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4. – Samstag.
Diesen Morgen kam der Oberschulrat, ein schwarz gekleideter Herr mit weißem Bart, um die Preise auszuteilen. Er trat mit dem Direktor kurz vor Schluß der Unterrichtsstunde ein und setzte sich in der Nähe des Lehrers. Er stellte Fragen an einige; dann gab er die erste Medaille Derossi und bevor er die zweite austeilte, hörte er einige Augenblicke auf die Worte des Lehrers und des Direktors, welche leise mit ihm sprachen. Alle fragten sich: – ›Wem wird er die zweite geben?‹ – Der Oberschulrat sagte mit lauter Stimme: – »Die zweite Medaille hat diese Woche der Schüler Pietro Precossi verdient; er hat sie verdient durch die Hausarbeiten, durch die Lektionen, durch das Schönschreiben, durch sein Betragen, durch alles.« – Alle drehten den Kopf, um Precossi zu sehen, man sah, daß alle Freude hatten. Precossi erhob sich, so verwirrt, daß er nicht mehr wußte, wo er war. – »Komm hieher,« – sagte der Oberschulrat. Precossi sprang von der Bank herunter und stellte sich in die Nähe des Pultes. Der Oberschulrat betrachtete mit Aufmerksamkeit das wachsbleiche Gesichtchen, diese schwachen, in geflickte und unbequeme Kleider eingesackten Glieder, die guten und traurigen Augen, welche den seinigen auswichen, die aber eine Leidensgeschichte erraten ließen; dann sagte er zu ihm mit liebevoller Stimme, indem er ihm die Medaille an die Schulter heftete: – »Precossi, ich gebe dir die Medaille. Keiner ist würdiger sie zu tragen, als du. Sie gilt nicht nur allein deinem Verstand und deinem guten Willen; sie gilt deinem Herzen, sie gilt deinem Mute, deinem Charakter. – ›Ist es nicht wahr,‹ – fragte er, indem er sich an die Klasse wandte, – ›daß er sie auch dadurch verdient?‹ – »Ja, ja,« – antworteten alle einstimmig. Precossi machte eine Bewegung, als wolle er etwas hinabwürgen, und warf einen liebevollen, dankbaren Blick auf uns. – »Geh nun,« – sagte der Oberschulrat, – »lieber Knabe! Und Gott behüte dich!« – Es war Zeit hinauszugehen. Unsere Klasse ging vor den andern hinaus. Kaum sind wir vor der Türe … wen sehen wir in der Halle, gerade unter dem Eingang? Precossis Vater, den Schmied, bleich wie gewöhnlich, mit finsterm Gesicht, die Haare in den Augen, die Mütze quer auf dem Kopfe, unsicher auf den Beinen. Der Lehrer sah ihn sofort und flüsterte dem Oberschulrat etwas ins Ohr; dieser suchte eilig Precossi, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu seinem Vater. Der Knabe zitterte. Auch der Lehrer und der Direktor näherten sich; viele Knaben bildeten ringsum einen großen Kreis. – »Sie sind der Vater dieses Knaben, nicht wahr? – fragte der Schulrat den Schmied in vertraulichem Ton. Und ohne die Antwort abzuwarten: – Ich freue mich mit Ihnen. Sehen Sie: er hat unter vierundfünfzig Kameraden die zweite Medaille verdient; er hat sie verdient im Aufsatz, im Rechnen, in allem. Er ist ein verständiger Knabe voll guten Willens, der seinen Weg machen wird; ein braver Knabe, der die Zuneigung, die Achtung Aller besitzt. Sie können stolz auf ihn sein, ich versichere es Ihnen.« – Der Schmied, der mit offenem Munde zugehört hatte, sah zuerst den Oberschulrat, dann den Direktor und hierauf seinen Sohn an, welcher zitternd mit niedergeschlagenen Augen vor ihm stand. Jetzt erst schien er sich der Mißhandlungen zu erinnern, die der arme Kleine von ihm hatte erdulden müssen, jetzt erst schien er der rührenden Sanftmut und Standhaftigkeit zu gedenken, mit der dieser alles ertragen. Eine gewisse stumpfe Verwunderung malte sich auf dem Gesicht des harten Mannes, sie wechselte ab mit einem Ausdruck düsteren Schmerzes, welcher in eine stürmische und wehmütige Zärtlichkeit überging. Mit einer schnellen Bewegung faßte er den Knaben beim Kopfe und drückte ihn an die Brust. Wir gingen alle an Precossi vorbei; ich lud ihn ein, am Donnerstag mit Garrone und Crossi in unser Haus zu kommen; andere grüßten ihn; der liebkoste ihn, jener berührte seine Medaille, alle sagten ihm etwas. Und der Vater betrachtete uns erstaunt, den Kopf des schluchzenden Sohnes stetsfort an sich drückend.
5. – Sonntag.
Precossis Medaille hat Gewissensbisse in mir wachgerufen. Ich habe mir noch keine verdient. Seit einiger Zeit lerne ich nicht mehr, bin unzufrieden mit mir selber, auch der Lehrer, der Vater und die Mutter sind unzufrieden. Ich habe auch nicht mehr Lust am Spiel wie früher, als ich aus eigenem Willen arbeitete. Damals sprang ich von der Arbeit auf zu meinen Spielen, voll Freude, wie wenn ich seit einem Monat nicht mehr gespielt hätte. Ich setze mich nicht einmal mehr so zufrieden wie früher mit den Meinigen zu Tische. Immer lagert ein Schatten auf meiner Seele und eine innere Stimme sagt mir fortwährend: – es geht nicht, es geht nicht. – Ich sehe am Abend auf dem Platze so viele Knaben vorbeigehen, welche inmitten vieler Handwerker von der Arbeit zurückkehren, alle müde, aber heiter; sie beschleunigen den Schritt vor Ungeduld um zum Essen nach Hause zu kommen, und sprechen laut, lachen und schlagen sich auf die Schultern, die von Kohle schwarz oder von Kalk weiß sind. Wenn ich denke, daß sie und noch so viele andere, noch kleinere, seit der Morgendämmerung bis zu dieser Stunde gearbeitet haben und den ganzen Tag hoch oben auf den Dächern, vor Kalköfen, inmitten der Maschinen, im Wasser, unter der Erde gewesen sind, und nichts aßen als ein Stück Brot, schäme ich mich fast, da ich in dieser ganzen Zeit in schlechter Laune nur vier Seiten verschmiert habe. Ach, ich bin unzufrieden, sehr unzufrieden! Ich sehe wohl, daß mein Vater verstimmt ist und es mir sagen möchte, aber es schmerzt ihn, und er wartet noch. Mein lieber Vater, der du so viel arbeitest! Alles ist dein, alles was ich rings um mich im Hause sehe, alles was ich berühre, alles was mich kleidet und nährt, alles was mich unterrichtet und ergötzt, alles ist die Frucht deiner Arbeit, und ich arbeite nicht; alles hat dich Nachdenken, Entbehrungen, Unannehmlichkeiten, Mühe gekostet und ich bemühe mich nicht! Ach, es ist ungerecht und schmerzt mich tief. Ich will von heute an wieder zu arbeiten anfangen, ich will mich ans Lernen machen, wie Stardi mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen; mich daran machen mit allen Kräften meines Willens und meines Herzens; ich will am Abend den Schlaf überwinden, am Morgen früh aus dem Bette springen, mein Gehirn ohne Aufhören quälen, die Trägheit ohne Mitleiden fortjagen, schaffen, leiden meinetwegen bis ich krank werde; aber das muß einmal aufhören, das elende, matte, freudlose Leben, das ich dahinschleppe, ein Leben, das mich erniedrigt und die andern betrübt. Mutig zur Arbeit! Zur Arbeit mit ganzer Seele, mit allen Kräften! Zur Arbeit, die mir die Ruhe wieder süß, die Spiele unterhaltend, die Mahlzeiten fröhlich machen wird; zur Arbeit, die mir das freundliche Lächeln des Lehrers und den gesegneten Kuß des Vaters zurückgeben wird.
