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Januar.

Der Hilfslehrer.

4. – Mittwoch.

Mein Vater hatte Recht; der Lehrer war schlechter Laune, weil er unwohl war; und wirklich kommt seit drei Tagen an seiner Statt der Hilfslehrer, der kleine ohne Bart, der noch ein Jüngling zu sein scheint. Ein häßlicher Vorfall ereignete sich diesen Vormittag. Schon den ersten und zweiten Tag hatten sie in der Schule Lärm gemacht, weil der Hilfslehrer sehr große Geduld hat und nur sagt: – Seid ruhig, seid ruhig, ich bitte euch! – Aber diesen Morgen gings über das Maß. Es erhob sich ein Gesumse, daß man seine Worte nicht mehr hörte und er ermahnte und bat; vergebliche Mühe! Zweimal zeigte sich der Direktor unter der Türe und sah uns strenge an. Kaum war er weg, so wuchs das Gemurmel wie auf einem Markte. Garrone und Derossi konnten sich lange umwenden und den Kameraden Zeichen geben, sie sollen ruhig sein, ein solches Betragen sei eine Schande. Keiner beachtete sie. Es war niemand ruhig als Stardi, der, die Ellbogen auf die Bank gestützt und die Fäuste an den Schläfen vielleicht über seine herrliche Bibliothek nachdachte, und Garoffi, der mit der Hakennase und den Marken, welcher vollauf beschäftigt war, das Register derjenigen zusammenzustellen, welche zwei Centesimi für die Verlosung eines Tintengefäßes, das man in der Tasche tragen kann, gezeichnet hatten. Die andern schwatzten und lachten, machten Musik mit Federn, die sie in die Bank stießen, schossen einander Papierkügelchen zu, die sie vorher gekaut hatten, indem sie die elastischen Strumpfbänder als Schleudern benutzten. Der Lehrer ergriff bald den einen, bald den andern am Arm und schüttelte ihn, oder stellte einen an die Wand: – verlorne Zeit! Er wußte nicht mehr an welchen Heiligen er sich wenden solle und bat: – Aber warum betragt ihr euch so? wollt ihr mit Gewalt, daß ich einen Vorwurf erhalte? – Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie mit wütender und weinerlicher Stimme: – Ruhig! Ruhig! Ruhig! – Es war betrübend ihn zu hören. Aber der Lärm wuchs immer mehr. Franti schleuderte einen Papierpfeil auf ihn, einige miauten, andere schlugen sich auf die Köpfe; es war ein Durcheinander, das nicht zu beschreiben ist; plötzlich trat der Pedell ein und sagte: – Herr Lehrer, der Direktor ruft Sie. – Der Lehrer erhob sich und ging in Eile hinaus, eine verzweifelte Bewegung machend; nun wurde der Lärm noch stärker. Aber auf einmal sprang Garrone auf, und mit verändertem Gesicht und geballten Fäusten rief er mit vor Wut erstickter Stimme: – Hört auf! Ihr seid Bestien. Ihr mißbraucht den Lehrer, weil er gut ist. Wenn er euch die Knochen entzweischlüge, würdet ihr euch ducken wie Hunde. Ihr seid ein Haufen Feiglinge. Den ersten, der ihn wieder ärgert, erwarte ich draußen, und schlage ihm die Zähne ein, auch unter den Augen seines Vaters, ich schwöre es euch! – Alle schwiegen. Ah! wie schön war Garrone mit seinen sprühenden Augen! Er war wie ein wütender Löwe. Er betrachtete einen der Kühnsten nach dem andern und alle senkten den Kopf. Als der Lehrer mit roten Augen eintrat, hörte man keinen Atemzug mehr. – Er war ganz verwundert. Aber dann als er Garrone ganz rot und zitternd sah, sagte er zu ihm mit einem Ausdruck der Zuneigung und als ob er zu einem Bruder sagen würde: – Ich danke dir, Garrone.

Die Bibliothek Stardis.

Ich bin zu Stardi gegangen, welcher der Schule gegenüber wohnt, ich war wirklich neidisch, als ich seine Bücherei sah. Er ist gar nicht reich und kann nicht viele Bücher kaufen, aber er bewahrt mit großer Sorgfalt seine Schulbücher und diejenigen, die ihm seine Eltern schenken auf, und jeden Soldo, den sie ihm geben, legt er bei Seite und bringt ihn dem Buchhändler; auf diese Weise hat er sich schon eine kleine Bibliothek angelegt, und als sein Vater diese Leidenschaft bemerkte, kaufte er ihm ein schönes Büchergestell von Nußbaumholz, mit grünen Vorhängen, und ließ ihm fast alle Bücher in den Farben, welche ihm gefielen, einbinden. So zieht er einfach an einem Schnürchen, der grüne Vorhang thut sich auf und man sieht drei Reihen Bücher von allen Farben, alle in Ordnung, glänzend, mit Goldtiteln auf dem Rücken, Bücher mit Erzählungen, Reisebeschreibungen und Gedichten; auch illustrierte hat er. Und er versteht es gut die Farben zusammenzustellen, er stellt die weißen Bände zu den roten, die gelben zu den schwarzen, die blauen zu den weißen, so daß man sie von weitem sieht und es eine wahre Pracht ist; es macht ihm Vergnügen sie hie und da anders zu gruppieren. Er hat sich einen Katalog angelegt. Er ist ein gemachter Bibliothekar. Immer steht er bei seinen Büchern, um sie abzustäuben, zu durchblättern, den Einband zu untersuchen; man muß ihn sehen, mit welcher Sorgfalt er sie mit seinen kurzen, rundlichen Händen öffnet, indem er zwischen die Blätter bläst; alle scheinen noch neu. Und ich habe die meinigen alle zerrissen! Bei jedem neuen Buch, das er kauft, ist es für ihn ein Fest, es zu streicheln, es an seinen Platz zu stellen, es wieder zu nehmen, es um und um zu betrachten und wie einen Schatz zu hüten. Er hat mir eine Stunde lang nichts anderes gezeigt. Die Augen schmerzten ihn vom vielen Lesen. Einmal kam sein Vater, welcher auch stark und untersetzt ist und einen mächtigen Kopf hat wie er, ins Zimmer und gab ihm zwei oder drei Schläge mit der Hand auf den Nacken, indem er zu mir mit seiner derben Stimme sagte: – Nun, was sagst du zu diesem Kopf von Eisen? Es ist ein harter Kopf, aus dem etwas werden wird, ich versichere es dir! – Und Stardi schloß bei diesen rauhen Liebkosungen die Augen halb zu, wie ein großer Jagdhund. Ich begreife es nicht, aber ich wagte nicht mit ihm zu scherzen; es schien mir nicht möglich, daß er nur ein Jahr älter sei, als ich; und als er unter der Türe zu mir sagte: – Auf Wiedersehen! – mit seinem immer mürrischen Gesichte, so fehlte wenig, ich hätte ihm, wie einem Erwachsenen geantwortet: – Leben Sie wohl. – Ich sagte dann zu Hause meinem Vater: – »Ich kann es nicht begreifen: Stardi hat kein Genie, hat keine guten Umgangsformen, hat eine fast lächerliche Figur und doch imponiert er mir. – Und mein Vater antwortete: – Das kommt davon, daß er Charakter hat. – Und ich sagte: – In einer Stunde, die ich bei ihm zugebracht habe, hat er nicht fünfzig Worte gesprochen, hat mir kein Spielzeug gezeigt, hat nicht ein einziges Mal gelacht, und doch war ich gern bei ihm. – Und mein Vater antwortete: – Das ist, weil du ihn achtest.

