste machten; alle Gesichter waren aufmerksam und ernst. Viele der Prämierten hatten Frau und Kinder im Parterre und es waren Kinder da, welche, wenn sie den Vater auf die Bühne steigen sahen, ihn mit lauter Stimme beim Namen riefen und lächelnd mit der Hand auf ihn zeigten. Es kamen Bauern, Lastträger: diese waren aus der Abteilung Boncompagni. Aus der Schule della Cittadella kam ein Schuhwichser, den mein Vater kannte, und der Präfekt gab ihm ein Diplom. Nach ihm kam ein Mann, groß wie ein Riese, den ich anderswo schon gesehen zu haben glaubte. Es war der Vater des Maurermeisterleins, der den zweiten Preis erhielt! Ich erinnerte mich an damals, als ich ihn in der Dachstube am Bette des kranken Sohnes sah, und meine Augen suchten sofort den Sohn im Parterre: armes Maurermeisterlein! Er betrachtete seinen Vater mit leuchtenden Augen, und um seine Rührung zu verbergen, machte er das Hasenmäulchen. In diesem Augenblick hörte ich einen Beifallsturm, ich sah nach der Bühne: es war ein kleiner Kaminfeger mit gewaschenem Gesichte, aber mit seinen Arbeitskleidern, und der Bürgermeister sprach mit ihm, ihn an einer Hand haltend. Nach dem Kaminfeger kam ein Koch. Dann holte ein Gassenkehrer der Stadt aus der Schule Raineri die Medaille. Ich fühlte, ich weiß nicht was im Herzen, als ich daran dachte, wie viel diese Preise die Arbeiter gekostet hatten, diese immer sorgenvollen Familienväter, wie viele Mühen zu den Anstrengungen der Berufsarbeit hinzukamen, wie viele dem Schlafe, den sie doch so nötig haben, geraubte Stunden, und auch wie viele Anstrengungen des nicht an das Studium gewohnten Geistes und der von der Arbeit schwerfällig gewordenen Hände! Es kam ein Knabe aus einer Werkstatt, und man sah, daß ihm sein Vater für diese Gelegenheit seine Jacke geliehen hatte; die Ärmel schlotterten ihm so sehr, daß er sie auf der Bühne zurückstülpen mußte, um seinen Preis ergreifen zu können; viele lachten, aber das Lachen wurde bald durch das Händeklatschen übertönt. Nachher kam ein Alter mit kahlem Haupte und weißem Barte. Artilleriesoldaten, von jenen, die in unsere Sektion in die Abendschule gingen, kamen an die Reihe; dann Zollwächter, Stadtwächter, solche, die in unserer Schule Wache halten. Endlich sangen die Schüler der Abendschule wieder den Hymnus auf die in der Krim Gefallenen, aber diesmal mit solcher Begeisterung, mit einer solch großen Hingebung, und aufrichtig aus dem Herzen kommend, daß die Menge fast nicht mehr in die Hände klatschte, und alle gerührt, langsam und ohne Lärm zu machen hinausgingen. In wenig Augenblicken war die Straße gedrängt voll. Vor der Thüre des Theaters stand der Kaminfeger mit seinem Preise, einem rot eingebundenen Buche, und rings um ihn Herren, die mit ihm sprachen. Viele grüßten sich von einer Seite der Straße zur andern hinüber, Arbeiter, Knaben, Wachen, Lehrer. Mein Lehrer der zweiten Klasse ging zwischen zwei Artilleriesoldaten hinaus. Und man sah Arbeiterfrauen mit Kindern auf den Armen, welche das Diplom des Vaters in den Händen hielten und den Leuten mit großem Stolze zeigten.
27. – Dienstag.
Während wir im Theater Viktor Emanuel waren, starb meine arme Lehrerin. Sie ist um 2 Uhr gestorben, sieben Tage nachdem sie meine Mutter besucht hatte. Der Direktor kam gestern morgen in die Schule, um uns die Nachricht zu bringen. Er sprach: – diejenigen von euch, welche ihre Schüler waren, wissen, wie gut sie gewesen, wie sie die Knaben liebte: sie war eine Mutter für sie. Nun ist sie nicht mehr. Eine schreckliche Krankheit zehrte an ihr seit langer Zeit. Wenn sie nicht hätte arbeiten müssen, um sich das Brot zu verdienen, hätte sie sich pflegen und vielleicht genesen können; sie hätte sich wenigstens das Leben um einige Monate verlängert, wenn sie die Entlassung genommen hätte. Aber sie wollte bis zum letzten Tage unter ihren Schülern bleiben. Samstag abend, am 17. nahm sie Abschied von ihnen mit der Gewißheit, sie nie mehr zu sehen, gab ihnen noch gute Räte, küßte alle und entfernte sich schluchzend. Jetzt wird sie niemand mehr sehen. Erinnert euch an sie, meine Söhne. – Der kleine Precossi, der in der ersten Klasse ihr Schüler gewesen ist, neigte den Kopf auf die Bank und weinte.