10. – Freitag.
Precossi kam gestern mit Garrone zu uns. Ich glaube, wenn es zwei Fürstensöhne gewesen wären, hätte man sie nicht mit mehr Jubel empfangen. Garrone kam zum ersten Mal, denn er hat etwas von einem Bären und will sich nicht sehen lassen, da er so groß ist und noch in der dritten Klasse steckt. Wir alle gingen zur Türe, als sie läuteten. Crossi kam nicht, weil endlich nach sechs Jahren sein Vater aus Amerika zurückgekommen ist. Meine Mutter küßte Precossi sofort, mein Vater stellte ihr Garrone vor, indem er sagte: – Hier ist er; er ist nicht nur ein guter Knabe, er ist ein Ehrenmann und ein Edelmann. – Und er senkte seinen großen kurz geschorenen Kopf, heimlich zu mir hinüberlächelnd. Precossi trug seine Medaille. Er ist glücklich, daß sein Vater wieder arbeitet und seit fünf Tagen nicht mehr trinkt, er will ihn immer um sich haben in der Werkstatt und scheint ein ganz anderer geworden zu sein. Wir fingen an zu spielen, ich holte alle meine Sachen hervor. Precossi war ganz entzückt von dem Eisenbahnzug mit der Lokomotive, die allein geht, wenn man sie aufzieht; er hatte so etwas noch nie gesehen; er verschlang die kleinen roten und gelben Wagen mit den Augen. Ich gab ihm den Schlüssel zum Aufziehen, damit er spielen könne; er kniete nieder und blickte nicht mehr auf. Ich hatte ihn nie so vergnügt gesehen. Er sagte immer: – bitte, bitte, – indem er uns bei jedem Wort mit den Händen wegwies, damit wir die Maschine nicht aufhielten. Dann nahm er die Wagen mit großer Sorgfalt und stellte sie wieder hin, als ob sie von Glas wären, hatte Furcht sie mit dem Atem trübe zu machen und reinigte sie wieder, indem er sie oben und unten betrachtete und für sich lächelte. Wir alle stunden umher und betrachteten ihn; betrachteten seinen dünnen Hals, die armen, kleinen Ohren, die ich eines Tages hatte bluten sehen, die große Jacke mit den zurückgestülpten Ärmeln, aus denen zwei magere Ärmchen hervorschauten, die sich so oft erhoben hatten um das Gesicht vor Schlägen zu schützen … O! in diesem Augenblicke hätte ich ihm alle meine Spielsachen und alle meine Bücher vor die Füße legen mögen, hätte mir das letzte Stück Brot vom Munde genommen, um es ihm zu geben, hätte mich ausgezogen, um ihn zu kleiden, hätte mich auf die Kniee geworfen, um ihm die Hände zu küssen. – Wenigstens den Zug will ich ihm geben, – dachte ich; aber ich mußte meinen Vater um Erlaubnis fragen. In diesem Augenblick steckte mir jemand ein Stück Papier in eine Hand; mein Vater hatte darauf mit Bleistift geschrieben: – Dem Precossi gefällt deine Eisenbahn. Er hat keine Spielsachen. Giebt dir dein Herz nichts ein? – Sofort ergriff ich mit beiden Händen die Maschine und die Wagen, legte ihm alles auf die Arme und sagte: – »Nimm dies, es ist dein.« – Er betrachtete mich, aber schien es nicht zu verstehen. – »Es ist dein,« – sagte ich, – »ich schenke es dir.« – Jetzt betrachtete er meinen Vater und meine Mutter noch verwunderter, und fragte mich: – »Aber warum?« – Mein Vater sagte zu ihm: – »Heinrich schenkt es dir, weil er dein Freund ist, weil er dich liebt, … um deine Medaille zu feiern.« – Precossi fragte schüchtern: – »Darf ich es wegtragen … nach Hause?« – »Ja gewiß!« – antworteten alle. Er war schon unter der Türe und wagte doch nicht wegzugehen. Er war glücklich! Er bat um Entschuldigung, zitterte und lachte zugleich. Garrone half ihm den Zug ins Taschentuch einpacken. – Nächster Tage – sagte Precossi zu mir, mußt du in die Werkstatt kommen und meinen Vater arbeiten sehen. Ich werde dir dann Nägel geben. – Meine Mutter steckte Garrone ein Blumensträußchen ins Knopfloch, damit er es in ihrem Namen der Mutter bringe. Mit seiner rauhen Stimme, ohne das Kinn von der Brust zu erheben, sagte er zu ihr: – »Ich danke.« – Aber seine edle und gute Seele leuchtete ihm aus den Augen.
11. – Samstag.
Ist es möglich! Carlo Nobis reinigt sich den Ärmel sorgfältig, wenn ihn Precossi im Vorbeigehen streift! Er ist der verkörperte Hochmut, weil sein Vater ein reicher Herr ist. Aber auch Derossis Vater ist reich! Nobis möchte eine Bank für sich allein haben, fürchtet sich, die andern könnten ihn beschmutzen, mustert alle vom Kopf bis zu den Füßen und hat immer ein verächtliches Lächeln auf den Lippen; wehe dem, der ihn mit einem Fuße berührt, wenn man in der Reihe zu Zweien hinausgeht. Um nichts und wieder nichts wirft er einem ein Schimpfwort ins Gesicht, oder droht seinen Vater in die Schule kommen zu lassen. Und doch weiß er, wie sein Vater ihn anließ, als er den Sohn des Kohlenhändlers als Lumpenkerl behandelte. Nie habe ich einen hochmütigern Jungen gesehen! Keiner spricht mit ihm, keiner sagt ihm beim Weggehen lebewohl, keiner würde ihm helfen, wenn er die Lektion nicht weiß. Er kann keinen leiden und scheint vor allen Derossi zu verachten, weil er der Erste ist, und Garrone, weil ihn alle lieben. Aber Derossi sieht ihn nicht an, wie lang er auch sei, und wenn man Garrone sagt, daß ihn Nobis verleumdet, so antwortet er: – Er ist so dumm mit seinem Stolz, daß er nicht einmal eine Ohrfeige wert ist. – Nur Coretti sagte ihm eines Tages, als er mit Verachtung über seine Mütze aus Katzenfell lachte: »Geh' ein wenig zu Derossi, wenn du lernen willst, den Herren zu spielen!« – Gestern beklagte er sich beim Lehrer, weil ihm der Kalabrese mit dem Fuße ein Bein berührt hatte. Der Lehrer fragte den Kalabresen: – »Hast du es absichtlich gethan?« – »Nein, Herr Lehrer,« – antwortete er offenherzig. Und der Lehrer: – »Du bist zu empfindlich, Nobis.« – Und Nobis mit seinem eigentümlichen Ausdruck: – »Ich werde es meinem Vater sagen.« – Nun geriet der Lehrer in Zorn: – »Dein Vater wird dir unrecht geben, wie er es andere Male gethan. Und dann untersucht und straft in der Schule nur der Lehrer.« – Dann sagte er sanft: – »Laß das, Nobis, ändere dein Betragen, sei gut und höflich mit deinen Kameraden. Siehe, hier sind Söhne von Handwerkern und Herren, von Reichen und Armen und alle lieben sich, behandeln sich als Brüder, die ihr ja seid. Warum machst du es nicht wie die andern? Es würde dich so wenig kosten, dich bei allen beliebt zu machen und du selbst wärest zufriedener dabei! … Nun, hast du mir nichts zu antworten?« Nobis, der mit seinem verächtlichen Lächeln zugehört hatte, antwortete kalt: – »Nein, Herr Lehrer.« – »Setz dich,« sagte der Lehrer. – »Ich bedaure dich. Du bist ein Knabe ohne Herz.« – Alles schien damit beendigt; aber das Maurermeisterlein, das in der ersten Bank sitzt, kehrte sein rundes Gesicht gegen Nobis, der in der hintersten ist, und machte ihm ein so schönes und so komisches Hasenmäulchen, daß die ganze Klasse in ein schallendes Gelächter ausbrach. Der Lehrer schalt ihn; aber er mußte sich eine Hand auf den Mund legen, um das Lachen zu verbergen. Auch Nobis lachte, aber nicht von Herzen.