Der Sohn des Schmiedes.

Ja, aber auch Precossi achte ich, und es ist damit eigentlich zu wenig gesagt, daß ich ihn achte; Precossi, der Sohn des Schmiedes, der kleine, abgezehrte Junge mit den guten und traurigen Augen, der immer ein ängstliches Gesicht macht und zu allen sagt: verzeihe mir; er ist immer kränklich und doch studiert er so viel. Sein Vater kommt vom Branntwein betrunken nach Hause, schlägt ihn, ohne den geringsten Grund und wirft ihm Bücher und Hefte durcheinander; oft kommt er mit bläulichen Flecken auf den Wangen in die Schule, hat ein ganz geschwollenes Gesicht und Augen vom vielen Weinen rot wie Feuer. Aber nie, niemals sagt er, daß sein Vater ihn geschlagen habe. – Dein Vater hat dich geschlagen! – sagen seine Kameraden zu ihm. Und er ruft sofort: – Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! – nur um die Ehre seines Vaters nicht angreifen zu lassen. – »Dieses Blatt hast du nicht verbrannt,« sagte der Lehrer, indem er ihm die halb verbrannte Arbeit zeigte: »doch,« – antwortete er mit zitternder Stimme, – »ich habe es aufs Feuer fallen lassen.« – Und doch wissen wir gut, daß es sein betrunkener Vater war, der Tisch und Licht mit einem Fußtritt umgestoßen hat, während der Knabe seine Arbeit machte. Er wohnt in einer Dachstube unseres Hauses auf der andern Seite; die Türhüterin erzählt meiner Mutter alles; meine Schwester Silvia hörte ihn eines Tages auf der Terrasse schreien, da sein Vater ihn so stieß, daß er die Treppe hinunterflog; er hatte ihn um einige Soldi gebeten, um die Grammatik zu kaufen. Sein Vater trinkt, arbeitet nicht und die Familie leidet Hunger. Wie oft kommt der arme Precossi nüchtern in die Schule und nagt im Verborgenen an einem Brötchen, das ihm Garrone giebt, oder an einem Apfel, den ihm die kleine Lehrerin mit der roten Feder bringt, deren Schüler er in der ersten Klasse war. Aber nie sagt er: »Ich habe Hunger, mein Vater giebt mir nichts zu essen.« – Sein Vater erwartet ihn hie und da, wenn er aus irgend einem Grunde an der Schule vorbeigeht, bleich, mit unsicherm Gange, mit einem häßlichen Gesicht, mit den Haaren über den Augen und die Mütze quer auf dem Kopfe; und der arme Knabe zittert ganz, wenn er ihn auf der Straße sieht; aber sofort läuft er ihm lächelnd entgegen, obschon sein Vater ihn nicht zu bemerken scheint und an Anderes denkt. Armer Precossi! Er näht die zerrissenen Hefte wieder zusammen, läßt sich die Bücher leihen, um die Lektion zu studieren, heftet die Fetzen seines Hemdes mit Stecknadeln zusammen und es ist ein jämmerlicher Anblick, wenn man ihn turnen sieht in den großen, ausgetretenen Schuhen, in Beinkleidern, welche er hinten nachschleppt und in einer Jacke, die ihm viel zu lang ist und deren Ärmel bis zu den Ellbogen umgestülpt sind; er lernt und giebt sich Mühe; er würde einer der ersten sein, wenn er zu Hause ruhig arbeiten könnte. Diesen Morgen ist er mit den Spuren von Fingernägeln auf einer Wange in die Schule gekommen und alle sagten sofort: – Diesmal kannst du es nicht leugnen; dein Vater hat das gethan. Sage es dem Direktor, daß er ihn ins Gefängnis führen läßt. – Aber er erhob sich, ganz rot im Gesichte, und mit einer Stimme, die vor Empörung zitterte, rief er: – Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Mein Vater schlägt mich nie! – Aber dann, während der Lektion, fielen seine Thränen auf die Bank, und, wenn ihn einer ansah, zwang er sich zu lächeln, um sich nicht zu verraten. Armer Precossi! Morgen kommen Derossi, Coretti und Nelli in unser Haus; ich will es auch ihm sagen, daß er kommt. Und er muß mit uns das Vesperbrot nehmen, ich will ihm Bücher schenken, im Hause das unterste zu oberst kehren, um ihn zu erheitern, und ihm die Taschen mit Obst füllen, um ihn einmal fröhlich zu sehen, den armen Precossi, der so gut ist, und so viel Mut hat!

Ein schöner Besuch.

12. – Donnerstag.

Das war für mich einer der schönsten Donnerstage des ganzen Jahres. Punkt zwei Uhr kamen Derossi und Coretti mit Nelli, dem Buckligen, zu uns; dem Precossi hatte sein Vater die Erlaubnis nicht geben wollen. Derossi und Coretti lachten noch, weil sie auf der Straße Crossi, den Sohn der Gemüsefrau, den mit dem lahmen Arm und den roten Haaren, angetroffen hatten, wie er einen riesigen Kohlkopf zum Verkauf herumtrug; mit dem gelösten Soldo sollte er sich dann eine Feder kaufen; er war ganz glücklich, weil der Vater aus Amerika geschrieben hat, und sie erwarten ihn alle Tage. – O! die zwei schönen Stunden, die wir mit einander zubrachten! Derossi und Coretti sind die lustigsten der Klasse; mein Vater gewann sie sehr lieb. Coretti trug seine braune, gestrickte Jacke und seine Mütze aus Katzenfell. Er ist ein kleiner Teufel, der immer etwas thun, sich rühren muß. Er hatte schon am frühen Morgen einen halben Wagen Holz auf den Schultern getragen und doch galoppierte er durchs ganze Haus, beobachtete alles, sah alles, war munter und behend wie ein Eichhörnchen, und als er in die Küche kam, fragte er die Köchin, wie viel sie für zehn Kilogramm Holz bezahlen müsse, sein Vater verkaufe sie für fünfundvierzig Centesimi. Er spricht immer von seinem Vater, der als Soldat im 49. Regiment die Schlacht bei Custozza mitmachte, wo er sich im Heere des Prinzen Humbert befand; und dabei hat er so gute Manieren! Man merkt es nicht, daß er zwischen Holzstößen geboren und aufgewachsen ist, die Höflichkeit liegt ihm im Blute, im Herzen, wie mein Vater sagt. Auch Derossi unterhielt uns sehr; er kennt die Geographie wie ein Lehrer, er schloß die Augen und sagte: – Ich sehe ganz Italien, die Apenninen, die sich bis zum jonischen Meere hinziehen, die Flüsse, die hüben und drüben fließen, die weißen Städte, die blauen Golfe, die grünen Inseln; und nach der Ordnung sagte er schnell alle Namen, als ob er sie von der Karte ablesen würde. Als wir ihn so sahen, mit dem hohen, kraushaarigen, blonden Haupt und den geschlossenen Augen, in seiner blauen Kleidung mit vergoldeten Knöpfen, aufrecht und schön wie eine Statue, bewunderten ihn alle. In einer Stunde hat er fast drei Seiten, welche er übermorgen, am Jahrestage des Begräbnisses des Königs Viktor Emanuel aufsagen muß, auswendig gelernt. Und auch Nelli betrachtete ihn ganz verwundert und liebevoll, mit seinen klaren und melancholischen Augen, indem er sinnend mit der Hand über seine Schürze aus schwarzer Leinwand fuhr. Mir machte dieser Besuch großes Vergnügen und ließ mir wie Funken im Gedächtnis und Herzen zurück. Es gefiel mir auch, als sie fortgingen, den armen Nelli inmitten der beiden andern Großen und Starken, wie sie ihn auf den Armen nach Hause trugen und machten, daß er lachen mußte, wie ich ihn nie hatte lachen sehen. Als ich in das Eßzimmer trat, bemerkte ich, daß das Bild, welches Rigoletto, den komischen Buckligen darstellt, nicht mehr da war. Mein Vater hatte es weggenommen, daß es Nelli nicht sähe.