Gestern abend nach der Schule gingen wir alle zum Hause der Toten, um sie in die Kirche zu begleiten. In der Straße stand schon ein Totenwagen mit zwei Pferden, und viele Leute warteten und sprachen mit leiser Stimme. Da war der Direktor, alle Lehrer und Lehrerinnen unserer Schule und auch solche aus andern Abteilungen, wo sie in frühern Jahren unterrichtet hatte; fast alle Kinder ihrer Klasse waren da, von den Müttern, welche die Fackeln trugen, an der Hand geführt; sehr viele aus andern Klassen und etwa fünfzig Schülerinnen aus der Abteilung Baretti, die einen mit einem Kranze in der Hand, die andern mit einem Blumenstrauß. Viele Blumensträuße hatten sie schon auf den Wagen gelegt, an welchem ein großer Kranz von Immortellen aufgehängt war, auf dem mit schwarzen Buchstaben geschrieben stand: – Ihrer Lehrerin die ehemaligen Schülerinnen der vierten Klasse; – und unter dem großen Kranze hing ein kleiner, den ihre Kinderchen gebracht hatten. In der Menge sah man viele von den Herrschaften gesandte Dienstfrauen mit den Kerzen, und auch zwei Diener in Livree mit einer brennenden Fackel; ein reicher Herr, der Vater eines Schülers der Lehrerin, hatte seine Kutsche gesandt, die mit blauer Seide ausgeschlagen war. Alle sammelten sich vor der Thüre an. Mehrere Mädchen trockneten sich die Thränen ab. Wir warteten eine Zeit lang stille. Endlich trugen sie den Sarg herunter. Als sie denselben auf den Wagen heben sahen, fingen einige Kinder stark zu weinen an, und eines begann zu schreien, als ob es erst jetzt verstehe, daß seine Lehrerin tot sei; es wurde von einem solch krampfhaften Schluchzen ergriffen, daß sie es wegtragen mußten. Der Zug bildete sich und setzte sich langsam in Bewegung. Vor dem Wagen gingen die Priester, es folgten denselben die Lehrer und Lehrerinnen, die kleinen Schüler der ersten Klasse und alle andern, und endlich die Menge. Die Leute zeigten sich an den Fenstern und unter den Türen und als sie alle diese Knaben und den Kranz sahen, sagten sie: – Es ist eine Lehrerin. – Auch einige Damen, die ihre Kleinen begleiteten, weinten. Bei der Kirche angekommen hoben sie den Sarg vom Wagen und trugen ihn mitten ins Hauptschiff vor den Hochaltar: die Lehrerinnen legten die Kränze darauf, die Kinder bedeckten ihn mit Blumen. Als die Kerzen angezündet waren, begann die umstehende Menge in der großen und dunkeln Kirche die Gebete zu singen. Dann, plötzlich, als der Priester das letzte Amen sagte, löschte man die Kerzen aus und alle gingen eilig hinaus, der Sarg blieb allein zurück. Arme Lehrerin, die so gut mit mir war, so viel Geduld hatte, die sich so lange Jahre abgemüht hat! Sie hat ihre wenigen Bücher ihren Schülern gelassen, einem ein Tintenfaß, einem andern ein kleines Gemälde, alles was sie besaß, und zwei Tage, bevor sie starb, sagte sie zum Direktor, er solle die Kleinsten nicht an ihr Begräbnis gehen lassen, denn sie wolle nicht, daß sie weinten. Sie hat Gutes gewirkt, hat gelitten, ist gestorben. Arme Lehrerin! Addio! Addio für immer, meine gute Freundin, süße und traurige Erinnerung aus meiner Kindheit!
28. – Mittwoch.
