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November.

Mein Freund Garrone.

4. – Freitag.

Wir hatten nur zwei Tage Ferien, und doch schien es mir, ich hätte meinen Freund Garrone lange nicht gesehen. Je länger ich ihn kenne, je mehr muß ich ihn lieben, und so geht es allen andern, ausgenommen den Gewaltthätigen, die mit ihm nicht einig gehen, weil er keine Ungerechtigkeiten duldet. Jedesmal, wenn ein Großer die Hand gegen einen Kleinen aufhebt, so ruft der Kleine: Garrone! – und der Große schlägt nicht mehr. Sein Vater ist Lokomotivführer; er selber trat spät in die Schulen ein, weil er zwei Jahre krank war. Er ist der größte und stärkste der Klasse, hebt eine Bank mit einer Hand auf, ißt immer und ist gut. Jeden Gegenstand, den man von ihm verlangt: Bleistift, Gummi, Papier, Federmesser, alles leiht er oder giebt es ganz her; in der Schule schwatzt oder lacht er nie; er sitzt in der Bank, die für ihn zu eng ist, immer unbeweglich mit gekrümmtem Rücken, den großen Kopf zwischen den Schultern, und wenn ich ihn betrachte, so lächelt er mich mit halbgeschlossenen Augen an, wie wenn er mir sagen wollte: – Nun, Heinrich, sind wir Freunde? – Aber man muß lachen, wie dem großen und starken Jungen alles zu eng und zu kurz ist; Jacke, Hose und Ärmel; der Hut paßt nicht auf seinen Kopf, die Haare trägt er kurzgeschoren, an den Füßen mächtige Schuhe und die Krawatte immer wie einen Strick umgebunden. Lieber Garrone! man braucht dir nur einmal ins Gesicht zu schauen, so bist du einem schon lieb! Alle Kleinen möchten gerne in seiner Nähe sitzen. Er kann gut rechnen. Die Bücher trägt er immer mit einem Riemen von rotem Leder zusammengebunden. Er hat ein Messer mit einem Perlmuttergriff, das er voriges Jahr auf dem Waffenplatz fand, und eines Tages durchschnitt er sich den Finger bis auf den Knochen, aber niemand in der Schule bemerkte es und zu Hause jammerte er nicht, um die Eltern nicht zu erschrecken. Vieles läßt er sich im Spaß sagen, und nimmt es nicht übel; aber wehe denen, die zu ihm sagen: – Es ist nicht wahr, – wenn er etwas behauptet: dann sprühen seine Augen Feuer und er schlägt mit der Faust auf die Bank, daß sie fast in Stücke geht. Am Samstag Morgen gab er einem Schüler der ersten Klasse, der mitten auf der Straße weinte, einen Soldo, weil sie ihm den seinigen genommen hatten und er sich kein Heft mehr kaufen konnte. Seit drei Tagen arbeitet er an einem Briefe von acht Seiten, mit Federzeichnungen am Rande, zum Namenstag seiner Mutter, die ihn oft abholt. Sie ist groß und stattlich wie er und liebenswürdig. Der Lehrer betrachtet ihn immer, und jedesmal wenn er bei ihm vorbeigeht, klopft er ihm auf den Hals, wie einem frommen jungen Füllen. Ich habe ihn gern und bin ganz glücklich, wenn er mit seiner großen Hand, welche die eines Mannes scheint, die meine drückt. Ich bin gewiß, daß er sein Leben wagen würde, um dasjenige eines Kameraden zu retten, daß er sich totschlagen ließe, um ihn zu verteidigen; man sieht das so klar in seinen Augen; und obgleich seine derbe Stimme nur wie ein Gebrumm tönt, kommt sie aus einem edlen Herzen, man fühlt das gleich.

Der Kohlenhändler und der Herr.

7. – Montag.

Nein, Garrone hätte nie ein Wort ausgesprochen, wie gestern Morgen Carlo Nobis es zu Betti sagte. Carlo Nobis ist stolz darauf, daß sein Vater ein großer Herr ist, hoch gewachsen, mit einem ganz schwarzen Barte, sehr ernst; er begleitet seinen Sohn fast alle Tage. Gestern Morgen zankte Nobis mit Betti, einem der Kleinsten, dem Sohne eines Kohlenhändlers, und da er ihm nichts mehr zu antworten wußte, weil er im Unrecht war, sagte er laut: – Dein Vater ist ein Lump. – Betti wurde rot bis an die Haare und sagte nichts, aber die Thränen kamen ihm in die Augen und nach Hause zurückgekehrt, wiederholte er seinem Vater das Wort; und nun erschien der Kohlenhändler, ein kleiner, ganz schwarzer Mann, am Nachmittag mit dem Knaben an der Hand, um sich beim Lehrer zu beklagen. Während er seine Klage dem Lehrer vortrug und alle schwiegen, hörte Nobis' Vater, der wie gewöhnlich seinem Sohne unter der Türe den Mantel abnahm, seinen Namen aussprechen, trat ein und fragte, um was es sich handle.

Dieser Arbeiter, – antwortete der Lehrer, – ist gekommen, um sich zu beklagen, weil Ihr Sohn Carlo zu seinem Knaben sagte: Dein Vater ist ein Lump.

Der Vater von Nobis runzelte die Stirne und errötete leicht. Dann fragte er seinen Sohn: – Hast du dieses Wort ausgesprochen? –

Carlo, der in der Mitte der Schule gesenkten Hauptes vor dem kleinen Betti stand, antwortete nicht.

Nun nahm ihn der Vater beim Arme und schob ihn noch näher gegen Betti, daß sie sich fast berührten und sagte: – Bitte um Verzeihung!

Der Kohlenhändler wollte dazwischentreten und sagte: – Nein, nein! – aber der Herr achtete seiner nicht und wiederholte seinem Sohne: – Bitte ihn um Verzeihung! Wiederhole meine Worte: Verzeihe mir das beleidigende, unbesonnene Schimpfwort, das ich gegen deinen Vater brauchte, welchem die Hand zu drücken mein Vater für eine Ehre hält. –

Der Kohlenhändler machte eine entschlossene Bewegung, als wollte er sagen: – Ich will nicht. – Der Herr gab ihm kein Gehör, und sein Sohn sagte langsam, mit leiser Stimme, ohne die Augen vom Boden aufzuheben: – Verzeihe mir … das beleidigende … unbesonnene … Schimpfwort, das ich gegen deinen Vater brauchte, welchem die Hand zu drücken mein Vater für eine Ehre hält.

Nun reichte der Herr dem Kohlenhändler die Hand, der sie kräftig drückte, und dann stieß er plötzlich seinen Knaben in die Arme des Carlo Nobis.

– Machen Sie mir das Vergnügen, und setzen Sie die Knaben neben einander, – sagte der Herr zum Lehrer. Der Lehrer setzte Betti in Nobis' Bank. Als sie an ihren Plätzen waren, verbeugte sich der Herr grüßend und entfernte sich.