Die Gedächtnisfeier für Viktor Emanuel.

17. Januar.

Heute um zwei Uhr, kaum in der Schule angekommen, rief der Lehrer Derossi, welcher sich neben dem Pult uns gegenüberstellte und mit seiner melodischen Stimme, die immer heller wurde, zu sprechen begann, während sein Gesicht sich rötete:

An diesem Tage und in dieser Stunde sind es vier Jahre, daß vor dem Pantheon in Rom der Trauerwagen mit dem Leichnam Viktor Emanuels anlangte. Viktor Emanuel II., der erste König von Italien starb nach einer neunundzwanzigjährigen Regierung. Während dieser Zeit erstand das große italienische Vaterland; aus sieben Reichen, in die es zersplittert war, wurde ein einziger, unabhängiger und freier Staat; nach einer Regierung von neunundzwanzig Jahren, welche er zu einer ruhm- und segensreichen gemacht hatte durch Tapferkeit, durch Rechtschaffenheit, durch Mut in der Gefahr, durch Klugheit in guten und Festigkeit in bösen Tagen. Der mit Kränzen bedeckte Leichenwagen durchzog Rom unter einem Blumenregen, vorbei an der in atemloser Stille verharrenden, ungeheuern, trauernden Menge, die aus allen Teilen Italiens herbeigeeilt war, voran eine Legion von Generälen und eine Menge von Ministern und Fürsten, gefolgt von einem Zuge Invaliden, einem Walde von Fahnen, den Abgeordneten von dreihundert Städten, von allem, was die Größe und den Ruhm eines Volkes darstellt, und langte vor dem erhabenen Tempel an, wo den großen Toten das Grab erwartete. Hier hoben zwölf Kürassiere den Sarg vom Wagen. In diesem Augenblicke rief Italien seinem toten König das letzte Lebewohl zu, seinem König, der es so sehr geliebt hatte, das letzte Lebewohl seinem Soldaten, seinem Vater, den neunundzwanzig glücklichsten und gesegnetsten Jahren seiner Geschichte. Es war ein großer und feierlicher Augenblick. Der Blick, die Seele flog von der Bahre zu den umflorten Fahnen der achtzig Regimenter des Heeres, welche von achtzig spalierbildenden Offizieren getragen wurden. Ganz Italien war vertreten durch diese achtzig Feldzeichen, welche an die Tausende von Toten, an die Blutströme, an unsern höchsten Ruhm, an unsere größten Opfer, an unsere tiefsten Schmerzen erinnerten. Die von den Kürassieren getragene Bahre ging vorbei und da neigten sich zum Zeichen des Grußes alle Fahnen der neuen Regimenter und all die zerfetzten Banner von Goito, Pastrengo, Santa Lucia, Novara, der Krim, Palestro, San Martino, Castelfidardo, achtzig schwarze Schleier fielen, hundert Medaillen stießen an den Sarg und dieses klingende und verworrene Getöse, welches das Blut Aller schneller pulsieren machte, war wie der Ton von tausend menschlichen Stimmen, welche mit einander sagten: – »Lebe wohl, guter König, wackerer König, rechtschaffener König! Du wirst im Herzen deines Volkes leben, so lange die Sonne über Italien scheint.« – Nachher hoben sich die Fahnen stolz gen Himmel und König Viktor Emanuel hielt seinen Einzug in die glorreiche Gruft.

Franti wird aus der Schule gejagt.

21. – Samstag.