Sie hat ihr Schuljahr beendigen wollen, meine arme Lehrerin: sie ist nur drei Tage, bevor der Unterricht aufhörte, gestorben. Übermorgen werden wir noch einmal in die Schule gehen um die letzte Monatserzählung: »Schiffbruch« lesen zu hören; und dann sind wir fertig. Samstag den 1. Juli finden die Examen statt. Wieder ein Jahr also, das vierte, ist vorbei! Und wenn meine Lehrerin nicht gestorben wäre, so wäre es gut vorbeigegangen. – Ich denke an das, was ich vergangenen Oktober wußte, und es scheint mir, ich wisse viel mehr: ich habe so viele neue Dinge in meinem Kopfe; es gelingt mir besser, das was ich denke zu sagen und niederzuschreiben, als damals; ich könnte auch die Rechnungen für viele große Leute machen, die es nicht können, und wäre imstande, ihnen bei ihren Geschäften zu helfen; ich verstehe viel mehr, verstehe fast alles, was ich lese. Ich bin zufrieden … Aber wie viele haben mich zum Lernen angespornt und mir beim Lernen geholfen, der auf diese Weise, jener auf eine andere, zu Hause, in der Schule, auf der Straße, überall wo ich gegangen bin und etwas gesehen habe! Und ich danke jetzt allen. Ich danke dir zuerst, mein guter Lehrer, der du so nachsichtig und liebreich mit mir gewesen bist, und für den jede neue Kenntnis, deren ich mich jetzt freue und rühme, eine Mühe war. Ich danke dir, Derossi, mein liebenswürdiger Gefährte, der du mit deinen genauen und freundlichen Erklärungen mir so oft schwere Dinge zum Verständnis brachtest und an dem Examen Hindernisse übersteigen halfest; und dir auch, braver und starker Stardi, der mir gezeigt hat, wie einem eisernen Willen alles gelingt; und dir, guter und großmütiger Garrone, der du alle, die dich kennen, großmütig und gut machst; und auch euch, Precossi und Coretti, die ihr mir immer das Beispiel des Mutes in den Leiden und der Heiterkeit in der Arbeit gegeben habt; ich sage euch Dank, sage Dank allen andern. Aber vor allen danke ich dir, mein Vater, dir, meinem ersten Lehrer, meinem ersten Freunde, der du mir so manchen guten Rat gegeben und mich so viele Sachen gelehrt hast, während du für mich arbeitetest, indem du mir alle deine Sorgen verbargst und mir auf jede Weise das Studium leicht und das Leben schön zu machen suchtest; und dir, meine süße Mutter, mein geliebter und gesegneter Schutzengel, die du alle meine Freuden mitgenossen und alle meine Leiden mitgelitten hast, die du mit mir gelernt, dich abgemüht, mit mir geweint hast, mir mit einer Hand die Stirne streichelnd und mit der andern nach dem Himmel zeigend. Ich kniee vor euch nieder, wie damals, als ich noch ein kleines Kind war, und ich danke euch, danke euch mit der ganzen Zärtlichkeit, die ihr mir in zwölf Jahren der Opfer und der Liebe in die Seele geflößt habt.
(Letzte monatliche Erzählung.)
Vor einigen Jahren lichtete an einem Morgen des Monats Dezember im Hafen von Liverpool ein großes Dampfschiff die Anker. Es hatte an Bord mehr als zweihundert Personen, unter welchen etwa siebenzig an Mannschaft. Der Kapitän und fast alle Matrosen waren Engländer. Unter den Reisenden befanden sich mehrere Italiener: drei Damen, ein Priester, eine Gesellschaft von Sängern. Das Dampfschiff war für die Insel Malta bestimmt. Das Wetter war trübe.
Mitten unter den Reisenden der dritten Klasse, am Vorderteil, war ein italienischer Knabe von etwa zwölf Jahren, klein für sein Alter, aber kräftig, mit dem schönen, kühnen und ernsten Gesichte eines Sicilianers. Er war allein in der Nähe des Hauptmastes und saß auf einem Haufen Taue; neben ihm lag ein zerrissenes Felleisen, in dem seine Sachen waren und auf welchem seine Hand ruhte. Er hatte ein braunes Gesicht und schwarze, wellige Haare, die ihm fast auf die Achseln reichten. Er war ärmlich gekleidet, mit einer zerrissenen Decke über die Schultern und hatte eine Ledertasche umgehängt. Er betrachtete gedankenvoll alles um sich, die Reisenden, das Schiff, die hin und her eilenden Matrosen und das unruhige Meer. Er hatte das Aussehen eines soeben von einem großen Familienunglück betroffenen Jungen: ein Knabengesicht mit dem Ausdruck eines Mannes.