Der Kohlenhändler stand einige Augenblicke ganz nachdenklich da, indem er die zwei beieinandersitzenden Knaben betrachtete; dann näherte er sich der Bank, sah Nobis fest an, mit einem Ausdruck von Zuneigung und Trauer, als ob er etwas sagen wollte; aber er sagte nichts; er streckte die Hand aus, um ihn zu liebkosen, wagte es aber nicht, sondern streichelte ihm nur die Stirne mit seinen groben Fingern. Dann wandte er sich der Türe zu, kehrte sich noch einmal um, ihn zu betrachten, und verschwand. – Erinnert euch wohl an das, was ihr gesehen habt, Knaben, – sagte der Lehrer, – das ist die schönste Lektion des Jahres.

Die Lehrerin meines Bruders.

10. – Donnerstag.

Der Sohn des Kohlenhändlers war Schüler der Lehrerin Delcati, welche heute gekommen ist, meinen Bruder zu besuchen, der unwohl war. Sie machte uns lachen, als sie erzählte, wie die Mutter dieses Knaben ihr vor zwei Jahren eine große Schürze voll Kohlen ins Haus getragen habe, um ihr zu danken, daß sie ihrem Sohn die Medaille gegeben; und sie bestand hartnäckig darauf, die arme Frau, und wollte die Kohlen nicht mehr nach Hause tragen, und weinte fast, als sie doch mit der vollen Schürze heimkehren mußte. Auch von einer andern Frau hat sie uns erzählt. Diese brachte ihr einen sehr schweren Blumenstrauß, in welchem ein Haufen Soldi war. Wir unterhielten uns so gut bei diesen Geschichten, daß mein Bruder sogar die Medizin schluckte, welche er zuerst nicht hatte nehmen wollen. Wie viel Geduld braucht es mit diesen Knaben der ersten Klasse, welche alle zahnlos sind, wie alte Leute, und das r und s nicht aussprechen können; der eine hustet, der andere blutet aus der Nase; da verliert einer die Holzschuhe unter der Bank, dort heult einer, weil er sich mit der Feder gestochen, und jener andere weint, weil er ein Heft Numero zwei statt Numero eins gekauft hat. Fünfzig in einer Klasse, welche gar nichts wissen, mit ihren butterweichen Händchen, und alle sollen Lesen und Schreiben lernen! Sie bringen Süßholzstengel, Knöpfe, Flaschenkorke, Ziegelmehl und allerlei andere Sächelchen in die Schule. Die Lehrerin muß die Taschen durchsuchen und darum verbergen sie diese Dinge sogar in den Schuhen. Und wären sie noch aufmerksam! Aber eine große Fliege, die durchs Fenster hereinkommt, macht alles drunter und drüber, und im Sommer bringen sie Kräuter mit und Maikäfer, welche umherfliegen, oder in das Tintenfaß fallen und dann noch die Hefte beflecken. Die Lehrerin muß wie eine Mutter sie ankleiden helfen, die verletzten Finger verbinden, die Mützen aufheben, die zu Boden fallen, Obacht geben, daß sie die Mäntel nicht verwechseln, weil es sonst ein schreckliches Geschrei gäbe. Arme Lehrerinnen! Und dann kommen noch die Mütter, um zu klagen: wie kommt es, Fräulein, daß mein Kind die Feder verloren hat? warum lernt mein Knabe nichts? warum geben Sie dem meinigen, der doch so viel weiß, die Ehrenmeldung nicht? warum lassen Sie den Nagel, der meinem Piero die Hose zerriß, nicht aus der Bank ziehen?

Hie und da wird sie auch böse mit den Knaben, die Lehrerin meines Bruders, und wenn sie sich nicht mehr zu halten weiß, so beißt sie sich in einen Finger, um sich nicht zu einer Ohrfeige hinreißen zu lassen; sie verliert die Geduld, aber dann bereut sie es wieder und liebkost das Kind, das sie ausgezankt hat; sie jagt wohl einen Jungen aus der Schule, aber dabei muß sie die Thränen verschlucken, und sie wird zornig über die Eltern, welche die Kinder zur Strafe fasten lassen. Sie ist jung und groß, die Lehrerin Delcati, gut gekleidet, braun und so lebhaft, als ob bei ihr alles auf Sprungfedern ginge; durch ein Nichts wird sie in Rührung versetzt und spricht alsdann mit großer Zärtlichkeit. – Aber die Kinder gewinnen Sie doch lieb, – sagte ihr meine Mutter. –

Viele ja, – antwortete sie, aber dann, wenn das Jahr beendet ist, so sieht der größere Teil einen nicht mehr an. Wenn sie zu den Lehrern gehen, so schämen sie sich fast, daß sie bei uns gewesen sind, bei einer Lehrerin. Nach zwei Jahren voll Sorgen und nachdem man ein Kind recht lieb gewonnen hat, stimmt es einen traurig, sich von ihm zu trennen, aber man sagt sich: – O, das ist sicher, dieses da wird mich immer lieb haben. – Doch die Ferien gehen vorüber, man kommt wieder in die Schule, und ich laufe ihm entgegen: O mein Kind, mein Kind! – Da dreht es den Kopf nach der andern Seite. –

Hier unterbrach sich die Lehrerin. – Aber du wirst es nicht so machen, Kleiner? – sagte sie dann, indem sie mit feuchten Augen sich erhob und meinen Bruder küßte, – du wirst den Kopf nicht nach der andern Seite drehen, nicht wahr? Du wirst deiner armen Freundin nicht abtrünnig werden.

Meine Mutter.

10. November. – Donnerstag.

In Gegenwart der Lehrerin deines Bruders hast du dich deiner Mutter gegenüber unmanierlich betragen! Möge dies nie mehr vorkommen, Heinrich, nie mehr! Dein unehrerbietiges Wort ist mir ins Herz gedrungen, wie eine Stahlklinge. Ich dachte an deine Mutter, wie sie, Jahre sind seither vergangen, sich eine ganze Nacht über dein Bettchen beugte, um deinen Atem zu beobachten, wie sie voll Bangen bitter weinte und die Zähne vor Angst zusammenschlug, da sie glaubte, dich zu verlieren, ja, ich fürchtete, dass sie wahnsinnig werde; daran musste ich denken, und es beschlich mich dir gegenüber ein bitteres und wehmütiges Gefühl. Du deine Mutter beleidigen! Deine Mutter, die ein Jahr voll Glückseligkeit hingäbe, um dir eine Stunde des Schmerzes zu ersparen, welche für dich betteln gehen, welche sich töten lassen würde, um dir das Leben zu retten! Höre Heinrich! Behalte gut im Gedächtnis, was ich dir sage.