Nur einer konnte lachen, während Derossi von der Gedächtnisfeier des Königs sprach, – Franti! Ich verabscheue ihn. Er ist ein niederträchtiger Kerl. Kommt ein Vater in die Schule, um seinem Sohne einen Vorwurf zu machen, so freut er sich. Er zittert vor Garrone und schlägt das Maurermeisterlein, weil es klein ist; er plagt Crossi, weil er einen lahmen Arm hat; neckt Precossi, den alle achten; verspottet selbst Robetti, den in der zweiten Klasse, der ein Kind gerettet hat und nun an Krücken geht. Er reizt alle die, welche schwächer sind als er, und wenn er seine Fäuste ballt, wird er wild und gefährlich. Es ist etwas Abscheu Erregendes auf dieser niedern Stirn, in den trüben Augen, welche sich unter dem Schirm seiner Mütze aus Wachsleinwand fast verstecken. Er fürchtet nichts, lacht dem Lehrer ins Gesicht, stiehlt wo er kann, leugnet mit einem unverschämten Gesicht, liegt immer mit jemandem in Streit, bringt Stecknadeln in die Schule um seine Nachbarn zu stechen, reißt sich die Knöpfe von der Jacke, reißt sie auch den andern ab und verspielt sie; seine Karten, Hefte, Bücher, alles ist zerknittert, zerrissen, beschmutzt, das Lineal gezähnt, die Feder zerkaut, die Fingernägel benagt, die Kleider voller Schmutzflecke und Risse, die er beim Balgen erhält. Sie sagen, seine Mutter sei aus Kummer um ihn krank geworden, und sein Vater habe ihn dreimal von Hause fortgejagt; seine Mutter kommt häufig, um Erkundigungen über ihn einzuziehen, und geht immer weinend fort. Er haßt die Schule, haßt die Gefährten, haßt den Lehrer. Dieser giebt sich oft den Anschein, seine Spitzbübereien nicht zu sehen und er treibt es immer ärger. Der Lehrer versuchte es, ihn von der guten Seite zu packen, aber Franti trieb seinen Spott mit ihm. Er mußte schreckliche Worte hören und bedeckte das Gesicht mit den Händen, als ob er weine und – er lachte. Für drei Tage wurde ihm die Schule verboten und er kehrte boshafter, frecher als je zurück. Derossi sagte ihm eines Tages: – Aber so höre doch endlich auf, sieh' der Lehrer leidet zu sehr darunter, – und jener drohte, ihm einen Nagel in den Leib zu stoßen. Heute Morgen wurde er endlich fortgejagt wie ein Hund. Als der Lehrer Garrone die flüchtig geschriebene Kopie vom sardinischen Tambour, der monatlichen Erzählung vom Januar gab, um sie ins Reine zu schreiben, warf Franti eine Petarde auf den Boden, welche losging, so daß die Schule wie von einem Flintenschuß ertönte. Die ganze Klasse fuhr erschrocken auf. Der Lehrer sprang auf und schrie: – »Franti! Fort mit dir!« – Er antwortete: – »Ich bin's nicht!« – Aber er lachte. Der Lehrer sagte noch einmal: – »Geh hinaus!« – »Ich gehe nicht,« – antwortete er. – Nun verlor der Lehrer die Selbstbeherrschung, warf sich auf ihn, ergriff ihn am Arm und schleppte ihn aus der Bank. Er wehrte sich, fletschte mit den Zähnen und ließ sich mit Gewalt hinausschleifen, der Lehrer trug ihn mehr als er ihn führte zum Direktor und dann kehrte er allein ins Zimmer zurück und setzte sich ans Pult, nahm den Kopf zwischen die Hände und war ganz erschöpft, mit solch müdem und betrübtem Ausdruck, daß es uns ganz wehe that, ihn so zu sehen. – »Nach dreißigjährigem Schulhalten!« – rief er traurig, indem er den Kopf schüttelte. Keiner wagte laut zu atmen. Die Hände zitterten ihm vor Zorn und die gerade Furche in der Mitte der Stirne war so tief, daß sie aussah wie eine Wunde. Armer Lehrer! Alle litten mit ihm. Derossi erhob sich und sagte: – »Herr Lehrer, betrüben Sie sich nicht. Wir lieben Sie.« – Und nun erholte er sich ein wenig und sagte: – »Knaben, setzen wir den Unterricht fort.«

Der sardinische Tambour.

(Monatliche Erzählung.)

Am ersten Tage der Schlacht bei Custozza, am 24. Juli 1848, wurden etwa sechzig Soldaten eines Infanterieregimentes unseres Heeres, welche ein alleinstehendes Haus auf einer Anhöhe besetzen sollten, plötzlich von zwei feindlichen Kompagnien angegriffen, und von verschiedenen Seiten so mit Gewehrsalven bestürmt, daß sie kaum noch Zeit hatten, sich ins Haus hinein zu flüchten und die Türen zu verrammeln, während sie einige Tote und Verwundete auf dem Felde zurücklassen mußten. Nachdem die Türen verrammelt waren, eilten die Unsrigen wütend an die Fenster des Erdgeschosses und des ersten Stockwerkes und begannen ein heftiges Feuer auf die Angreifer, welche sich, in einem Halbkreis aufgestellt, Schritt für Schritt näherten und lebhaft antworteten. Die sechzig italienischen Soldaten standen unter dem Befehl zweier Unteroffiziere und eines alten strengen Hauptmanns von hagerer Gestalt, mit weißem Haar und weißem Schnurrbart; unter ihnen war auch ein sardinischer Tambour, ein Knabe, der wenig über vierzehn Jahre alt war und kaum zwölfe alt schien, klein, mit dunklem, olivenfarbigem Gesicht, mit zwei tiefen, schwarzglänzenden Augen. Der Hauptmann leitete von einem Fenster des ersten Stockwerkes aus die Verteidigung; seine Befehle klangen wie Pistolenschüsse und auf seinem eisernen Gesicht sah man keine Spur von Bewegung. Der Tambour, ein wenig bleich, aber fest auf den Beinen, stieg auf einen Tisch, reckte den Hals, indem er sich an der Wand hielt, um zum Fenster hinaus zu sehen; er sah durch den Rauch hindurch in den Feldern die weißen Uniformen der Feinde, welche langsam vorwärts kamen. Das Haus stand auf dem Gipfel eines steilen Hügels und hatte diesem zugekehrt nur ein einziges Fensterchen, das in eine Dachkammer ging; deshalb bedrohten die Feinde das Haus von dieser Seite nicht, und der Abhang war frei: das Feuer bestrich nur die Front und die beiden andern Seiten.

Aber es war ein höllisches Feuer, ein Hagel von Kugeln, welche draußen die Mauern aufrissen und die Ziegel zertrümmerten und innen die Decke, Möbel, Türpfosten, Fensterrahmen zerschlugen. Holzsplitter und Wolken von Mörtel und Stückchen von Küchengeschirr und Scheiben flogen in die Höhe, es zischte, platzte und krachte alles, mit einem betäubenden Getöse. Hie und da fiel einer der Soldaten, die zum Fenster hinausschossen, rücklings zu Boden und wurde beiseite geschleppt. Einige schwankten von Zimmer zu Zimmer, die Hände auf die Wunden drückend. In der Küche lag schon ein Toter mit klaffender Stirnwunde. Der Halbkreis der Feinde zog sich immer enger zusammen.

Jetzt sah man den Hauptmann, der bisher unbeweglich war, ein Zeichen der Unruhe machen und mit großen Schritten das Zimmer verlassen; ein Wachtmeister folgte ihm. Nach drei Minuten kam der Wachtmeister eiligen Laufes zurück und rief den kleinen Tambour, indem er ihm ein Zeichen machte, er solle kommen. Der Knabe folgte ihm; er sprang eine hölzerne Treppe hinauf und trat mit ihm in die kahle Dachstube, wo er den Hauptmann sah, der mit dem Bleistift auf ein Blatt schrieb, indem er sich ans Fenster lehnte; zu seinen Füßen auf dem Boden lag ein Cisternenseil.

Der Hauptmann faltete das Blatt und sagte barsch, während er seine grauen, kalten Pupillen, vor denen alle Soldaten zitterten, auf die Augen des Knaben heftete: – »Tambour!«

Der Tambour legte die Hand an die Mütze.

Der Hauptmann sagte: – »Hast du Herz? –«

Die Augen des Knaben blitzten.

– »Ja, Herr Hauptmann,« – antwortete er.

– »Sieh dort hinunter,« – sagte der Hauptmann, indem er ihn zum Fenster schob, – »in der Ebene, in der Nähe von Villafranca, wo jene Bajonette blitzen. Dort stehen die Unsrigen, unthätig. Du nimmst dieses Billet, hältst dich am Seil, steigst aus dem kleinen Fenster, durchfliegst den Abhang, trittst in die Felder, kommst bei den Unsrigen an und giebst das Billet dem ersten Offizier, den du siehst. Wirf Gürtel und Sack ab.«

Der kleine Tambour legte Gürtel und Sack ab und schob das Billet in seine Brusttasche; der Wachtmeister warf das Seil hinaus und hielt ein Ende mit beiden Händen fest; der Hauptmann half dem Knaben, der den Rücken gegen das Feld kehrte, beim Hinaussteigen.