13. – Montag.
Nobis und Franti passen zusammen; weder der eine noch der andere wurde diesen Morgen bei dem schrecklichen Schauspiel, das sich vor unsern Augen zutrug, gerührt. Als ich aus der Schule kam, blieb ich bei meinem Vater stehen, um einigen kleinen Schelmen der zweiten Klasse zuzusehen, die auf der Straße knieend das Eis mit ihren Mäntelchen und Mützen scheuerten, um die Schleifbahn glatter zu machen, als vom Ende der Straße eine Menge Leute eiligen Schrittes daherkam; alle sahen ernst und erschrocken aus, und sprachen leise mit einander. In der Mitte gingen drei Bürgerwachen; hinter den Wachen zwei Männer, die eine Bahre trugen. Die Knaben liefen von allen Seiten herbei. Die Menge näherte sich uns. Auf der Bahre lag ein Mann ausgestreckt, weiß wie ein Leichnam, mit wirren und blutigen Haaren, das Blut floß ihm aus Mund und Ohren; neben der Bahre ging eine Frau mit einem Kind auf dem Arme. Sie schien außer sich zu sein und rief in einemfort: – »Er ist tot!« »Er ist tot!« »Er ist tot!« – Hinter der Frau kam ein Knabe, welcher die Schultasche unter dem Arme hatte, und schluchzte. – »Was ist geschehen?« – fragte mein Vater. Ein Nachbar antwortete, es sei ein Maurer bei seiner Arbeit von einem vierten Stockwerk heruntergefallen. Die Träger der Bahre ruhten einen Augenblick aus. Viele wandten erschrocken das Gesicht ab. Ich sah die kleine Lehrerin mit der roten Feder, welche so erschrocken war, daß meine Lehrerin der ersten Klasse sie stützen mußte. Im gleichen Augenblick fühlte ich mich am Ellbogen gestoßen: es war das Maurermeisterlein, ganz bleich und an allen Gliedern zitternd. Der Knabe dachte gewiß an seinen Vater. Auch ich dachte an ihn. Ich kann doch in der Schule ruhig sein, in dem Bewußtsein, daß mein Vater zu Hause am Pulte sitzt, fern von jeder Gefahr. Aber wie viele Knaben müssen denken, daß ihre Väter auf einem hohen Gerüste, oder in der Nähe von Maschinenrädern arbeiten und daß eine Bewegung, ein falscher Schritt ihnen das Leben kosten kann! Sie sind in der gleichen Lage wie Soldatenkinder deren Väter in der Schlacht stehen. Das Maurermeisterlein sah hin, und zitterte immer stärker; mein Vater bemerkte es und sagte zu ihm: – »Geh' nach Hause, Junge, geh' sofort zu deinem Vater, du wirst ihn gesund und ruhig antreffen; geh!« – Das Maurermeisterlein ging, wandte sich aber bei jedem Schritt um. Indessen setzte sich die Menge in Bewegung, und die Frau rief, daß es einem die Seele durchschnitt: – »Er ist tot!« »Er ist tot!« »Er ist tot!« – »Nein, nein, er ist nicht tot,« – sagten sie von allen Seiten. Aber sie achtete nicht darauf und raufte sich die Haare. Plötzlich hörte ich eine unwillige Stimme sagen: – »Du lachst!« – und bemerke zu gleicher Zeit einen Mann mit einem Barte, welcher Franti, der noch lächelte, ins Gesicht sah. Nun schlug ihm der Mann die Mütze mit einer Ohrfeige auf die Erde und sagte: – »Hut ab, Niederträchtiger, wenn man ein Opfer der Arbeit vorbeiträgt.« – Die Menge war schon ganz vorbeigegangen und man sah in der Mitte der Straße einen langen Streifen Blut.
17. – Freitag.