Glaube nur, dass dir im Leben viele schreckliche Tage bestimmt sind; aber der schrecklichste von allen ist der, an dem du deine Mutter verlieren wirst. Tausendmal, Heinrich, wenn du schon ein Mann bist, stark, in Kämpfen erprobt, wirst du sie anrufen, getrieben von dem mächtigen Verlangen, nur einen Augenblick ihre Stimme zu hören, ihre offenen Arme wieder zu sehen, um dich schluchzend hinein zu werfen, wie ein Kind, ein schutzloses, hilfloses Kind. Wie wirst du dich dann jeder Bitterkeit erinnern, die du ihr verursacht hast, und mit welchen Gewissensbissen wirst du sie büssen. Unglücklicher! Hoffe auf keine Lebensfreude, wenn du deine Mutter betrübt hast. Du wirst es bereuen, wirst sie um Vergebung bitten, so oft du an sie denkst; – vergeblich; – das Gewissen wird dir keinen Frieden geben, jenes süsse, sanfte Bild wird für dich immer einen Ausdruck von Traurigkeit und Vorwurf haben, der deiner Seele Folterqualen verursacht. Heinrich, bedenke: dies ist das heiligste aller menschlichen Gefühle, unselig derjenige, der es mit Füssen tritt! Der Mörder, der seine Mutter achtet, hat immer noch gute und edle Gefühle im Herzen; der ruhmreichste Mensch, welcher sie betrübt oder beleidigt, ist ein Elender. Möge nie mehr deinem Munde ein hartes Wort entfahren gegen sie, die dir das Leben gab. Und wenn dir je eines entschlüpfen sollte, dann sei es nicht die Furcht vor deinem Vater, es sei der Antrieb deines eigenen Herzens, der dich zu ihren Füssen wirft, sie zu bitten, sie möge mit dem Kusse der Versöhnung das Brandmal des Undanks von deiner Stirne tilgen. Ich liebe dich, mein Sohn, du bist die teuerste Hoffnung meines Lebens, aber ich möchte dich lieber tot sehen als undankbar gegen deine Mutter. Denke daran und bringe mir für eine Zeit lang keine Liebkosung entgegen: ich könnte sie dir nicht von Herzen erwidern.

Dein Vater.

Mein Freund Coretti.

13. – Sonntag.

Mein Vater hat mir verziehen; aber ich blieb ein wenig traurig, und da schickte mich meine Mutter mit dem erwachsenen Sohne des Pförtners auf den Corso, um spazieren zu gehen. Als ich ungefähr in der Mitte des Corso bei einem Wagen vorüberging, der vor einem Magazin stand, hörte ich mich beim Namen rufen, ich drehte mich um: es war Coretti, mein Schulkamerad, mit seiner braunen, gestrickten Jacke und seiner Mütze von Katzenfell, er schwitzte stark und war guter Dinge, er hatte eine große Bürde Holz auf den Schultern. Ein Mann stand aufrecht auf dem Wagen und reichte ihm einen Arm voll Holz um den andern, Coretti ergriff es und trug es in das Magazin seines Vaters, wo er es in größter Eile aufschichtete.

– Was machst du, Coretti? – fragte ich ihn.

– Siehst du es nicht? – antwortete er, die Arme ausstreckend, um die Last darauf legen zu lassen; ich wiederhole meine Lektion.

Ich lachte. Aber er sprach im Ernst, und nachdem er die Last Holz ergriffen hatte, rief er im Laufen: Unter Beugung des Verbums … versteht man seine Veränderung nach der Zahl … nach der Zahl und der Person …

Und dann, das Holz abwerfend und aufschichtend: – nach der Zeit … nach der Zeit, in welcher man die Handlung erzählt …

Und als er zum Karren zurückkehrte, um einen andern Arm voll zu nehmen: – nach dem Modus, in welchem die Handlung ausgedrückt ist.

Es war unsere Aufgabe in der Grammatik für den folgenden Tag. – Was willst du, – sagte er zu mir, – ich benütze die Zeit, so gut ich kann. Mein Vater ist mit dem Gehülfen eines Geschäftes wegen ausgegangen. Meine Mutter ist krank. Also muß ich abladen. Unterdessen repetiere ich die Grammatik. Heute haben wir eine schwierige Aufgabe. Sie will mir nicht in den Kopf. – Mein Vater hat gesagt, er werde um sieben Uhr hier sein, um euch das Geld zu geben, bemerkte er dann dem Manne mit dem Wagen.

Der Wagen fuhr fort. – Komm einen Augenblick in den Laden, – sagte mir Coretti. Ich trat ein. Es war ein großer Raum voller Holzstöße und Reißbündel und mit einer Schnellwage auf einer Seite. – Heute gilt's den Rücken zu krümmen, das versichere ich dir, – fuhr Coretti fort; – ich muß mir die Zeit für meine Aufgaben stückchenweise stehlen. Ich schrieb die Sätze; da kamen Leute, um zu kaufen. Kaum habe ich wieder zu schreiben angefangen, da kommt der Wagen. Diesen Morgen bin ich schon zweimal auf den Holzmarkt am Venediger-Platz gelaufen. Ich spüre die Beine kaum mehr und habe geschwollene Hände. Ich würde schön dastehen, wenn ich noch die Zeichenaufgabe hätte! – Inzwischen wischte er die dürren Blätter und Splitterchen, welche auf dem mit Backsteinen gepflasterten Boden lagen, mit dem Besen zusammen.

Aber wo machst du die Aufgaben, Coretti? – fragte ich ihn.

Hier nicht, das ist sicher, – antwortete er; – komm und sieh; – und er führte mich in ein kleines Zimmer hinter dem Magazin, welches als Küche und Eßzimmer diente, mit einem Tisch in einer Ecke, wo die Bücher, Hefte und die begonnenen Arbeiten waren. – Richtig, – sagte er, – die zweite Antwort habe ich noch in der Luft schweben lassen: aus dem Leder macht man das Schuhwerk, die Tragriemen … Jetzt füge ich noch bei: die Felleisen. Und er nahm die Feder und begann in seiner schönen Schrift zu schreiben. – Niemand da? – hörte man in diesem Augenblick aus dem Magazin rufen. Es war eine Frau, welche kam, um Reisig zu kaufen. – Hier bin ich, – antwortete Coretti, und sprang hinaus, wog die Reisigbündel ab, nahm die Soldi, lief in einen Winkel um den Verkauf in ein großes Buch einzutragen und kehrte an seine Arbeit zurück, indem er sagte: – Laß uns einmal sehen ob ich dazu komme, meinen Satz zu beendigen. – Und er schrieb: die Reisetaschen, die Tornister für die Soldaten. – Ach, mein armer Kaffee nimmt Reißaus! – rief er plötzlich und lief zum Herde, um die Kaffeekanne vom Feuer zu nehmen. – Es ist der Kaffee für die Mutter, – sagte er, – es war gut, daß ich ihn machen lernte. Warte einen Augenblick, wir werden ihr denselben bringen; so sieht sie dich, es wird ihr Vergnügen machen. Seit sieben Tagen ist sie im Bette … An dieser Kanne verbrenne ich mir noch die Finger! Was muß ich noch beifügen, nach den Tornistern für die Soldaten? Man verfertigt noch andere Sachen, aber sie fallen mir nicht ein. Komm mit zur Mutter!