– »Bedenke!« – sagte er, – »die Rettung dieses abgetrennten Häufleins ist deinem Mut und deiner Kraft anheimgegeben.«

– »Vertrauen Sie auf mich, Herr Hauptmann,« – antwortete der Knabe, indem er sich hinausschwang.

– »Bücke dich beim Hinuntergehen«, sagte der Hauptmann noch, das Seil mit dem Wachtmeister festhaltend.

– »Zweifeln Sie nicht.«

– »Gott helfe dir.«

In wenig Augenblicken war der Knabe auf dem Boden angelangt; der Wachtmeister zog das Seil hinauf und verschwand; der Hauptmann zeigte sich am Fenster und sah ungeduldig dem Knaben nach, der in größter Eile den Abhang hinunter flog.

Er hoffte schon, es sei ihm gelungen ungesehen zu entkommen, als fünf oder sechs kleine Staubwölkchen, die sich vor und hinter dem Knaben von der Erde erhoben, ihm anzeigten, daß er von den Feinden gesehen worden sei, welche nun vom Gipfel der Anhöhe auf ihn schossen: die kleinen Staubwölkchen waren von den Kugeln in die Höhe geworfene Erde. Aber der Tambour fuhr fort über Kopf und Hals zu laufen. Plötzlich fiel er zu Boden. – »Getötet!« – schrie der Hauptmann, indem er sich in die Faust biß. Aber noch hatte er das Wort nicht gesagt, als er den Knaben wieder aufstehen sah. – »Ah! nur ein Fall!« – sagte er bei sich und atmete auf. Wirklich begann der Tambour wieder aus allen Kräften zu laufen, aber er hinkte. – »Eine Fußverrenkung,« – dachte der Hauptmann. Einige Staubwolken erhoben sich noch hie und da rings um den Knaben, aber immer weiter weg. Er war gerettet. Der Hauptmann stieß einen Freudenschrei aus. Aber er fuhr fort, ihn mit den Augen zu verfolgen, vor Furcht bebend, denn es handelte sich um Augenblicke: wenn er nicht so rasch als möglich mit dem Billet, das sofortige Unterstützung verlangte, dort unten ankam, so würden entweder alle seine Soldaten getötet, oder er mußte sich mit ihnen gefangen geben. Der Knabe lief eine Zeitlang sehr geschwind, bald wurde sein hinkender Schritt langsamer, bald setzte er seinen Lauf fort, aber immer matter, sehr oft stolperte er, und hielt an. – Er hat vielleicht einen Streifschuß bekommen, – dachte der Hauptmann und verfolgte aufmerksam und zitternd seine Bewegungen, und munterte ihn auf, wie wenn jener es hätte hören können; er maß ohne Aufhören mit glühenden Augen den Raum, der zwischen dem Knaben und jenem Aufblitzen der Waffen lag, welches er dort unten in der Ebene inmitten der von der Sonne vergoldeten Weizenfelder sah. Und inzwischen hörte er das Zischen und den Lärm der Kugeln in den untern Zimmern, das gebieterische und wütende Geschrei der Offiziere und Wachtmeister, das laute Wehklagen der Verwundeten, das Gepolter der Möbel und Mauerstücke. – »Auf! Mut!« – schrie er, indem er mit dem Blicke dem fernen Tambour folgte, – »vorwärts! laufe! Er hält an, verdammt! Ah! er läuft wieder.« – Ein Offizier kam atemlos um ihm zu sagen, daß die Feinde, ohne das Feuer zu unterbrechen, ein weißes Tuch schwenkten, um die Übergabe anzudeuten. – »Man antworte nicht!« – rief er, ohne ein Auge von dem Knaben abzuwenden, der schon in der Ebene war, der aber nicht mehr lief und sich nur mit Mühe fortzuschleppen schien. – »So geh' doch! So lauf' doch!« – sagte der Hauptmann, die Zähne zusammenbeißend und die Fäuste ballend; – »Stirb! Schurke, aber lauf!« – Dann stieß er eine schreckliche Verwünschung aus. – Ah, der elende Faullenzer hat sich gesetzt! – Wirklich war der Knabe, von dem er bisher noch den Kopf hatte über das Weizenfeld hervorragen sehen, verschwunden, als ob er gefallen wäre. Aber einen Augenblick nachher erschien sein Kopf von neuem; endlich verlor er sich hinter den Hecken und der Hauptmann sah ihn nicht mehr.

Nun stieg er stürmisch hinunter; die Kugeln wüteten; die Zimmer waren voll von Verwundeten, von denen einige umher schwankten wie Betrunkene, indem sie sich an den Möbeln anklammerten; die Wände und der Fußboden waren mit Blut bespritzt; Leichname lagen quer vor den Türen; eine Kugel hatte den Lieutenant in den rechten Arm getroffen; Rauch- und Staubwolken hüllten alles ein. – »Mut!« – schrie der Hauptmann. – »Fest gestanden! Es langt Unterstützung an! Noch ein wenig Mut!« – Die Feinde hatten sich noch mehr genähert; man sah dort unten durch den Rauch schon ihre Gesichter, man hörte durch den Lärm der Schüsse ihr wildes Geschrei, das die Übergabe forderte, oder mit einem Gemetzel drohte. Einige erschrockene Soldaten zogen sich vom Fenster zurück; die Wachtmeister trieben sie vorwärts. Aber das Feuer der Verteidigung wurde matter, die Entmutigung zeigte sich auf allen Gesichtern, es war keine Möglichkeit mehr den Widerstand noch in die Länge zu ziehen. Einen Augenblick verminderten sich die Schüsse der Feinde und eine donnernde Stimme schrie: – »Ergebt euch!« – »Nein!« brüllte der Hauptmann von einem Fenster aus. Und das Feuer begann wieder heftiger und wütender von beiden Seiten. Andere Soldaten fielen. Schon mehr als ein Fenster war ohne Verteidiger. Der verhängnisvolle Augenblick nahte. Der Hauptmann rief mit gepreßter Stimme: – »Sie kommen nicht! Sie kommen nicht!« – und sprang wütend vor, den Säbel mit krampfhaft zitternder Hand schwingend, entschlossen zu sterben. Ein Wachtmeister, der von der Dachstube herunter kam, schrie laut: – »Sie kommen!« – »Sie kommen!« wiederholte der Hauptmann mit einem Freudenschrei. Bei diesem Rufe warfen sich alle, Gesunde, Verwundete, Wachtmeister, Offiziere an die Fenster und der Widerstand wurde noch einmal sehr grimmig. Nach einigen Augenblicken bemerkte man etwas wie Unsicherheit und einen Anfang von Unordnung unter den Feinden. Schnell, in Blitzeseile sammelte der Hauptmann ein Häuflein im Zimmer des Erdgeschosses um einen Ausfall mit aufgepflanztem Bajonette zu machen. – Dann flog er wieder hinauf. Er war kaum angekommen, als man ein eiliges Getrappel, begleitet von einem furchtbaren Hurrah hörte und durch die Fenster die zweispitzigen Hüte der italienischen Carabinieri durch den Rauch herankommen sah, eine Schwadron im Galopp, in der Luft ein Blitzen von geschwungenen Klingen, welche niedersausten auf Köpfe und Schultern und Rücken; – jetzt brach das Häufchen mit aufgepflanztem Bajonett durch die Türe; – die Feinde wankten, kamen in Unordnung, ergriffen die Flucht; der Platz, das Haus wurde frei und kurz nachher besetzten zwei Bataillone italienischer Infanterie und zwei Kanonen die Anhöhe.