Ah! das ist gewiß das seltsamste Erlebnis des ganzen Jahres! Mein Vater führte mich gestern früh in die Umgebung von Moncalieri, um ein Landhaus zu besichtigen, das er für den nächsten Sommer mieten will, denn dieses Jahr gehen wir nicht mehr nach Chieri. Es ergab sich, daß ein Lehrer, welcher Sekretär des Hausherrn ist, die Schlüssel hatte. Er zeigte uns das Haus und führte uns dann in sein Zimmer, wo er uns eine Flasche vorsetzte. Auf dem Tisch inmitten der Gläser stand ein Tintenfaß aus Holz, von konischer Gestalt, in seltsamer Weise aus Holz geschnitzt. Als der Lehrer sah, daß mein Vater es betrachtete, sagte er: – »Dieses Tintenfaß hier ist mir sehr kostbar; wenn Sie, mein Herr, die Geschichte dieses Tintenfasses wüßten!« – Und er erzählte sie uns: Vor Jahren war er Lehrer in Turin und im Winter gab er alle Tage auch den Gefangenen Unterricht. Er unterrichtete in der Kirche des Gefängnisses, in einem runden Gebäude. Ringsum in den hohen und nackten Mauern sind kleine, viereckige Fenster, geschlossen mit zwei gekreuzten Eisenstäben und hinter jedem dieser Fenster ist eine ganz kleine Zelle. Er hielt Schule, indem er in der kalten und dämmerigen Kirche herumspazierte, und seine Schüler erschienen an den Fenstern und lehnten die Hefte an die Eisenstäbe, so daß man nichts von ihnen sah als im Schatten ihre Gesichter, abgefallene, mürrisch aussehende und gottlose Gesichter, mit struppigen Haaren und grauen Bärten, und mit den starren Augen von Mördern und Dieben. Einer unter ihnen, derjenige in Numero 78, war der aufmerksamste von allen, lernte viel und sah mit Achtung und Dankbarkeit zu dem Lehrer hinüber. Es war ein noch junger Mann mit schwarzem Bart, mehr unglücklich als böse. Er war Kunsttischler und hatte in einem Augenblick des Zorns einen Bohrer gegen seinen Meister, welcher ihn seit langem gereizt hatte, geschleudert und ihn am Kopfe tödlich verwundet; dafür war er zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden. In drei Monaten hatte er Schreiben und Lesen gelernt, las fortwährend, und je mehr er lernte, desto mehr schien es, daß er sich bessere und sein Verbrechen bereue. Eines Tages, gegen das Ende einer Lektion, machte er dem Lehrer ein Zeichen, er solle zu seinem Fensterchen kommen und kündigte ihm trauernd an, daß er am folgenden Morgen von Turin abreisen müsse, um seine Strafe in den Gefängnissen von Venedig abzubüßen; und indem er ihm lebewohl sagte, bat er ihn mit demütiger und bewegter Stimme, daß er ihm die Hand berühren dürfe. Der Lehrer reichte ihm die Hand und er küßte sie; dann sagte er: – ›Dank! Dank!‹ – und verschwand. Der Lehrer zog die Hand zurück: »sie war ganz in Thränen gebadet.« Nachher sah er ihn nicht mehr. Sechs Jahre gingen vorüber. – Ich dachte an ganz anderes, als an diesen Unglücklichen, – sagte der Lehrer, – als ich vorgestern Morgen in meinem Hause von einem schlecht gekleideten Unbekannten mit großem, schwarzem Barte, der schon ein wenig gesprenkelt war, aufgesucht wurde. Er sagte zu mir: – »Sind Sie nicht der Herr Lehrer so und so?« – »Wer seid Ihr?« – fragte ich. – »Ich bin der Gefangene von Numero 78« – antwortete er. »Sie haben mich vor sechs Jahren Schreiben und Lesen gelehrt; wenn Sie sich erinnern, in der letzten Stunde gaben Sie mir die Hand; jetzt habe ich meine Strafe abgebüßt und bin hier … Sie zu bitten, Sie möchten mir die Gnade erweisen, ein Zeichen der Erinnerung von mir anzunehmen, etwas, das ich im Gefängnis gearbeitet habe. Wollen Sie es annehmen, zu meinem Andenken, Herr Lehrer?« – Ich stand da, ohne eine Wort zu sagen. Er meinte, ich wolle es nicht annehmen und er betrachtete mich, als wollte er sagen: – »Sechs Jahre Leiden sind also nicht genug, meine Hände zu reinigen!« – aber mit einem so schmerzlichen Ausdruck betrachtete er mich, daß ich sofort die Hand hinstreckte und den Gegenstand nahm; hier ist er. Wir betrachteten das Tintenfaß aufmerksam: es schien mit der Spitze eines Nagels mit großer Geduld gearbeitet zu sein; eine Feder, quer über einem Heft war darauf ausgeschnitten und ringsum befand sich die Inschrift: »Meinem Lehrer. – Zum Andenken an Numero 78. – Sechs Jahre!« Und darunter in kleineren Buchstaben: »Fleiß und Hoffnung.« Der Lehrer sagte nichts mehr; wir verabschiedeten uns. Aber während des ganzen Spazierganges von Moncalieri nach Turin konnte ich mir den Gefangenen am kleinen Fenster, seinen Abschied vom Lehrer, das ärmliche, in einsamer Zelle gearbeitete Tintenfaß, welches so viel sagte, nicht mehr aus dem Sinne schlagen und in der Nacht träumte ich davon und diesen Morgen dachte ich noch daran … immerhin weit entfernt, mir die Überraschung vorzustellen, die mich in der Schule erwartete! Kaum hatte ich mich in meine neue Bank neben Derossi gesetzt und das Rechenexempel für das monatliche Examen geschrieben, als ich meinem Kameraden die ganze Geschichte vom Gefangenen und vom Tintenfaß erzählte und wie das Tintenfaß gearbeitet war, mit der Feder quer über das Heft und der Inschrift ringsum: – Sechs Jahre! – Derossi stutzte bei diesen Worten, und betrachtete bald mich, bald Crossi, den Sohn der Kräuterverkäuferin, der in der Bank vor uns saß, den Rücken gegen uns gedreht und ganz in seine Aufgabe vertieft. – »Still!« – sagte er dann mit leiser Stimme, mich beim Arm nehmend. – »Weißt du nicht? Crossi sagte mir vorgestern, er habe in den Händen seines aus Amerika zurückgekehrten Vaters ein Tintenfaß gesehen: ein konisches Tintenfaß, von Hand gearbeitet, mit einem Heft und einer Feder: – Es stimmt! – sechs Jahre, – er sagte, daß sein Vater so lange in Amerika war: – er war aber im Gefängnis; – Crossi war zur Zeit des Verbrechens klein, er erinnerte sich nicht, seine Mutter täuschte ihn, er weiß nichts; lassen wir uns keine Silbe davon entschlüpfen!« Ich blieb sprachlos, die Augen auf Crossi geheftet. Und alsdann löste Derossi die Aufgabe und steckte sie unter der Bank Crossi zu; gab ihm ein Blatt Papier; nahm ihm die monatliche Erzählung: »Der Krankenwärter des Tata«, die ihm der Lehrer zum Kopieren gegeben hatte, aus der Hand, um sie für ihn abzuschreiben, schenkte ihm Federn, legte ihm zutraulich die Hand auf die Schultern, ließ mich auf meine Ehre versprechen, niemand ein Wort zu sagen; und als wir aus der Schule gingen, sagte er in Eile zu mir: – »Gestern ist sein Vater gekommen, ihn abzuholen, er wird auch diesen Morgen da sein: thue wie ich.« – Wir traten auf die Straße, der Vater Crossis war da, etwas abseits: ein Mann mit einem schwarzen, schon gesprenkelten Barte, schlecht gekleidet, mit blassem, nachdenklichem Gesichte. Derossi drückte Crossi die Hand in absichtlich etwas auffallender Art und sagte laut: – »auf Wiedersehen, Crossi,« – und legte ihm die Hand unter das Kinn, ich machte es ebenso. Aber als Derossi dies that, wurde er purpurrot und ich ebenfalls; Crossis Vater betrachtete uns aufmerksam mit einem Lächeln, aber in seinem Blicke schimmerte ein Ausdruck von Unruhe und Verdacht, der mir das Herz erbeben machte.
(Monatliche Erzählung.)
Am Morgen eines regnerischen Märztages meldete sich ein bäurisch gekleideter, vom Regen ganz durchnäßter und beschmutzter Knabe mit einem Bündel Kleider unter dem Arme, beim Thürsteher des großen Spitals in Neapel und fragte nach seinem Vater, indem er einen Brief vorwies. Er hatte ein ovales, bräunliches aber bleiches Gesicht, nachdenkende Augen und zwei volle, halbgeöffnete Lippen, die schneeweiße Zähne sehen ließen. Er kam aus einem Dorfe in der Umgebung von Neapel. Sein Vater, der vor einem Jahre von Hause weggereist war um in Frankreich Arbeit zu suchen, war nach Italien zurückgekehrt und vor einigen Tagen in Neapel ans Land gestiegen, wo er, plötzlich erkrankt, kaum Zeit hatte eine Zeile an die Familie zu schreiben, um ihr seine Rückkehr anzukündigen und ihr mitzuteilen, daß er in das Spital eintreten müsse. Seine Frau, trostlos ob dieser Nachricht und nicht imstande von Hause wegzugehen, weil sie ein krankes Mädchen und einen Säugling hatte, schickte ihren ältesten Sohn mit einigen Soldi nach Neapel, um seinem Vater, dem Tata, wie man dort sagt, beizustehen. Der Knabe hatte zehn Meilen Weges gemacht.