Er öffnete eine Türe, wir traten in eine andere, kleine Kammer; hier war die Mutter Corettis im Bette, mit einem weißen Tuch um den Kopf.

– Hier ist der Kaffee, Mutter, – sagte Coretti, indem er ihr die Tasse hinreichte; – dies ist einer meiner Schulkameraden. Ah, das ist brav von dem jungen Herrchen, – sagte die Frau zu mir; er kommt um die Kranken zu besuchen, nicht wahr?

Unterdessen legte Coretti die Kissen hinter den Schultern seiner Mutter zurecht, machte die Bettdecken in Ordnung, schürte das Feuer, jagte die Katze von der Kommode herunter. – Brauchst Du noch etwas, Mutter? – fragte er, indem er die Tasse wieder nahm. – Hast Du die zwei Löffel Sirup genommen? Wenn keiner mehr da ist, in zwei Sprüngen bin ich beim Apotheker. Das Holz ist abgeladen. Um vier Uhr werde ich das Fleisch über das Feuer stellen, wie Du gesagt hast, und wenn die Butterfrau vorübergeht, gebe ich ihr die acht Soldi. Alles geht gut, mache Dir nur keine Sorgen.

– Danke, mein Sohn, antwortete die Frau; – armer Sohn, an alles denkt er.

Sie wollte, daß ich ein Stück Zucker annehme, und hierauf zeigte mir Coretti ein kleines Gemälde, das Bild seines Vaters, als Soldat gekleidet, mit der Ehrenmedaille, welche er im Jahre 1866 im Regiment des Prinzen Humbert gewann. Er hat das gleiche Gesicht wie der Sohn, mit denselben lebhaften Augen und dem heitern Lächeln. Wir kehrten in die Küche zurück. – Ich habe das andere gefunden, sagte Coretti und fügte in seinem Hefte bei: man macht auch Pferdegeschirre daraus. – Den Rest mache ich diesen Abend, ich werde lange auf bleiben. Du bist glücklich; du hast Zeit zum Studieren und dann noch zum Spazierengehen!

Immer munter und behende begann er nun im Magazin Holzstücke auf den Block zu legen, um sie in der Mitte durchzusägen und sagte: Das heißt Turnen und ist etwas anderes als »Armstoßen vorwärts«. Der Vater soll all dies Holz gesägt finden, wenn er nach Hause kommt: er wird zufrieden sein. Das Schlimmste ist, daß ich nach dem Sägen t und l mache, welche aussehen wie Schlangen, wie der Lehrer sagt. Was ist da zu thun? Ich werde ihm sagen, daß ich die Arme habe rühren müssen. Die Hauptsache ist, daß meine Mutter bald gesund werde, das ist sicher. Heute befindet sie sich besser, dem Himmel sei Dank. Die Grammatik werde ich morgen früh beim ersten Hahnenschrei studieren. O! hier ist der Wagen mit den Blöcken! Zur Arbeit!

Ein Wagen mit Holzblöcken beladen hielt vor dem Magazin. Coretti lief hinaus um mit dem Manne zu sprechen, dann kehrte er zurück. – Jetzt kann ich dir keine Gesellschaft mehr leisten, – sagte er zu mir; auf Wiedersehen morgen. Du hast gut gethan mich zu besuchen. Angenehmen Spaziergang! Du bist glücklich.

Und er reichte mir die Hand, lief um den ersten Block zu nehmen und begann wieder zwischen Wagen und Magazin hin- und herzulaufen, mit einem Gesicht frisch wie eine Rose unter seiner Mütze von Katzenfell, und geschwind, daß es eine helle Freude war, ihm zuzuschauen.

Du bist glücklich, sagte er. Ach! nein, Coretti, nein: Du bist der Glücklichere, du, weil du mehr lernst und arbeitest, weil du deinem Vater und deiner Mutter nützlicher bist, weil du besser bist, hundertmal besser und tüchtiger, als ich, mein lieber Kamerad.

Der Direktor

18. – Freitag.

Coretti war diesen Morgen zufrieden, denn sein Lehrer von der zweiten Klasse, Herr Coatti, kam, um der monatlichen Prüfung beizuwohnen. Es ist ein hoher Mann mit dichtem, krausem Haupthaar, großem, schwarzen Bart, dunkeln Augen und einer dröhnenden Baßstimme; er droht seinen Schülern immer, sie in Stücke zu hauen, sie am Kragen in den Karzer zu schleppen und schneidet dazu schreckliche Gesichter; aber er straft nie einen, lächelt sogar immer heimlich in den Bart. Mit Coatti sind es acht Lehrer, inbegriffen ein Hilfslehrer, der klein und bartlos ist, so daß er noch wie ein Knabe aussieht. Da ist ein Lehrer der vierten, der hinkt; er ist immer leidend und in ein großes, wollenes Halstuch eingemummt; er holte sich sein Leiden als er noch Lehrer in einer Schule auf dem Lande war, wo die Mauern vor Feuchtigkeit trieften. Ein anderer Lehrer der vierten Klasse ist alt und ganz weißhaarig; er ist Blindenlehrer gewesen. Dann ist da noch ein sehr gut gekleideter, mit einer Brille und einem blonden Schnurrbärtchen, den sie das »Advokätlein« nennen, da er als Lehrer Rechtswissenschaft studiert und das Diplom erhalten hat und auch ein Buch verfaßte, um zu lehren, wie man Briefe schreibe. Der Turnlehrer sieht aus wie ein Soldat; er hat unter Garibaldi gedient und hat am Halse eine Narbe von einem Säbelhieb, den er in der Schlacht von Milazzo erhielt. Dann kommt noch der Direktor, hoch, kahl, mit einer goldenen Brille, einem grauen Bart, der ihm bis auf die Brust reicht, ganz schwarz gekleidet und immer bis unter das Kinn zugeknöpft; er ist so gut mit den Knaben; wenn sie zitternd in sein Zimmer treten, um einen Verweis zu erhalten, dann zankt er sie nicht aus, sondern nimmt sie bei den Händen und sagt ihnen so viel Gründe, warum sie nicht so hätten handeln sollen, und daß sie bereuen müßten und versprechen, gut zu sein, und das sagt er auf eine so gute Art und mit so freundlicher Stimme, daß alle mit nassen Augen herauskommen, zerknirschter, als wenn er sie bestraft hätte. Armer Direktor, er ist immer der erste auf seinem Posten am Morgen, um die Schüler zu erwarten und den Eltern Gehör zu geben, und wenn die Lehrer schon auf dem Heimwege sind, so geht er noch rings um das Schulhaus, um nachzusehen, ob die Knaben einander nicht unter die Kutschen stoßen, oder in den Straßen sich die Zeit mit Spielen vertreiben, oder die Schulsäcke mit Sand und Steinen füllen; und jedesmal, wenn seine hohe, dunkle Gestalt an einer Ecke erscheint, so stieben Schwärme von Knaben nach allen Seiten auseinander; dann droht er ihnen mit dem Zeigfinger von weitem, mit seinem liebreichen und traurigen Ausdruck im Gesichte. Niemand hat ihn mehr lachen sehen, sagt meine Mutter, seit er seinen Sohn verloren hat, der im Heer als Freiwilliger diente; und er hat auf dem Tischchen im Direktionszimmer immer dessen Bild vor sich. Er wollte sich nach diesem Unglücke zurückziehen und hatte sein Entlassungsbegehren an den Gemeinderat schon gemacht, doch ließ er es immer auf seinem Tische liegen, von Tag zu Tag mit der Absendung zögernd, weil es ihn schwer ankam, die Kinder zu verlassen. Aber vor einigen Tagen schien er entschieden, und mein Vater, der bei ihm auf der Direktion war, sagte eben zu ihm: – Wie sehr schade ist's, daß Sie weggehen, Herr Direktor. Da trat ein Mann ein, um einen Knaben einschreiben zu lassen, der aus einer andern Abteilung in die unsrige kam, da er die Wohnung gewechselt hatte. Beim Anblick des Knaben machte der Direktor eine Bewegung der Überraschung – betrachtete ihn eine Zeitlang, – betrachtete das Bild, das er auf dem Tische hat, und betrachtete den Knaben wieder, indem er ihn zwischen seine Knie zog und ihm das Gesicht in die Höhe hob. Dieser Knabe glich ganz seinem toten Sohne. Der Direktor sagte: – Gut; – nahm die Einschreibung vor, verabschiedete Vater und Sohn und blieb in Gedanken versunken. – Wie schade, daß Sie weggehen! – wiederholte mein Vater. Und jetzt nahm der Direktor sein Entlassungsbegehren, riß es in Stücke und sagte: – Ich bleibe.