Der Hauptmann stieß mit den Soldaten, die ihm geblieben waren, zu seinem Regiment, kämpfte noch und wurde im letzten Bajonettangriff von einer abgeprallten Kugel an der linken Hand leicht verwundet. Der Tag endigte mit dem Siege der Unsrigen.

Aber am folgenden Tage, als der Kampf von neuem begonnen hatte, wurden die Italiener trotz des heldenmütigen Widerstandes von der Überzahl der Feinde erdrückt und am Morgen des 26. mußten sie traurig den Rückzug gegen den Mincio antreten.

Der Hauptmann, obgleich verwundet, machte den Weg mit seinen müden und stummen Soldaten zu Fuß, und als er bei Sonnenuntergang in Goito am Mincio ankam, suchte er sofort seinen Lieutenant mit dem verwundeten Arm, der von unserer Ambulanz abgeholt worden war und der hier vor ihm angekommen sein mußte. Es wurde ihm eine Kirche bezeichnet, die in Eile in ein Feldlazarett umgewandelt worden war. Er ging dorthin. Die Kirche war voll von Verwundeten, die in zwei Reihen auf Betten und auf den am Boden ausgebreiteten Matratzen dalagen; zwei Ärzte und mehrere Krankenwärter kamen und gingen eilig und man hörte erstickte Schreie und Gestöhn.

Kaum war der Hauptmann eingetreten, so stand er still und blickte rings umher, indem er seinen Offizier suchte.

In diesem Augenblick hörte er sich von einer matten, sehr nahen Stimme rufen: – Herr Hauptmann! Er drehte sich um: es war der kleine Tambour.

Er lag auf einem schlechten Feldbett – bis zur Brust mit einem rot und weiß karrierten, groben Fenstervorhang bedeckt, – bleich und abgemagert, aber noch blitzten seine Augen wie zwei schwarze Edelsteine.

– »Bist du es?« – fragte ihn der Hauptmann verwundert, aber barsch. – »Brav. Du hast deine Pflicht gethan.«

– »Ich habe mein möglichstes gethan,« – antwortete der Tambour.

– »Bist du verwundet worden?« – sagte der Hauptmann, während seine Augen in den benachbarten Betten seinen Offizier suchten.

– »Was wollen Sie!« sagte der Knabe, dem das stolze Gefühl, das erste Mal verwundet zu sein, Mut gab, denn sonst hätte er nicht gewagt, vor diesem Hauptmann den Mund zu öffnen; – »ich hatte gut laufen und den Rücken krümmen, sie haben mich gleich gesehen. Ich wäre zwanzig Minuten früher angekommen, wenn sie mich nicht getroffen hätten. Zum Glück fand ich sofort einen Offizier vom Generalstab und gab ihm das Billet. Aber es war ein schlimmer Abstieg, nach dieser Liebkosung! Ich starb fast vor Durst, fürchtete nicht mehr anzukommen, weinte vor Wut bei dem Gedanken, daß in jeder Minute Verspätung dort oben einer die Reise in die andere Welt mache. Kurz, ich habe gethan, was ich konnte. Ich bin zufrieden. Aber sehen Sie da, mit Verlaub, Herr Hauptmann, Sie verlieren Blut.«

Wirklich flossen von der schlecht verbundenen Hand des Hauptmanns einige Blutstropfen über die Finger herunter.

– »Wollen Sie, daß ich die Binde ein wenig fester anziehe, Herr Hauptmann? Reichen Sie die Hand einen Augenblick.«

Der Hauptmann reichte ihm die linke Hand dar und hob die rechte, um dem Knaben zu helfen den Knoten aufzulösen und wieder zu knüpfen; aber der Knabe, der sich kaum vom Kissen erheben konnte, wurde bleich und mußte den Kopf wieder zurücksinken lassen.

– »Es ist gut, es ist gut,« – sagte der Hauptmann, indem er ihn betrachtete und die verbundene Hand, welche jener halten wollte, zurückzog: – »gieb auf deine Wunden acht, anstatt an die anderen zu denken; denn auch leichte Wunden, wenn man sie schlecht pflegt, können gefährlich werden.«

Der kleine Tambour schüttelte den Kopf.

– »Aber du,« – sagte der Hauptmann zu ihm, indem er ihn aufmerksam betrachtete, »du mußt viel Blut verloren haben, um so schwach zu sein.«

– »Viel Blut verloren?« – antwortete der Knabe mit einem Lächeln. – »Mehr als Blut. Sehen Sie!«

Und er zog rasch die Decke weg.

Der Hauptmann wich erschrocken einen Schritt zurück. Der Knabe hatte nur noch ein Bein: das linke war ihm oberhalb des Knies abgenommen und der Stumpf mit blutigen Tüchern umwickelt.

In diesem Augenblick trat ein kleiner, dicker Militärarzt in Hemdärmeln herzu. – »Ah! Herr Hauptmann,« – sagte er rasch, – indem er auf den Tambour deutete, – »das ist ein unglücklicher Fall; ein Bein, das leicht hätte gerettet werden können, wenn er es nicht auf wahnsinnige Art überanstrengt hätte; eine verwünschte Entzündung; es war nötig, dasselbe sofort abzunehmen. O, aber … ein braver Knabe, ich versichere es Ihnen; er hat nicht eine Thräne vergossen, nicht einen Schrei ausgestoßen, als ich die Operation vornahm; ich war stolz darauf, daß er ein kleiner Italiener war, auf Ehrenwort. Der ist von gutem Schlag, bei Gott!

Und eilig ging er weiter.

Der Hauptmann zog die großen, weißen Augenbrauen zusammen, sah den Tambour starr an, indem er ihn wieder zudeckte; dann erhob er langsam, wie unabsichtlich, und ihn immer betrachtend, die Hand, und zog das Käppi.

– »Herr Hauptmann!« – rief der Knabe verwundert aus. – »Was machen Sie?« – »Vor mir?«

Und dann antwortete dieser rauhe Soldat, der nie ein freundliches Wort zu einem seiner Untergebenen gesagt hatte, mit unsäglich freundlicher und sanfter Stimme: – »Ich bin nur ein Hauptmann; du bist ein Held.«

Dann warf er sich mit geöffneten Armen auf den kleinen Tambour und küßte ihn dreimal aufs Herz.

Vaterlandsliebe.

24. – Dienstag.