Nachdem der Türhüter einen Blick in den Brief geworfen, rief er einem Krankenwärter und sagte ihm, er solle den Knaben zum Vater führen.
– »Wer ist der Vater?« fragte der Krankenwärter.
Der Knabe, zitternd vor Furcht eine traurige Antwort zu vernehmen, nannte den Namen.
Der Krankenwärter erinnerte sich dieses Namens nicht.
– »Ein von auswärts gekommener alter Arbeiter?« – fragte er.
– »Arbeiter – ja,« – antwortete der Knabe, immer ängstlicher werdend; – »nicht so sehr alt. Von auswärts gekommen, ja.«
– »Wann in das Spital getreten?« – fragte der Krankenwärter.
Der Knabe warf einen Blick in den Brief und antwortete: – »Vor fünf Tagen, glaube ich.«
Der Krankenwärter dachte ein wenig nach; dann, als ob er sich plötzlich erinnere: – »Ah!« – sagte er, – »im vierten Saal im letzten Bette.«
– »Ist er schwer krank? Wie befindet er sich?« – fragte der Knabe ängstlich.
Der Krankenwärter betrachtete ihn ohne zu antworten. Dann sagte er: – »Komm mit mir.«
Sie stiegen eine Treppe hinauf, gingen durch einen breiten Korridor und befanden sich vor der Türe eines Saales, in dem zwei Reihen Betten standen. – »Komm,« sagte der Krankenwärter, indem er eintrat. Der Knabe nahm seinen Mut zusammen und folgte ihm, indem er furchtsame Blicke nach rechts und links auf die weißen, abgezehrten Gesichter der Kranken warf, von denen die einen mit geschlossenen Augen wie tot dalagen, andere dagegen erschrocken in die Luft starrten. Mehrere wimmerten wie Kinder. Das Zimmer war dunkel, die Luft mit einem durchdringenden Geruch von Arzneien geschwängert. Zwei barmherzige Schwestern gingen mit Fläschchen in der Hand umher.
Am Ende des Zimmers angekommen, stand der Krankenwärter beim Kopfende eines Bettes still, zog den Vorhang und sagte: – »Hier ist dein Vater.«
Der Knabe brach in Thränen aus, ließ sein Bündel fallen, lehnte den Kopf auf die Schulter des Kranken und ergriff mit einer Hand den Arm, den jener unbeweglich auf der Decke ausstreckte. Der Kranke rührte sich nicht.
Der Knabe erhob sich und betrachtete den Vater und fing von neuem an zu weinen. Nun heftete der Kranke einen langen Blick auf ihn und es schien, als ob er ihn erkenne. Aber seine Lippen bewegten sich nicht. »Armer Tata, wie sehr hatte er sich verändert!« Der Sohn hätte ihn nie erkannt. Die Haare waren weiß geworden, der Bart war gewachsen, das Gesicht geschwollen und ganz gerötet, mit gespannter und brennender Haut, die Augen waren kleiner, die Lippen wulstig, das Aussehen ganz verändert: nichts war mehr gleich als die Stirne und der Bogen der Augenbrauen. Er atmete mit Mühe. – »Tata, mein Tata!« – sagte der Knabe. »Ich bin es, kennt Ihr mich nicht? Ich bin Ciccillo, Euer Ciccillo, vom Dorfe hereingekommen, die Mutter hat mich geschickt. Sehet mich doch an, erkennt Ihr mich nicht? Sagt mir nur ein Wort.«
Aber nachdem ihn der Kranke aufmerksam betrachtet hatte, schloß er die Augen.
– »Tata! Tata! was habt Ihr? Ich bin Euer Sohn, Euer Ciccillo.«
Der Kranke bewegte sich nicht mehr und fuhr fort schwer zu atmen.
Nun nahm der Knabe weinend einen Stuhl, setzte sich und wartete, ohne den Blick vom Gesichte seines Vaters abzuwenden. – Ein Arzt wird bald vorbeikommen, wenn er Besuche macht, – dachte er. – Er wird mir etwas sagen. – Und er versenkte sich in seine traurigen Gedanken, erinnerte sich an so vieles von seinem guten Vater, an den Tag der Abreise, als er ihm an Bord des Schiffes das letzte Lebewohl zugerufen hatte, an die Hoffnung, welche die Familie auf diese Reise gesetzt, an die Trostlosigkeit seiner Mutter bei der Ankunft des Briefes; auch an den Tod dachte er; er sah seine Mutter im Trauerkleide, die Familie im Elend. Und er blieb lange so. Als eine leichte Hand seine Schulter berührte, fuhr er auf: es war eine Nonne. – »Was hat mein Vater?« – fragte er sie rasch. – »Ist es dein Vater?« – fragte die Schwester mit süßer Stimme. – »Ja, meine Mutter sandte mich zu ihm: Was hat er?« – »Mut, Knabe,« – antwortete die Schwester; – »bald wird der Arzt kommen.« – Und sie entfernte sich, ohne etwas anderes zu sagen. Nach einer halben Stunde hörte er den Ton einer Glocke und sah den Arzt, begleitet von einem Assistenten ins Zimmer treten; die Schwester und ein Krankenwärter folgten ihnen. Sie begannen die Besuche, indem sie bei jedem Bett stehen blieben. Dieses Warten schien dem Knaben eine Ewigkeit und bei jedem Schritt des Arztes wuchs seine Angst. Endlich langte er bei dem benachbarten Bette an. Der Arzt war ein hoher, aber gebeugter Greis mit ernstem Gesicht. Bevor er von dem benachbarten Bette wegging, erhob sich der Knabe und begann zu weinen, als er sich näherte.
Der Arzt betrachtete ihn. – »Es ist der Sohn des Kranken,« – sagte die Schwester, – »er ist diesen Morgen aus seinem Dorfe hieher gekommen.«
Der Arzt legte ihm eine Hand auf die Schulter, dann neigte er sich auf den Kranken, griff ihm den Puls, berührte ihm die Stirne und stellte einige Fragen an die Schwester, welche antwortete: »Nichts Neues.« – Er blieb ein wenig nachdenkend, dann sagte er: – »Fahret fort, wie bisher.«
Nun faßte der Knabe Mut und sagte mit weinerlicher Stimme: – »Was hat mein Vater?«
»Fasse Mut, mein Sohn,« – antwortete der Arzt, ihm die Hand wieder auf die Schulter legend. – »Er hat die Gesichtsrose. Es ist gefährlich, aber es ist noch Hoffnung vorhanden. Pflege ihn. Deine Gegenwart wird ihm gut thun.«
– »Aber er erkennt mich nicht!« – rief der Knabe in hoffnungslosem Tone aus.
– »Er wird dich erkennen … morgen vielleicht. Hoffen wir das Beste, fasse Mut.«
Der Knabe hätte gerne mehr gefragt; aber er wagte es nicht. Der Arzt ging weiter. Und nun begann er sein Amt als Krankenwärter. Da er nichts weiter thun konnte, so legte er dem Kranken die Decken zurecht, hielt fast immer dessen Hand, scheuchte ihm die Fliegen fort, beugte sich bei jedem Seufzer über ihn und wenn die Schwester zu trinken brachte, nahm er ihr das Glas oder den Löffel aus der Hand und reichte es an ihrer Statt dem Kranken; dieser betrachtete ihn einige Male; aber er gab kein Zeichen, daß er ihn kenne. Doch blieb sein Blick immer länger auf ihm haften, besonders wenn er das Taschentuch an die Augen hielt.