Die Soldaten.

22. – Dienstag.

Sein Sohn war Freiwilliger im Heere, als er starb; deshalb geht der Direktor immer auf den Corso, um die Soldaten vorbeiziehen zu sehen, wenn wir aus der Schule kommen. Gestern marschierte ein Regiment Infanterie vorüber und fünfzig Knaben begannen um das Musikcorps herumzuhüpfen, indem sie sangen und den Takt mit den Linealen auf Schulsäcken und Mappen dazu schlugen. Wir standen in einer Gruppe auf dem Trottoir und sahen zu: Garrone, in seine zu engen Kleider eingezwängt, biß ein großes Stück Brot mit den Zähnen an; der stets elegant gekleidete Votini, der sich immer die Härchen vom Anzuge liest; Precossi, der Sohn des Schmieds mit seines Vaters Jacke, der Kalabrese und das Maurermeisterlein, Crossi mit dem roten Kopf und Franti mit seinem unverschämten Gesicht; auch Robetti, der Sohn des Artilleriehauptmanns, derselbe der ein Kind vor einem Omnibus rettete, und nun an Krücken geht. Franti lachte einem Soldaten, der hinkte, ins Gesicht. Aber plötzlich fühlte er die Hand eines Mannes auf der Schulter; er drehte sich um: es war der Direktor. – Gieb acht, – sagte ihm der Direktor; einen Soldaten verspotten, wenn er in Reihe und Glied ist, so daß er sich weder rächen noch antworten kann, heißt einen gefesselten Menschen beschimpfen: das ist eine Niederträchtigkeit. – Franti verschwand. – Die Soldaten marschierten zu vier und vier vorbei, in Schweiß gebadet und mit Staub bedeckt, und die Gewehre glänzten in der Sonne. Der Direktor sagte: – Ihr sollt die Soldaten lieben, Knaben. Sie sind unsere Verteidiger, und würden für uns in den Tod gehen, wenn morgen ein fremdes Heer unser Land bedrohte. Auch sie sind Jünglinge und sind nur einige Jahre älter als ihr; auch sie gehen in die Schule; unter ihnen sind Reiche und Arme wie unter euch und sie kommen aus allen Teilen Italiens. Seht, man kann sie fast am Gesicht erkennen: es gehen Sicilianer, Sardinier, Neapolitaner, Lombarden vorüber. Dieses ist ein altes Regiment, von jenen die im Jahre 1848 gekämpft haben. Die Soldaten sind nicht mehr die gleichen, aber die Fahne ist immer dieselbe. Wie viele sind, um diese Fahne geschart, für unser Land schon gestorben, zwanzig Jahre bevor ihr geboren wurdet! – Hier ist sie, – sagte Garrone. Wirklich sah man, noch in einiger Entfernung, die Fahne hoch über die Köpfe der Soldaten hinausragen. Hört, ihr Jungen, – sagte der Direktor, – macht, mit der Hand an der Stirne, euern Schülergruß, wenn unsere Trikolore vorbeiziehen wird! Die Fahne, von einem Offizier getragen, ging vorüber, ganz zerfetzt und verblaßt, mit den an der Stange aufgehängten Ehrenzeichen. Wir legten alle mit einander die Hand an die Stirne. Der Offizier betrachtete uns und erwiderte lächelnd den Gruß. – Brav, Knaben, – sagte jemand hinter uns. – Wir drehten uns um, es war ein Greis, der im Knopfloch das himmelblaue Bändchen des Krimfeldzuges trug: ein pensionierter Offizier. – Brav, – sagte er, – ihr habt euch wacker benommen. – Indessen bog die Regimentsmusik am Ende des Platzes um die Ecke, umgeben von einem Schwarm Knaben und ihr fröhliches Jauchzen begleitete wie ein Kriegsgesang den Klang der Trommeln. – Brav, – wiederholte der alte Offizier, indem er uns betrachtete; – wer die Fahne von klein an achtet, wird sie, wenn er groß geworden, auch zu verteidigen wissen.

Der Beschützer Nellis.

23. – Mittwoch.