Weil die Erzählung vom »kleinen Tambour« dein Herz so gerührt hat, sollte es dir ein Leichtes gewesen sein, diesen Morgen den Aufsatz: – Warum liebet ihr Italien? – gut zu machen. Warum liebe ich Italien? Haben sich dir nicht sofort hundert Antworten aufgedrängt? Ich liebe Italien, weil meine Mutter Italienerin ist; weil das Blut, das durch meine Adern fliesst, italienisch ist; weil die Erde italienisch ist, in der die Toten, die meine Mutter beweint und mein Vater verehrt, begraben sind; weil die Stadt, wo ich geboren bin, die Sprache die ich spreche, die Bücher welche mich erziehen, weil mein Bruder, meine Schwester, meine Gefährten, das grosse Volk in dessen Mitte ich lebe, die schöne Natur, die mich umgiebt, und alles was ich sehe, was ich liebe, was ich lerne, bewundere, italienisch ist. O du kannst diese Liebe noch nicht begreifen! Du wirst sie voll empfinden, wenn du ein Mann sein wirst, wenn du, nach langer Abwesenheit, von einer langen Reise zurückkehrend eines Morgens vom Verdecke eines grossen Schiffes am Horizont die grossen, blauen Berge deines Landes sehen wirst; du wirst sie fühlen in der stürmischen Welle von Zärtlichkeit, welche dir die Augen mit Thränen füllt und dein Herz aufjauchzen lässt. Du wirst sie fühlen in irgend einer grossen Stadt, in dem Trieb deines Herzens, der dich in der unbekannten Menge zu einem unbekannten Handwerker hinzieht, von dem du im Vorbeigehen ein Wort in deiner Sprache gehört hast. Du wirst sie fühlen, in der schmerzlichen und stolzen Verachtung, die dir das Blut ins Gesicht treibt, wenn du dein Land aus dem Munde eines Fremden beschimpfen hörst. Du wirst sie noch heftiger und stolzer fühlen am Tage, an welchem ein feindliches Volk dein Vaterland mit Krieg bedroht und du siehst, wie die Waffen von allen Seiten toben, wie Jünglinge in Legionen herbeieilen, wie die Väter die Söhne küssen und ihnen zurufen: – »Mut!« – die Mütter den Jünglingen lebewohl sagen, indem sie rufen: – »Sieget!« – Du wirst sie fühlen wie eine göttliche Freude, wenn du das Glück haben wirst, die gelichteten, müden, zerfetzten, schrecklich zugerichteten Regimenter wieder in deine Stadt einziehen zu sehen, mit dem Siegesglanz in den Augen und den von den Kugeln zerrissenen Fahnen, gefolgt von einem unabsehbaren Zuge von Tapfern, welche die verbundenen Häupter in die Höhe heben, und von Verstümmelten, inmitten einer vor Freude närrischen Menge, welche sie mit Blumen, Segenswünschen und Küssen bedeckt. Alsdann wirst du die Vaterlandsliebe verstehen, dann wirst du fühlen, was Vaterland heisst, Heinrich. Es ist eine so grosse, heilige Sache, dass wenn ich dich eines Tages unversehrt aus einer für dasselbe geschlagenen Schlacht zurückkehren sähe, unversehrt dich der du mein Fleisch und Blut bist und ich wüsste, dass du dir dein Leben erhalten hast, indem du feige dem Tode auswichest, so würde ich dich mit bittern Thränen empfangen, ich könnte dich nicht mehr lieben und würde vor Scham und Kummer sterben.

Dein Vater.

Neid.

25. – Mittwoch.

Auch den Aufsatz über das Vaterland hat Derossi von allen am besten gemacht. Und doch zählte Votini fest darauf, den ersten Preis zu erhalten! Ich mochte ihn wohl leiden, den Votini, obgleich er ein wenig eitel ist, aber jetzt muß ich ihn verachten, seit ich in seiner Bank bin, und sehe, wie er auf Derossi neidisch ist. Er möchte mit ihm wetteifern, lernt fleißig, aber der andere überholt ihn zehnmal in allen Fächern und Votini beißt sich vor Grimm in die Finger. Auch Carlo Nobis beneidet ihn, aber er hat so viel Stolz im Leibe, daß er gerade aus Stolz sich nicht den Anschein giebt. Votini hingegen verrät sich, beklagt sich zu Hause über die Noten und sagt dem Lehrer Ungerechtigkeiten nach; und wenn Derossi so pünktlich und gut antwortet, wie er es immer thut, wird er grämlich, senkt den Kopf und thut, als ob er nichts höre, oder zwingt sich zu lachen, aber er lacht vor Zorn. Und da es alle wissen, so schauen sie, wenn der Lehrer Derossi lobt, nach Votini, welcher vor Wut kocht, und das Maurermeisterlein schneidet ihm das Hasenmäulchen. Diesen Morgen z. B. trieb er es zu arg. Der Lehrer trat ins Zimmer und kündete das Resultat des Examens an: – »Derossi zehn Zehntel und den ersten Preis,« – Votini nießte heftig. Der Lehrer sah ihn an: er war sogleich im klaren. – »Votini,« sagte er ihm, – »laß nicht die Schlange des Neides an dich heran kommen: es ist eine Schlange, die am Gehirn nagt und das Herz verdirbt.« – Alle betrachteten ihn, mit Ausnahme von Derossi; Votini wollte antworten, aber er konnte nicht; er blieb wie versteinert mit weißem Gesicht. Dann als der Lehrer unterrichtete, schrieb er in großen Buchstaben auf ein Blatt: – » Ich bin nicht neidisch auf diejenigen, welche die ersten Preise durch Protektion und Ungerechtigkeit erhalten.« Es war ein Billet, das er Derossi schicken wollte. Aber inzwischen sah ich, daß die Nachbarn Derossis unter sich flüsterten, und einer schnitt mit dem Federmesser eine große Medaille aus Papier, auf die sie eine schwarze Schlange gezeichnet hatten. Auch Votini bemerkte es. Der Lehrer ging auf einen Augenblick hinaus. Sofort erhoben sich die Nachbarn Derossis, um aus der Bank zu treten und Votini die Medaille aus Papier feierlich zu überbringen. Die ganze Klasse erwartete einen Auftritt. Votini zitterte schon am ganzen Leibe. Derossi rief: – »Gebt sie mir!« – »Ja es ist besser,« – antworteten die andern, »du mußt sie ihm hintragen.« – Derossi nahm die Medaille und zerriß sie in tausend Stückchen. In diesem Augenblick trat der Lehrer ein und setzte den Unterricht fort. Ich beobachtete Votini; – er war rot geworden wie eine glühende Kohle; – nahm das Blatt ganz langsam, wie in der Zerstreuung, kugelte es heimlich zusammen, steckte es in den Mund, kaute ein wenig daran und spuckte es dann unter die Bank … Beim Hinausgehen ließ Votini, der ein wenig verwirrt war, als er bei Derossi vorbeiging, das Löschblatt fallen, Derossi hob es liebenswürdig auf und legte es ihm in den Schulsack, dessen Tragriemen er ihm einhängen half. Votini wagte nicht aufzuschauen.

Die Mutter Frantis.

28. – Samstag.