So ging der erste Tag vorüber. Während der Nacht schlief der Knabe auf zwei Stühlen in einem Winkel des Zimmers und am Morgen begann er sein liebevolles Werk wieder. Heute schien es, als ob die Augen des Kranken ein Zurückkehren der Besinnung verrieten. Bei der liebkosenden Stimme des Knaben schien ein unbestimmter Ausdruck von Dankbarkeit in seinen Augen zu glänzen, und einmal bewegte er die Lippen, als ob er etwas sagen wolle. Nach jedem kurzen Schlummer schien es, als suche er seinen kleinen Krankenwärter. Der Arzt, der zweimal vorbeigekommen war, bemerkte eine kleine Besserung. Gegen Abend, als er dem Munde des Kranken ein Glas näherte, glaubte der Knabe auf den geschwollenen Lippen ein leichtes Lächeln schweben zu sehen. Jetzt faßte er neuen Mut und begann zu hoffen. Und in der Hoffnung verstanden zu werden, wenn auch unvollständig, fing er an zu erzählen; er erzählte ihm weitläufig von der Mutter, von den kleinen Schwestern, von der Rückkehr nach Hause, und er ermahnte ihn mit warmen und liebevollen Worten, Mut zu fassen. Und obgleich im Zweifel ob er auch wirklich verstanden werde, erzählte er doch, denn es schien ihm, daß der Kranke, wenn er auch den Sinn der Worte nicht fasse, seine Stimme, diesen ungewohnten Klang voll Zuneigung und Mitgefühl, mit einem gewissen Wohlgefallen anhöre. Und in dieser Weise verstrich der zweite Tag und der dritte und der vierte, während leichte Besserungen mit plötzlichen Rückfällen wechselten; und der Knabe war von seiner Pflege so in Anspruch genommen, daß er nur zweimal des Tages ein wenig Brot und ein Stückchen Käse kaute, welche ihm die Schwester brachte; sonst sah er fast nichts von dem was um ihn vorging, weder die sterbenden Kranken, das plötzliche Herbeilaufen der Schwestern in der Nacht, das Weinen und die Verzweiflung der Besuchenden, welche ohne Hoffnung fortgingen, noch alle diese schmerzlichen und düstern Scenen eines Tageslaufs im Spital, welche ihn sonst erschreckt und ergriffen hätten. Die Stunden, die Tage gingen vorüber und er war immer bei seinem Tata, aufmerksam, vorsorgend, zitternd bei jedem seiner Seufzer und bei jedem seiner Blicke, ruhelos und in Aufregung zwischen dem Schimmer einer Hoffnung, die ihm die Seele erhob und der bangen Sorge, die ihm das Herz zusammenpreßte.
Am fünften Tage verschlimmerte sich plötzlich der Zustand des Kranken.
Als er den Arzt fragte, schüttelte dieser den Kopf, als wolle er sagen, alles sei zu Ende und der Knabe ließ sich auf den Stuhl sinken, indem er in Schluchzen ausbrach. Immerhin tröstete ihn etwas. Obschon sich der Zustand des Kranken verschlimmerte, glaubte der Knabe zu bemerken, daß er langsam seine Besinnung wieder gewinne. Er betrachtete den Knaben immer fester und mit einem Ausdruck wachsender Zärtlichkeit, wollte von niemand als von ihm einen Trunk oder eine Arznei annehmen und öfters zwang er die Lippen zu einer Bewegung, als wolle er ein Wort aussprechen, und er machte es oft so deutlich, daß der Sohn, von einer plötzlichen Hoffnung belebt, heftig seinen Arm ergriff und ihm mit fast freudigem Ausdruck sagte: – »Mut, Mut, Tata, du wirst genesen, wir werden nach Hause gehen und zu der Mutter zurückkehren, noch ein wenig Mut!
Es war vier Uhr abends, und der Knabe hatte sich gerade einem dieser Stürme von Zärtlichkeit und Hoffnung hingegeben, als er von der Tür des nächsten Zimmers her ein Geräusch von Schritten und dann eine Stimme hörte, nur drei Worte: – »Auf Wiedersehen, Schwester!« – die ihn mit einem unterdrückten Schrei aufspringen machten.
Im gleichen Augenblick trat ein Mann mit einem Bündel in der Hand von einer Schwester gefolgt in das Zimmer.
Der Knabe stieß einen durchdringenden Schrei aus und blieb auf seinem Platze wie angewurzelt.
Der Mann kehrte sich um, betrachtete ihn und stieß auch einen Schrei aus: – »Ciccillo!« – und stürzte auf ihn zu.
Der Knabe fiel erschöpft in die Arme seines Vaters.
Die Schwestern, die Krankenwärter, der Assistent eilten herbei und standen voll Erstaunen da.
Der Knabe konnte kein Wort hervorbringen.
– »O mein Ciccillo!« rief nach einem aufmerksamen Blick auf den Kranken der Vater aus, indem er seinen Sohn küßte und wieder küßte. – »Ciccillo, mein Sohn, wie kommst du hieher! Sie haben dich an das Bett eines andern geführt. Und ich fürchtete schon dich nicht mehr zu sehen, als mir die Mutter schrieb: ich habe ihn geschickt. Armer Ciccillo! Seit wie viel Tagen bist du hier? Wie war diese Verwechslung möglich? Ich hatte mich binnen kurzem erholt. Ich bin jetzt gesund, weißt du! Und die Mutter? Und Concettella? Und unser Nesthäkchen? Wie geht es ihnen? Ich verlasse nun das Spital. Komm', laß uns gehen. O großer Gott! Wer hätte das je gedacht?«
Der Knabe konnte nur mit Mühe einige Worte stammeln und Nachrichten von der Familie geben. – »O wie bin ich so froh! Welch böse Tage habe ich verlebt!« – und er konnte nicht aufhören seinen Vater zu küssen. Aber er wich nicht von der Stelle. – So komm, – sagte der Vater zu ihm. – wir können noch heute Abend zu Hause sein. Gehen wir. – Und er zog ihn zu sich.
Der Knabe kehrte sich um und betrachtete seinen Kranken.
– Nun … kommst oder kommst du nicht? – fragte ihn der Vater verwundert.
Der Knabe warf noch einen Blick auf den Kranken, der in diesem Augenblicke die Augen öffnete und ihn fest ansah.
Nun löste es sich von seinem gepreßten Herzen in einem Strom von Worten. – »Nein, Tata, warte … nein … ich kann nicht. Da, sieh' den Alten an. Seit fünf Tagen bin ich hier. Er betrachtet mich immer. Ich glaubte, du seiest es. Ich liebte ihn sehr. Er schaut mich an, wenn er trinken will, er will mich immer um sich haben, jetzt geht es ihm sehr schlecht, habe Geduld, ich habe nicht den Mut, ich weiß nicht, es geht mir zu sehr zu Herzen, ich werde morgen nach Hause kommen, laß mich noch ein wenig dableiben, es geht nicht an, daß ich ihn jetzt verlasse, sieh, wie er mich betrachtet, ich weiß nicht wer er ist, aber er verlangt nach mir, er würde allein sterben, laß mich hier, lieber Tata!«
– »Braver Junge!« rief der Assistent.