Auch Nelli, der arme, kleine Bucklige, betrachtete gestern die Soldaten, aber mit einem Ausdruck, als ob er dächte: – Ich werde nie Soldat sein können! – Er ist gut und fleißig, aber so mager, so bleich und atmet mit soviel Mühe. Er trägt immer eine lange Schürze aus schwarzer, glänzender Leinwand. Seine Mutter ist eine kleine, blonde, schwarz gekleidete Dame, und kommt am Schlusse der Schule immer, um ihn abzuholen, damit er nicht in ein Gedränge gerät, und sie liebkost ihn. Die ersten Tage neckten ihn viele Knaben, weil er das Unglück hat, bucklig zu sein, und klopften ihm mit den Schultaschen auf den Rücken; aber er widersetzte sich nie und sagte auch seiner Mutter nie etwas, um ihr nicht den Schmerz anzuthun ihren Sohn von den Kameraden verspottet zu sehen; sie neckten ihn und er weinte und schwieg und legte die Stirne auf die Bank. Aber eines Morgens sprang Garrone auf und rief: – Dem ersten, der Nelli berührt, gebe ich eine Ohrfeige, daß er taumelt! – Franti achtete nicht darauf, die Ohrfeige flog, das Freundchen machte seine geweissagten Drehungen und seither hat Nelli Ruhe. Der Lehrer setzte ihn in die Nähe von Garrone, in dieselbe Bank. Sie sind Freunde geworden. Nelli hängt sehr an Garrone. Kaum tritt er ins Zimmer, so sucht er ihn schon auf. Er geht nie fort ohne zu sagen: – Addio Garrone. – Und ebenso macht es dieser mit Nelli. Wenn Nelli die Feder oder ein Buch unter die Bank fallen läßt, so bückt sich Garrone sofort, damit jener sich keine Mühe mache und reicht ihm das Buch oder die Feder, und hilft ihm dann die Sachen in die Schultasche packen und den Mantel anziehen. Daher liebt ihn Nelli sehr, betrachtet ihn immer und wenn der Lehrer ihn lobt, so ist er glücklich, wie wenn er selbst das Lob erhielte. Nun hat aber Nelli wahrscheinlich alles seiner Mutter erzählt, von den Neckereien der ersten Tage und denjenigen, die ihn beleidigten, und dann vom Kameraden, der ihn verteidigt und der ihm seine Liebe geschenkt hat, denn: was geschah diesen Morgen? Der Lehrer hieß mich eine halbe Stunde vor dem Schluß den Stundenplan zum Direktor tragen, und ich war im Direktionszimmer, als eine blonde, schwarz gekleidete Frau, die Mutter Nellis, eintrat und sagte: Herr Direktor, ist in der Klasse meines Sohnes ein Knabe, der Garrone heißt? – So ist's, – antwortete der Direktor. – Wollen Sie die Güte haben, ihn einen Augenblick hieherkommen zu lassen? ich muß ein Wort mit ihm sprechen. – Der Direktor rief den Schuldiener und schickte ihn in die Klasse und nach einer Minute stand Garrone in der Türe, mit seinem großen, glattgeschorenen Kopf, ganz verwundert. Kaum erblickte ihn die Dame, so lief sie ihm entgegen, legte ihm die Hände auf die Schultern und indem sie ihn küßte, sagte sie: – Bist du Garrone, der Freund meines Sohnes, der Beschützer meines armen Kindes, bist du es lieber, braver Knabe, bist du es? Hierauf durchstöberte sie schnell die Taschen und die Börse, und da sie nichts fand, nahm sie eine kleine Kette mit einem Kreuzchen vom Hals und hängte sie Garrone um, unter die Halsbinde, und sagte zu ihm: – Nimm sie, trage sie zu meinem Andenken, lieber Knabe, zur Erinnerung an die Mutter Nellis, die dir dankt, und dich segnet.

Der Erste der Klasse.

25. – Freitag.

Garrone erwirbt sich die Liebe aller; Derossi die Bewunderung. Dieser hat die erste Medaille erhalten und wird auch dieses Jahr immer der Erste sein, keiner kann mit ihm wetteifern, alle anerkennen seine Überlegenheit in allen Fächern. Er ist der Erste im Rechnen, in der Grammatik, im Aufsatz, im Zeichnen, begreift alles im Flug, hat ein Gedächtnis, das in Erstaunen setzt, es gelingt ihm alles ohne Anstrengung; es scheint, das Lernen sei ihm ein Spiel. Der Lehrer sagte gestern zu ihm: – Gott hat dir große Talente gegeben, du mußt sie nur nicht mißbrauchen. – Und überdies ist er groß, schön, mit einer großen Krone blonder Löckchen, behend, so daß er über eine Bank springt, indem er bloß eine Hand darauf stützt, und er kann schon fechten. Er ist zwölf Jahre alt, Sohn eines Kaufmanns, trägt immer eine blaue Kleidung mit vergoldeten Knöpfen, ist immer lebhaft, lustig, liebenswürdig mit allen, und hilft an der Prüfung jedem, wenn er kann, und keiner hat noch gewagt, ihm eine Unhöflichkeit oder ein verletzendes Wort zu sagen. Nur Nobis und Franti betrachten ihn mit scheelen Augen, und Votini sprüht Neid aus seinen Blicken; aber er bemerkt es nicht einmal. Alle lächeln ihn an, oder nehmen ihn bei der Hand, oder am Arm, wenn er herumgeht, um in seiner liebenswürdigen Weise die Arbeiten einzusammeln. Er verschenkt illustrierte Zeitungen, Zeichnungen, alles was ihm zu Hause geschenkt wird; für den Kalabresen hat er eine kleine geographische Karte von Kalabrien gemacht; er giebt alles lachend, ohne uns zu beachten, wie ein großer Herr und ohne Vorliebe für irgend einen. Es ist unmöglich, ihn nicht zu beneiden, wenn man sich überall schwächer fühlt, als er. Ach! auch ich beneide ihn, wie Votini. Und ich verspüre eine Bitterkeit, hie und da fast einen Haß gegen ihn, wenn ich zu Hause mit Mühe meine Aufgabe mache und denke, daß er jetzt schon alles beendigt habe, sehr gut und ohne Mühe. Aber dann, wenn ich zur Schule komme und ihn sehe, so schön, so lachend, triumphierend, wenn ich höre, wie er alle Fragen des Lehrers frisch und sicher beantwortet, wie er höflich ist, und wie ihn alle lieben, dann verschwindet jede Bitterkeit, aller Haß aus meinem Herzen, und ich schäme mich, solche Empfindungen gehegt zu haben. Ich möchte immer in seiner Nähe sein, möchte alle Schulen mit ihm besuchen; seine Gegenwart, seine Stimme giebt mir Mut, Lust zur Arbeit, Fröhlichkeit, Vergnügen. – Der Lehrer hat ihm die monatliche Erzählung, welche er morgen lesen wird, abzuschreiben gegeben: »Die kleine lombardische Spähwache«; er schrieb sie diesen Morgen ab und war ganz gerührt von dieser heldenhaften That; sein Gesicht war gerötet, seine Augen feucht und sein Mund zitterte; ich betrachtete ihn: wie schön und edel war er! Mit welchem Vergnügen würde ich ihm freimütig ins Gesicht gesagt haben: Derossi, du bist in allem mehr wert als ich! Du bist ein Mann im Vergleich zu mir! Ich achte und bewundere dich!

Die kleine lombardische Spähwache.

(Monatliche Erzählung.)

26. – Samstag.