Kurz nach der Abreise erschien einer der Schiffsmatrosen, ein Italiener mit grauen Haaren, auf dem Vorderteil, indem er ein Mädchen an der Hand führte, und vor dem kleinen Sicilianer stille stehend, sagte er zu diesem: – Ich bringe dir eine Reisegefährtin, Mario.
Dann ging er fort.
Das Mädchen setzte sich auf den Haufen Taue neben den Knaben.
Sie betrachteten sich.
– Wo gehst du hin? – fragte sie der Sicilianer.
Das Mädchen antwortete: Nach Malta, über Neapel.
Dann sagte sie: – Ich gehe zu meinem Vater und meiner Mutter, die mich erwarten. Ich heiße Giulietta Faggiani.
Der Knabe sagte nichts.
Nach einigen Minuten zog er ein Stück Brot und trockene Früchte aus der Tasche; das Mädchen hatte Zwieback; sie aßen.
– Lustig, – rief der italienische Matrose, als er einmal schnell vorbeiging. – Jetzt beginnt ein Tänzchen!
Der Wind wurde stärker, das Schiff rollte stark. Aber die beiden Kinder, die von der Seekrankheit nichts verspürten, achteten nicht darauf. Das Mädchen lächelte. Sie hatte ungefähr das Alter ihres Gefährten, aber sie war viel größer: braun im Gesichte, schwächlich, ein wenig leidend und mehr als bescheiden gekleidet. Sie hatte kurz geschnittene und lockige Haare, ein rotes Tuch um den Kopf und zwei silberne Ringlein in den Ohren.
Während sie aßen, erzählten sie sich ihre Erlebnisse. Der Knabe hatte weder Vater noch Mutter mehr. Der Vater, ein Arbeiter, war ihm in Liverpool vor wenigen Tagen gestorben, ihn allein zurücklassend, und der italienische Konsul hatte ihn in sein Land zurückgeschickt, nach Palermo, wo er entfernte Verwandte hatte. Das Mädchen war vor einem Jahre von einer Tante, die Witwe war, und die es sehr liebte, nach London gebracht worden. Seine Eltern, welche arm waren, hatten es der Tante für einige Zeit übergeben, indem sie an das Versprechen einer Erbschaft glaubten, aber wenige Monate nachher war die Tante von einem Omnibus überfahren worden, ohne einen Centesimo zurückzulassen; und nun war auch sie zum Konsul gegangen, der sie nach Italien eingeschifft hatte. Beide waren dem italienischen Matrosen empfohlen. – So, – schloß das Kind, – glaubten mein Vater und meine Mutter, ich würde reich zurückkommen und nun komme ich arm. Aber sie lieben mich gleichwohl. Und meine Brüder auch. Ich habe vier, die alle klein sind. Ich bin die Älteste im Hause. Ich kleide sie an. Sie werden Freude haben, mich zu sehen. Ich werde auf den Fußspitzen eintreten … Aber das Meer ist wild.
Dann fragte sie den Knaben: – Und du gehst zu deinen Verwandten. – Ja … wenn sie mich wollen, – antwortete er.
– Haben sie dich nicht gerne?
– Ich lege an Weihnachten das dreizehnte Jahr zurück, – sagte das Mädchen.