Aber Votini ist unverbesserlich. Gestern in der Religionsstunde in Gegenwart des Direktors, fragte der Lehrer Derossi, ob er jene zwei Strophen aus dem Lesebuche kenne:

»Wohin den Schritt wir wenden,
Wir sind in Gottes Händen.«

Derossi verneinte und Votini sagte sofort: – »Ich weiß sie!« – mit einem Lächeln, als wolle er Derossi damit ärgern. Aber im Gegenteil, er selber wurde geärgert, da er das Gedicht nicht hersagen konnte, weil auf einmal Frantis Mutter ins Zimmer trat, ganz außer sich, mit verwirrten, grauen Haaren, vom Schnee durchnäßt und den Sohn, der auf acht Tage von der Schule ausgeschlossen worden war, vor sich herschob. Welch traurige Scene mußten wir mit ansehen! Die arme Frau warf sich dem Direktor fast zu Füßen, indem sie die Hände faltete und bittend rief: O Herr Direktor! erweisen Sie mir die Gnade, nehmen Sie den Knaben wieder in die Schule auf! Seit drei Tagen, da er zu Hause ist, halte ich ihn verborgen, aber Gott behüte uns! Wenn sein Vater die Sache entdeckt, so schlägt er ihn tot; haben Sie Mitleid, ich weiß nicht mehr, was anfangen! ich bitte Sie von ganzem Herzen! – Der Direktor versuchte, sie hinauszuführen; aber sie widerstand immer bittend und weinend. – O wenn Sie wüßten, wie viel Kummer mir dieser Knabe schon gemacht hat, Sie hätten Mitleid mit mir. Erbarmen Sie sich! Ich hoffe, er werde sich bessern. Ich habe ohnedies nur noch kurze Zeit zu leben, Herr Direktor, ich fühle den Tod in mir, aber bevor ich sterbe, möchte ich ihn gebessert sehen, denn, … – und sie brach in heftiges Weinen aus, – er ist mein Sohn, ich liebe ihn, ich müßte in Verzweiflung sterben; nehmen Sie ihn noch einmal, Herr Direktor, damit es kein Unglück in der Familie giebt, thun Sie es aus Mitleid mit einer armen Frau! – Und sie bedeckte sich schluchzend das Gesicht mit den Händen. Franti senkte den Kopf ohne eine Spur von Rührung. Der Direktor betrachtete ihn, dachte ein wenig nach und sagte dann: – »Franti, geh an deinen Platz.« – Nun nahm die Frau die Hände vom Gesicht, ganz getröstet und begann zu danken und wieder zu danken, ohne den Direktor sprechen zu lassen, und ging der Türe zu, indem sie die Augen trocknete und keuchend sagte: – »Mein Sohn, ich ermahne dich. Habet alle Geduld mit ihm. – Dank, Herr Direktor, Sie haben ein Werk christlicher Nächstenliebe gethan. – Sei brav, nicht wahr, mein Sohn. – Lebt wohl, liebe Knaben. – Dank und auf Wiedersehen, Herr Lehrer. Und entschuldigen Sie, bitte haben Sie Geduld mit einer armen Mutter.« – Und nachdem sie auf der Schwelle dem Sohne noch einen bittenden Blick zugeworfen hatte, ging sie, indem sie den Shawl, den sie nachschleppte, zusammennahm, bleich, gebeugt, zitternd weg, und wir hörten sie noch von der Treppe herauf husten. Der Direktor sah Franti unter dem Schweigen der ganzen Klasse fest an und sagte mit einem Ausdruck, der einen zittern machte: – Franti, du mordest deine Mutter! – Alle wandten sich, um nach Franti zu sehen. Und der Elende lächelte.

Hoffnung.

29. – Sonntag.

Es war schön, Heinrich, wie du dich, aus der Religionsstunde zurückkehrend, ans Herz deiner Mutter warfst. Ja, der Lehrer hat euch grosse und tröstende Worte gesagt. Gott, der uns einander in die Arme geführt hat, wird uns nicht für immer trennen; wenn ich sterben werde, wenn dein Vater sterben wird, werden wir nicht jene schrecklichen und verzweifelten Worte aussprechen: – Mutter, Vater, Heinrich, ich werde dich nie mehr sehen! – Wir werden uns in einem andern Leben wieder sehen, wo derjenige, der in diesem gelitten hat, belohnt werden wird, wo derjenige, der auf Erden geliebt hat, die ihm teuren Seelen in einer Welt wieder finden wird, wo es keine Schuld, keine Thränen und keinen Tod mehr giebt. Aber wir müssen uns alle dieses Lebens würdig machen. Höre, mein Sohn: jede deiner guten Handlungen, jede deiner Liebesbezeugungen für diejenigen, welche dich lieben, jede freundliche That deinen Kameraden gegenüber, jeder deiner edlen Gedanken ist wie ein Aufschwung zu jener Welt. Und auch jedes Unglück, jeder Schmerz hebt dich zu jener Welt empor, weil jeder Schmerz eine Schuld tilgt, weil jede Thräne einen Flecken auslöscht. Fasse jeden Tag den Vorsatz, besser und liebenswürdiger zu sein, als den Tag vorher. Sage jeden Tag: heute will ich etwas thun, dass mich mein Gewissen lobt und mein Vater zufrieden ist, etwas, dass ich von diesem oder jenem Kameraden, vom Lehrer, von meinem Bruder oder von andern geliebt werde. Und bitte Gott, er möge dir Kraft verleihen, deinen Vorsatz zur That zu machen. Herr, ich will gut, edel, mutig, liebreich, aufrichtig sein; hilf mir! mache dass jeden Abend, wenn meine Mutter mir den letzten Gruss bietet, ich sagen kann: Du küssest diesen Abend ein rechtschaffeneres und würdigeres Kind, als du gestern abend geküsst hast. Behalte immer jenen andern, verklärten und glücklichen Heinrich, zu dem du nach diesem Leben berufen bist, im Sinne. Und bete. Du kannst dir nicht denken, welche Süssigkeit eine Mutter empfindet, um wie vieles glücklicher sich eine Mutter fühlt, wenn sie ihr Kind mit gefalteten Händen sieht. Wenn ich dich beten sehe, scheint es mir unmöglich, dass nicht einer da sei, der dich bewache und dich höre. Ich glaube dann fester, dass es eine höchste Güte, eine unendliche Liebe giebt, ich liebe dich mehr, arbeite mit höherem Eifer, dulde mit grösserer Kraft, verzeihe von ganzer Seele und denke heitern Herzens an den Tod. O grosser und guter Gott, lass mich nach dem Tode die Stimme meiner Mutter wieder hören, meine Kinder wieder finden, meinen Heinrich wieder sehen, meinen gesegneten und unsterblichen Heinrich, und ihn an mein Herz drücken und nie mehr verlieren, nie, nie mehr, in Ewigkeit! O bete, wir wollen beten, wir wollen uns lieben, wir wollen gut sein, wir wollen diese himmlische Hoffnung im Herzen tragen, mein geliebtes Kind.

Deine Mutter.


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