Im Jahr 1859, während des Befreiungskrieges der Lombardei, wenige Tage nach der Schlacht von Solferino, welche von den Franzosen und Italienern gegen die Oesterreicher gewonnen worden war, ritt an einem schönen Junimorgen ein kleiner Trupp leichte Reiterei von Saluzzo auf einem einsamen Fußwege langsamen Schrittes dem Feinde entgegen, die Gegend aufmerksam ausspähend. Die Abteilung war geführt von einem Offizier und einem Wachtmeister, und alle schauten unverwandten Auges vor sich, stumm, von einem Augenblick zum andern gewärtig, die weißen Uniformen der feindlichen Vorposten zwischen den Bäumen durch zu erblicken. So kamen sie vor einem Bauernhause an, welches von Eschen umgeben war, und vor dem sich ganz allein ein Knabe von ungefähr zwölf Jahren befand, welcher mit einem Messer einen kleinen Zweig schälte, um sich ein Stöckchen daraus zu machen; aus einem Fenster des Hauses hing eine breite, dreifarbige Fahne; drinnen war niemand: nachdem die Bauern die Fahne aufgepflanzt hatten, waren sie aus Furcht vor den Feinden geflohen. Kaum hatte der Knabe die Reiter gesehen, so warf er den Stock fort und nahm seine Mütze ab. Es war ein schöner Junge mit kühnem Gesicht, großen, blauen Augen und blondem langem Haar: er war in Hemdärmeln und man sah seine nackte Brust.

– Was machst du hier? – fragte ihn der Offizier, sein Pferd anhaltend. – Warum bist du nicht mit deiner Familie geflohen?

– Ich habe keine Familie – antwortete der Knabe. – Ich bin ein Findelkind. Ich arbeite ein wenig für alle. Ich bin hier geblieben, um den Krieg zu sehen.

– Hast du Feinde vorbeigehen sehen?

– Nein, seit drei Tagen nicht.

Der Offizier sann einen Augenblick vor sich hin; dann sprang er vom Pferde, und, die Soldaten dem Feinde zugekehrt zurücklassend, trat er in das Haus und stieg aufs Dach … Das Dach war zu niedrig; man konnte von dort aus nur ein kleines Stück der Gegend sehen. – Man muß auf die Bäume steigen, – sagte der Offizier und kam herunter. Gerade vor der Scheune erhob sich eine sehr hohe und dünne Esche, die ihren Wipfel im blauen Himmel wiegte. Der Offizier dachte einen Augenblick nach, bald den Baum, bald die Soldaten betrachtend; plötzlich fragte er den Knaben:

– Hast du gute Augen, Junge?

– Ich? – antwortete der Knabe. – Ich sehe einen Spatz auf eine Meile weit.

– Wärest du imstande, auf den Gipfel dieses Baumes zu klettern?

– Auf den Gipfel dieses Baumes? ich? In einer halben Minute bin ich oben.

– Und könntest du mir sagen, was du von da droben siehst, ob es auf jener Seite feindliche Soldaten, Staubwolken, glänzende Gewehre, Pferde gibt?

– Ganz gewiß könnte ich das.

– Was willst du für diesen Dienst?

– Was ich will? – sagte der Knabe lächelnd. – Nichts. Das fehlte noch! Und dann … wenn es für die Andern wäre – um keinen Preis; aber für die Unsrigen! Ich bin Lombarde.

– Gut. So geh' hinauf.

– Einen Augenblick! bis ich die Schuhe ausgezogen habe.

Er legte die Schuhe ab, zog den Gürtel fester um den Leib, warf die Mütze ins Gras und umfaßte den Stamm der Esche.

– Aber gieb acht … – rief der Offizier, indem er eine Bewegung machte, als ob er ihn, wie von einer plötzlichen Furcht ergriffen, zurückhalten wollte.

Der Knabe drehte sich um und sah ihn mit seinen schönen, blauen Augen fragend an.

– Nichts, – sagte der Offizier; – steig hinauf. Der Knabe kletterte hinauf wie eine Katze.

– Sehet vorwärts, – rief der Offizier den Soldaten zu.

In wenigen Augenblicken war der Knabe auf dem Wipfel des Baumes, den Stamm umschlingend, mit den Beinen zwischen dem Laub, aber mit dem Körper darüber hinausragend, und die Sonne brannte auf seinen blonden Kopf, daß er schimmerte wie Gold.

Der Offizier sah ihn kaum, so klein erschien er dort oben.

– Schau grad aus in die Weite, – rief der Offizier.

Der Knabe ließ die rechte Hand vom Baume los und legte sie, um besser zu sehen, an die Stirne.

– Was siehst du? – fragte der Offizier.

Der Knabe beugte das Gesicht gegen ihn und indem er seine Hand als Sprachrohr benutzte, antwortete er: – Zwei Männer zu Pferd, auf der weißen Straße.

– In welcher Entfernung von hier?

– Eine halbe Meile.

– Bewegen sie sich?

– Sie halten an.

– Was siehst du weiter? – fragte der Offizier, nach einem Augenblick des Stillschweigens. – Sieh nach rechts.

Der Knabe sah nach rechts.

Dann sagte er: – In der Nähe des Kirchhofes, zwischen Bäumen glänzt etwas. Es scheinen Bajonette zu sein.

– Siehst du Leute?

– Nein, sie werden im Korn verborgen sein. In diesem Augenblick sauste eine Kugel hoch oben pfeifend durch die Luft und schlug weit hinter dem Hause ein.

– Steig herab, Knabe! – schrie der Offizier. – Sie haben dich gesehen. Ich weiß genug. Komm herab.

– Ich fürchte mich nicht, antwortete der Knabe.

– Steig herab … – wiederholte der Offizier, – was siehst du noch, zur Linken?

– Zur Linken?

– Ja zur Linken.

Der Knabe drehte den Kopf nach links: in diesem Augenblick durchschnitt ein anderes Pfeifen, schärfer und tiefer als das erste, die Luft. – Der Knabe fuhr zusammen.

– Donnerwetter! – rief er aus. – Sie haben es wirklich auf mich abgesehen. – Die Kugel war nahe an ihm vorbeigegangen.

– Herunter – schrie der Offizier gebieterisch und erregt.

– Ich komme gleich, – antwortete der Knabe. Aber der Baum schützt mich, zweifeln Sie nicht. Zur Linken, wollen Sie wissen?

– Zur Linken, – antwortete der Offizier; aber steige herab.

– Zur Linken, rief der Knabe, indem er den Körper nach jener Seite drehte, – da wo eine Kapelle ist sehe ich …

Ein drittes, wütendes Pfeifen durchschnitt die Luft und fast im gleichen Augenblick sah man den Knaben herunterkommen, sich erst am Stamm und an den Zweigen halten und dann, den Kopf voran, mit ausgestreckten Armen zu Boden stürzen.

– Verwünscht! – schrie der Offizier, herbeieilend.

Der Knabe schlug mit dem Rücken auf die Erde und blieb mit ausgebreiteten Armen liegen. Ein Bächlein Blutes entquoll der linken Seite der Brust. Der Wachtmeister und zwei Soldaten sprangen vom Pferde; der Offizier beugte sich über den Knaben und öffnete ihm das Hemd; die Kugel war ihm in den linken Lungenflügel gedrungen.