Der Vater sah den Knaben verwundert an; dann betrachtete er den Kranken. – »Wer ist's?« fragte er.
– »Ein Bauer wie Ihr,« – antwortete der Assistent, »von auswärts gekommen, welcher am gleichen Tag wie Ihr in das Spital eingetreten ist. Sie trugen ihn besinnungslos hieher und er konnte nichts sagen. Vielleicht hat er eine ferne Familie, Söhne. Er wird glauben der eurige sei einer der seinigen.«
Der Kranke betrachtete immer den Knaben.
Der Vater sagte zu Ciccillo: – »So bleibe da.«
– »Er muß nur noch kurze Zeit bleiben;« murmelte der Assistent.
– »Bleibe,« wiederholte der Vater. »Du hast Herz. Ich gehe sofort nach Hause, um die Mutter aller Angst zu entheben. Hier ist ein Thaler für deine Bedürfnisse. Lebe wohl, mein braver Sohn. Auf Wiedersehen.«
Er küßte ihn, sah ihm scharf ins Gesicht, küßte ihn noch einmal auf die Stirne und ging.
Der Knabe kehrte zum Bette zurück und der Kranke schien getröstet. Ciccillo fuhr wieder fort den Krankenwärter zu machen, zwar nicht mehr unter Thränen, aber mit der gleichen Sorgfalt, mit der gleichen Geduld wie früher; er gab ihm wieder zu trinken, legte ihm die Decken zurecht, streichelte ihm die Hand und sprach ihm freundlich zu, um ihn zu ermutigen. Er pflegte ihn den ganzen Tag, die ganze Nacht und blieb auch noch den folgenden ganzen Tag bei ihm. Aber des Kranken Zustand verschlimmerte sich immer mehr; sein Gesicht wurde blau, der Atem rascher, die Unruhe wuchs, unartikulierte Laute entflohen seinem Munde, die Geschwulst nahm schrecklich zu. Am Abend sagte der Arzt bei seinem Besuche, daß er die Nacht nicht überleben würde. Und alsdann verdoppelte Ciccillo seine Pflege und verlor ihn keinen Moment aus dem Auge. Und der Kranke betrachtete ihn immerfort, und bewegte noch die Lippen von Zeit zu Zeit mit großer Anstrengung, als ob er etwas sagen wolle, und ein Ausdruck außerordentlicher Zärtlichkeit lag in den Augen, die immer kleiner wurden und sich mehr und mehr verschleierten. Und diese Nacht wachte der Knabe bei ihm, bis er das erste Dämmerlicht des kommenden Tages sah und die Schwester erschien. Die Schwester näherte sich dem Bette, warf einen Blick auf den Kranken und ging eiligen Schrittes fort. Wenige Augenblicke nachher erschien sie wieder mit dem Assistenten und einem Krankenwärter, der eine Laterne trug.
– »Er liegt in den letzten Zügen,« – sagte der Arzt.
Der Knabe ergriff die Hand des Kranken. Dieser öffnete die Augen, betrachtete ihn und schloß sie wieder.
In diesem Augenblick glaubte der Knabe, seine Hand werde gedrückt. – »Er hat mir die Hand gedrückt!« – rief er aus.
Der Arzt blieb einen Augenblick auf den Kranken geneigt, dann erhob er sich. – Die Schwester nahm ein Kruzifix von der Wand. – »Er ist tot!« rief der Knabe.
– »Gehe, mein Sohn,« – sagte der Arzt. »Dein heiliges Werk ist zu Ende. Gehe, und das Glück, das du verdienst, sei mit dir. Gott wird dich beschützen. Lebe wohl.«
Die Schwester, die sich einen Augenblick entfernt hatte, kehrte mit einem Veilchensträußchen, das sie aus einem Glase auf dem Fenstergesimse genommen hatte, zurück und reichte es dem Knaben, indem sie sagte: – »Ich kann dir nichts anderes geben. Nimm das als Andenken an das Spital.«
– »Dank,« – sagte der Knabe, indem er mit einer Hand das Sträußchen ergriff und mit der andern die Augen trocknete; – aber ich muß so weit zu Fuß gehen … ich würde sie verderben. Und nachdem er das Sträußchen aufgelöst hatte, streute er die Veilchen auf das Bett, indem er sagte: – »Ich lasse sie als Andenken meinem armen Toten. Dank, Schwester. Dank, Herr Doktor.« – Dann, indem er sich zum Toten wandte: – »Addio« … – Und während er einen Namen suchte, den er ihm geben könnte, kam ihm vom Herzen der süße Name auf die Lippen, welchen er ihm während fünf Tagen gegeben hatte: – Addio, armer Tata!
Als er dies gesagt hatte, nahm er sein Bündel unter den Arm und langsamen Schrittes, von der Müdigkeit erschöpft, entfernte er sich. Der Tag war angebrochen.
18. – Samstag.
Precossi kam gestern Abend, um mich zu erinnern, ich solle seine Werkstatt, welche unten in der Straße ist, besuchen, und diesen Morgen, als ich mit meinem Vater ausging, begaben wir uns einen Augenblick dorthin. Als wir uns der Werkstatt näherten, kam Garoffi eiligen Laufes heraus, ein Paket in der Hand, und ließ seinen großen Mantel, der alle seine Siebensachen bedeckt, in der Luft flattern. Ah! nun weiß ich, wo er seinen Hammerschlag maust, den er für alte Zeitungen verkauft, dieser Schacherer Garoffi! Als wir unter die Türe traten, sahen wir Precossi auf einem Haufen von Ziegelsteinen sitzen; er lernte die Lektion, das Buch auf den Knieen. Er erhob sich sofort und hieß uns eintreten; es war ein großer Raum voll Kohlenstaub, die Wände behangen mit Hämmern, Zangen, Eisenstangen und altem, schlechtem Eisen jeder Form; in einem Winkel brannte das Feuer einer Esse, in welche der von einem Knaben gezogene Blasbalg hineinblies. Der Vater Precossi stand beim Ambos und ein Geselle hielt einen Eisenstab ins Feuer. Kaum hatte uns der Schmied erblickt, als er seine Mütze lüftete und ausrief: – »Ah! das ist der brave Knabe, der die Eisenbahnzüge verschenkt! Er ist gekommen, um ein wenig arbeiten zu sehen, nicht wahr? Sein Wunsch soll im Augenblick erfüllt sein.« – Und indem er dies sagte, lächelte er; er hatte nicht mehr das häßliche Gesicht und die scheelen Augen von früher. Der Geselle reichte ihm einen langen, an einem Ende glühenden Eisenstab und der Schmied legte ihn auf den Ambos. Es sollte einer jener gekrümmten Stäbe für das Geländer am Quai daraus gemacht werden. Der Schmied erhob seinen großen Hammer und begann zu schlagen, indem er den glühenden Teil bald dahin, bald dorthin, gegen die Spitze oder in die Mitte vom Ambos stieß, und ihn auf alle Seiten hin- und herdrehte; und wunderbar war es zu sehen, wie unter den schnellen und regelmäßigen Hammerschlägen das Eisen sich krümmte, sich dehnte, drehte und nach und nach die graziöse Form eines gekräuselten Blumenblattes annahm, als ob man es wie ein Stück Wachs mit der Hand gebildet hätte. Und unterdessen betrachtete uns sein Sohn mit einer gewissen frohen Miene, als wolle er sagen: – »Seht, wie mein Vater arbeitet!