Dann sprachen sie vom Meere und von den Leuten, die ringsum waren. Den ganzen Tag blieben sie bei einander, hie und da einige Worte wechselnd. Die Reisenden glaubten, sie seien Bruder und Schwester. Das Mädchen strickte, der Knabe sann vor sich hin. Das Meer wurde immer heftiger. Am Abend, im Augenblick, da sie sich trennen mußten, um schlafen zu gehen, sagte das Mädchen zu Mario: – Schlaf wohl. – Niemand wird wohl schlafen, arme Kinder, – rief der italienische Matrose, vorbeilaufend, vom Kapitän gerufen. Der Knabe wollte seiner Freundin antworten: – Gute Nacht, – als ein unerwarteter Sturz Wasser ihn mit Gewalt ergriff und gegen eine Bank warf. – Um des Himmels willen, er blutet! – schrie das Mädchen und warf sich auf ihn. Die Reisenden, die hinunter eilten, achteten ihrer nicht. Das Mädchen kniete neben Mario, der vom Fall betäubt liegen geblieben war, nieder, reinigte ihm die blutende Stirne, nahm das rote Tuch von ihren Haaren und legte es ihm um den Kopf, dann drückte es seinen Kopf auf die Brust, um die Zipfel zu knüpfen, und machte sich einen Blutfleck auf den Gürtel des gelben Kleides. Mario kam zur Besinnung und erhob sich. – Fühlst du dich besser? – fragte das Mädchen. – Es ist alles weg, – antwortete er. – Schlaf wohl, – sagte Giulietta. – Gute Nacht, – antwortete Mario. – Und sie stiegen zwei benachbarte Treppen hinab in ihre Kajüten.
Der Matrose hatte richtig vorausgesagt. Sie waren noch nicht eingeschlafen, als sich ein fürchterlicher Sturm erhob. Es war ein unerwarteter Angriff der Wogen, die in wenigen Augenblicken einen Mast spalteten und drei Boote, die am Hinterteile des Schiffes aufgehängt waren, wie Blätter wegtrugen und ebenso vier Ochsen von dem Vorderteil. Im Innern des Schiffes entstand Verwirrung und Schrecken, ein Lärm und ein gewaltiges Getöse von Schreien, Weinen und Beten, daß einem die Haare zu Berge stunden. Der Sturm nahm die ganze Nacht an Gewalt zu. Bei Anbruch des Tages wuchs er noch. Die ungeheuern Wellen, die von der Seite auf das Schiff stürzten, brachen auf das Verdeck, zerschmetterten und zerschellten alles und rissen es mit sich fort. Die Plattform, welche die Maschine bedeckte, wurde eingeschlagen und das Wasser stürzte mit einem schrecklichen Lärm herein, das Feuer löschte aus und die Maschinisten flohen; große ungestüme Wassermassen brachen von allen Seiten herein. Eine donnernde Stimme schrie: An die Pumpen! – Es war die Stimme des Kapitäns. Die Matrosen stürzten an die Pumpen. Aber ein plötzlicher Stoß der wütenden Wogen, von hinten auf das Schiff prallend, riß Brustwehr und Türchen nieder und überflutete alles.
Alle Reisenden, mehr tot als lebendig, hatten sich in den großen Saal geflüchtet.
Auf einen Augenblick erschien der Kapitän.
– Kapitän! Kapitän! – schrien alle miteinander. – Was ist zu thun? Wie steht es? Ist noch Hoffnung? Retten sie uns!
Der Kapitän wartete, bis alle schwiegen und sagte kalt: – Ergeben wir uns.
Nur eine Frau stieß einen Schrei aus: – Erbarmen! – Kein anderer konnte ein Wort hervorbringen. Der Schreck hatte alle erstarren machen. Lange Zeit verging so, wie in Grabesstille. Alle betrachteten sich mit bleichen Gesichtern. Das Meer wütete immer schrecklicher. Das Schiff rollte schwerfällig. Einmal versuchte der Kapitän ein Rettungsboot ins Meer zu lassen: fünf Matrosen stiegen in dasselbe, die Barke wurde hinabgelassen, aber eine Welle riß sie weg und zwei Matrosen ertranken, unter ihnen auch der Italiener; den andern gelang es mit Mühe, sich an den Seilen zu halten und wieder empor zu steigen.
Jetzt verloren selbst die Matrosen den Mut. Zwei Stunden nachher stand das Schiff schon bis zur Höhe der Schutzbretter im Wasser.
Ein gräßliches Schauspiel bot sich unterdessen auf dem Verdecke. Die Mütter drückten in Verzweiflung die Kinder an die Brust, die Freunde umarmten sich und sagten sich lebewohl; einige stiegen in die Kajüten hinunter, um zu sterben, ohne das Meer sehen zu müssen. Ein vom Schlage getroffener Reisender stürzte kopfüber die Treppe zu den Kajüten hinunter, wo er den Geist aufgab. Viele umklammerten sich ungestüm, und Frauen krümmten sich in entsetzlichen Krämpfen. Manche knieten um den Priester. Man hörte nur Schluchzen, kindische Klagen und Wehgeschrei von schrillen und seltsamen Stimmen, und da und dort sah man Personen unbeweglich stehen wie Bildsäulen, betäubt, mit aufgesperrten, ausdruckslosen Augen und Gesichtern, wie von Leichen oder wahnsinnigen. Die zwei Kinder Mario und Giulietta betrachteten, einen Mastbaum umschlingend, das Meer wie von Sinnen.