Er ist tot! – rief der Offizier. – Nein, er lebt! – antwortete der Wachtmeister.

– Ach! armer Knabe! braver Knabe! – rief der Offizier. – Mut! Mut! – Aber während er ihm Mut zurief, und ihm das Taschentuch auf die Wunde drückte, verdrehte der Knabe die Augen und ließ den Kopf sinken: er war tot. Der Offizier erbleichte und sah ihn einen Augenblick unverwandt an; dann legte er ihn bequem mit dem Kopfe auf das Gras; – er erhob sich und betrachtete ihn; – auch der Wachtmeister und die beiden Soldaten schauten ihn regungslos an: – die andern waren dem Feinde zugekehrt.

– Armer Knabe! – wiederholte traurig der Offizier. – Armer, braver Knabe!

Dann näherte er sich dem Hause, hob die dreifarbige Fahne vom Fenster und breitete sie wie ein Leichentuch über den kleinen Toten aus, ihm das Gesicht unbedeckt lassend.

Der Wachtmeister legte die Schuhe, die Mütze, den Stock und das Messer dem Toten zur Seite.

Sie schwiegen einen Augenblick; dann wandte sich der Offizier an den Wachtmeister und sagte: – Wir werden ihn durch die Ambulanz holen lassen: er ist als Soldat gestorben, die Soldaten werden ihn begraben. – Nachdem er dies gesagt hatte, schickte er dem Toten eine Kußhand und rief: – Zu Pferd! – Alle schwangen sich in den Sattel, das Häuflein sammelte sich und setzte seinen Weg fort

Und wenige Stunden nachher empfing der kleine Tote seine kriegerischen Ehren.

Vor Sonnenuntergang setzte sich die ganze Linie der italienischen Vorposten gegen den Feind in Bewegung, und auf demselben Wege, den am Morgen der Trupp Reiter genommen, schritt ein großes Bataillon Bersaglieri (Scharfschützen) einher, welche vor wenigen Tagen tapfer kämpfend die Hügel von San Martino mit ihrem Blut benetzt hatten. Die Nachricht von dem Tode des Knaben hatte bei diesen Soldaten schon die Runde gemacht, bevor man den Lagerplatz verließ. Der Fußweg, an dessen Seite ein Bach floß, ging in einer Entfernung von einigen Schritten am Hause vorbei. Als die ersten Offiziere des Bataillons die kleine Leiche, am Fuße der Esche, bedeckt von der dreifarbigen Fahne sahen, grüßten sie dieselbe mit dem Säbel; und einer von ihnen beugte sich auf den Rand des Baches, welcher ganz mit Blumen besät war, pflückte ein paar Blumen und warf sie dem Toten zu. Nun pflückten alle Bersaglieri, welche nach und nach vorbeikamen, Blumen und warfen sie ihm zu. In einigen Minuten war der Knabe von Blumen bedeckt und Offiziere und Soldaten schickten ihm im Vorbeigehen einen Gruß: Brav, kleiner Lombarde! – Addio Knabe! – Schlaf wohl, Blondköpfchen! – Er lebe hoch! – Ein Held! – Addio! – Ein Offizier warf ihm seine Ehrenmedaille zu, ein anderer ging und küßte ihn auf die Stirne. Und die Blumen fielen fortwährend auf die nackten Füße, auf die blutige Brust, auf das blonde Haupt. Und er schlief da im Grase, in seine Fahne eingehüllt, mit weißem, fast lächelndem Gesicht, der arme Knabe, als ob er diese Grüße hörte und glücklich wäre, das Leben für seine Lombardei gelassen zu haben.

Die Armen.

29. – Dienstag.

Das Leben für das Vaterland geben, wie der kleine Lombarde, ist eine grosse Tugend; aber du sollst auch die kleinen Tugenden nicht vernachlässigen, mein Sohn. Diesen Morgen, als du, aus der Schule kommend, vor mir hergingst, kamst du bei einer armen Frau vorbei, welche ein elendes, abgezehrtes Kind zwischen den Knieen hielt und von dir ein Almosen verlangte. Du sahst sie an und gabst ihr nichts und doch hattest du Soldi in der Tasche. Höre, mein Sohn. Gewöhne dich nicht, gleichgiltig an dem Elend, das die Hand ausstreckt, vorbeizugehen, am wenigsten an einer Mutter, welche einen Soldo für ihr Kind heischt. Denke, dass dieses Kind vielleicht Hunger hatte, denke an die Qual dieser armen Mutter. Stelle dir den Jammer deiner Mutter vor, wenn sie eines Tages zu dir sagen müsste: – Heinrich, heute kann ich dir nicht einmal mehr Brot geben! – Wenn ich einem Bettler einen Soldo gebe und er mir sagt: – Gott erhalte Ihnen und Ihren Kleinen die Gesundheit! – du kannst das süsse Gefühl nicht verstehen, welche mir diese Worte ins Herz geben, die Dankbarkeit die ich für diese Armen fühle. Es scheint mir, als ob dieser gute Wunsch euch lange Zeit in guter Gesundheit erhalten müsse und ich kehre zufrieden nach Hause zurück und denke: O, dieser Arme hat mir viel mehr gegeben als ich ihm! Auch du nimm von Zeit zu Zeit einen Soldo aus deiner kleinen Börse, und lasse ihn in die Hand eines Greises ohne Stütze, einer Mutter ohne Brot, eines Kindes ohne Mutter fallen. Die Armen lieben das Almosen der Kinder, weil es sie nicht demütigt und weil die Kinder, die alles, was sie nötig haben, verlangen müssen, ihnen gleichen: sieh nur, wie um die Schulhäuser herum immer Arme sind. Das Almosen eines Mannes ist eine Handlung christlicher Nächstenliebe; aber dasjenige eines Kindes ist zugleich ein Akt der Nächstenliebe und eine Liebkosung; verstehst du? Es ist als ob aus seiner Hand ein Soldo und eine Blume zugleich fiele. Denke, dass dir nichts mangelt, dass ihnen alles fehlt; dass, während du glücklich sein willst, sie deine Gabe nur begehren um nicht ganz zu verderben. Denke wie schrecklich es ist, dass inmitten so vieler Paläste, in den Strassen, wo so viele schöne Kutschen fahren und in Sammt gekleidete Kinder gehen, es Frauen und Kinder giebt, die nichts zu essen haben. Nichts zu essen haben, mein Gott! Knaben wie du, talentvoll wie du, welche inmitten einer grossen Stadt nichts zu essen haben, wie wilde Tiere in einer Wüste! O! niemals mehr, Heinrich, gehe nie mehr bei einer Mutter vorbei, welche um ein Almosen bittet, ohne ihr einen Soldo in die Hand zu legen!

Deine Mutter.


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