Die Wogen waren ein wenig ruhiger geworden; aber das Schiff fuhr fort, langsam zu sinken. Es blieben nur noch wenige Minuten.
– Die Schaluppe ins Meer! – schrie der Kapitän.
Eine Schaluppe, die letzte, welche geblieben war, wurde ins Meer hinabgelassen und vierzehn Matrosen mit drei Reisenden stiegen hinunter.
Der Kapitän blieb an Bord.
– Steigen Sie zu uns herunter! – riefen sie von unten.
– Ich muß auf meinem Posten sterben, – antwortete der Kapitän.
– Wir werden ein Schiff antreffen, – schrieen ihm die Matrosen zu, – wir werden uns retten. Steigen Sie herab. Sie sind verloren.
– Ich bleibe.
– Es ist noch ein Platz! schrieen alsdann die Matrosen, sich an die andern Reisenden wendend. – Eine Frau!
Eine Frau schritt vorwärts, vom Kapitän gestützt; aber als sie die Entfernung sah, in der sich die Schaluppe befand, fühlte sie den Mut nicht, den Sprung zu thun, und fiel auf das Verdeck zurück. Die andern Frauen waren sozusagen alle ohne Besinnung und dem Tode nahe.
– Ein Kind! – riefen die Matrosen.
Bei diesem Rufe ließen der sicilianische Knabe und seine Gefährtin, welche bis jetzt von übermenschlichem Schrecken wie versteinert gewesen waren, von einem plötzlichen Instinkt, das Leben zu retten, getrieben, den Mastbaum los und stürzten sich an den Rand des Schiffes, miteinander heulend: – Mich! – und suchten sich gegenseitig wie zwei wilde, wütende Tiere zurückzustoßen.
– Das kleinere! riefen die Matrosen. – Das Boot ist überladen! Das kleinere.
Wie zerschmettert ließ das Mädchen bei diesen Worten die Arme fallen und blieb unbeweglich, Mario mit erloschenen Augen betrachtend.
Mario betrachtete sie einen Augenblick, sah den Blutfleck auf ihrer Brust, – erinnerte sich, ein göttlicher Gedanke blitzte über sein Antlitz.
– Das kleinere! – schrieen im Chor die Matrosen mit furchtbarer Ungeduld. – Wir stoßen ab!
Und nun rief Mario mit einer Stimme, die nicht mehr die seinige schien: – Sie ist leichter! Du Giulietta! Du hast Vater und Mutter! Ich bin allein! Ich trete dir meinen Platz ab! Springe hinunter!
– Wirf sie ins Meer! riefen die Matrosen.
Mario faßte Giulietta um den Leib und warf sie ins Meer.
Das Mädchen stieß einen Schrei aus und that einen dumpfen Fall; ein Matrose erhaschte sie an einem Arme und zog sie in die Barke hinauf.
Der Knabe blieb aufrecht an Bord des Schiffes, mit hoher Stirn, fliegenden Haaren, unbeweglich, ruhig, erhaben.
Das Boot bewegte sich und mußte sich beeilen den durch das Sinken des Schiffes hervorgebrachten Wirbeln, welche es zu verschlingen drohten, zu entgehen.
Nun erhob das Mädchen, das bis zu diesem Augenblicke fast besinnungslos gewesen war, die Augen zu dem Knaben und brach in heftiges Weinen aus.
– Addio, Mario! – rief es unter Schluchzen, die Arme nach ihm ausstreckend. – Addio! Addio! Addio!
– Addio! – antwortete der Knabe, die Hand in die Höhe hebend.
Das Boot entfernte sich schnell auf dem bewegten Meere unter einem düstern Himmel. Kein Ruf ertönte mehr auf dem Schiffe. Das Wasser leckte schon den Rand des Verdeckes.
Plötzlich fiel der Knabe auf die Knie nieder, faltete die Hände und richtete die Augen gen Himmel.
Das Mädchen bedeckte sich das Gesicht.
Als es den Kopf wieder erhob, warf es einen Blick auf das Meer: – das Schiff war verschwunden.