« – »Hat das Herrchen gesehen, wie man es macht,« fragte mich der Schmied als er fertig war, indem er die Eisenstange, die nun wie ein Bischofsstab aussah, vor mich hin legte. Dann stellte er sie beiseite und stieß eine andere ins Feuer. – »Wirklich gut gemacht,« sagte mein Vater zu ihm. Und er fuhr fort: – »Also, … man arbeitet, eh? Der gute Wille ist wieder da.« – »Er ist zurückgekehrt, ja,« – antwortete der Handwerker, indem er den Schweiß abtrocknete und ein wenig errötete. – »Und wissen Sie, wer mir ihn wieder geschenkt hat?« – Mein Vater that, als ob er nicht recht verstehe. – »Dieser brave Knabe, der lernte und seinem Vater Ehre machte, während sein Vater … Hab und Gut durchbrachte und ihn wie ein Tier behandelte. Als ich diese Medaille gesehen hatte … Ah! mein kleiner Knirps, komm ein wenig hierher, daß ich dir ins Gesicht sehe! – Der Knabe lief sofort herbei, der Schmied nahm ihn und stellte ihn aufrecht auf den Ambos, indem er ihn unter den Armen hielt, und sagte zu ihm: – »Reinige diesem Rabenvater ein wenig die Stirne.« – Und nun bedeckte Precossi das schwarze Gesicht seines Vaters mit Küssen, bis er auch ganz schwarz war. – »So ists recht,« – sagte der Schmied und stellte ihn auf die Erde. – »Wahrlich, so ists recht, Precossi!« rief mein Vater lachend. Und nachdem er dem Schmiede und dem Sohne lebewohl gesagt hatte, führte er mich fort. Während ich hinaus trat, sagte Precossi zu mir: – »Entschuldige,« – und steckte mir ein Paket Nägel in die Tasche; ich lud ihn ein, in unser Haus zu kommen, um von dort aus den Karneval zu sehen. – Du hast ihm deinen Eisenbahnzug geschenkt, – sagte der Vater auf der Straße zu mir; – aber hätte er auch aus Gold und Edelsteinen bestanden, es wäre noch ein kleines Geschenk gewesen für diesen Sohn, der seinem Vater das Herz zurückgegeben hat.
20. – Montag.
Die ganze Stadt ist in Bewegung des Karnevals wegen, der seinem Ende entgegen geht; auf jedem Platze erheben sich Buden von Seiltänzern und Ringelrennen; wir haben unter unsern Fenstern einen Cirkus von Leinwand, wo eine kleine venetianische Gesellschaft mit fünf Pferden Vorstellungen giebt. Der Cirkus steht auf der Mitte des Platzes, und in einem Winkel sind drei große Wagen, in denen die Seiltänzer schlafen und sich ankleiden: Drei Häuschen mit Rädern und Fensterchen und jedes hat einen Kamin, der immer raucht; von Fenster zu Fenster sind Windeln aufgehängt. Da ist eine Frau die ihr Kind säugt, kocht und auf dem Seile tanzt. Arme Leute! Man spricht das Wort Seiltänzer wie einen Schimpf aus, und doch verdienen sie ihr Brot auf ehrliche Weise, indem sie die andern unterhalten; und wie sie arbeiten! Den ganzen Tag laufen sie, zwischen Cirkus und Wagen, nur in dünnen Jacken bei dieser Kälte herum, essen in Eile zwei Bissen und fort gehts wieder, immer auf den Füßen von einer Vorstellung zur andern, und oft, wenn der Cirkus schon gedrängt voll ist, erhebt sich ein Wind, der die Leinwand mit Gewalt wegreißt und die Lichter auslöscht, und um die Vorstellung ist es geschehen. Sie müssen das Geld zurückgeben und den ganzen Abend arbeiten, um die Bude wieder in Stand zu setzen. Es sind auch zwei Knaben dabei, welche arbeiten; mein Vater erkannte den kleinen wieder, als er über den Platz schritt: es ist der Sohn des Besitzers, der gleiche, den wir letztes Jahr in einem Cirkus auf dem Viktor-Emanuel-Platze seine Künste auf dem Pferde ausüben sahen. Er ist gewachsen, wird acht Jahre alt sein und ist ein schöner Knabe, mit dem runden, braunen Gesichtchen eines Straßenjungen, mit vielen schwarzen Locken, die unter seinem kegelförmigen Hute hervorquellen. Er ist als Hanswurst gekleidet, steckt in einer Art weißem, schwarzbesticktem Sack und hat Schuhe von Leinwand. Es ist ein Wildfang. Er gefällt allen, macht alles. Wir sehen ihn am frühen Morgen in einen Shawl eingewickelt, die Milch in sein hölzernes Häuschen tragen; dann holt er die Pferde aus dem Stalle an der Straße Bertola; trägt das kleine Kind auf den Armen, schleppt die Reifen, Böcke, Bretter, Seile herum, reinigt die Wagen, zündet das Feuer an und in den Augenblicken der Ruhe ist er immer an der Seite der Mutter. Mein Vater betrachtet ihn oft vom Fenster aus, und spricht von ihm und den Seinigen, als von braven Leuten, welche die Kinder lieben. Eines Abends gingen wir in den Cirkus; es war kalt und fast niemand hatte sich eingefunden; aber dennoch gab sich der kleine Hanswurst große Mühe, um diese wenigen Leute in guter Laune zu erhalten: er machte Purzelbäume, hing sich an den Schwanz der Pferde, ging ganz allein auf den Händen, die Beine in der Luft, und sang, mit seinem schönen braunen Gesichtchen immer lächelnd; und sein Vater, der einen roten Frack, weiße Hosen und hohe Stiefel trug und eine Reitgerte in der Hand hatte, betrachtete ihn, aber er war traurig. Mein Vater hatte Mitleid mit ihm und sprach am folgenden Tag mit dem Maler Delis, der uns besuchte. Diese armen Leute arbeiten sich zu Tode und machen so schlechte Geschäfte! Der kleine Knabe gefiel ihm sehr! Was könnte man für sie thun? Der Maler hatte einen guten Gedanken. – Schreibe einen schönen Artikel in die Zeitung, – sagte er, – du der du schreiben kannst: du erzählst Wunder von dem kleinen Hanswurst und ich zeichne sein Bild; alle lesen die Zeitung und wenigstens für ein Mal werden die Leute herbeilaufen. – Und so geschah es. Mein Vater schrieb einen schönen Artikel und erzählte alles, was wir vom Fenster aus sehen und machte den Leuten Lust, den kleinen Künstler kennen zu lernen und zu liebkosen; und der Maler skizzierte ein treffendes, graziöses Bildchen, das Samstag abend veröffentlicht wurde. Und siehe da! Zu der Sonntagsvorstellung drängte sich eine große Menge zum Cirkus. Angekündigt war: ›Benefizvorstellung des kleinen Hanswurstes,‹ wie er in der Zeitung genannt war. Mein Vater führte mich auf einen der ersten Plätze. In der Nähe des Einganges hatten sie die Zeitung aufgehängt. Der Cirkus war gestopft voll. Viele Zuschauer hatten die Zeitung in der Hand und zeigten sie dem kleinen Hanswurst, welcher lachend und ganz glücklich bald zu dem einen, bald zum andern sprang. Auch sein Vater war zufrieden. Man kann sich's denken! Keine Zeitung hatte ihm je solche Ehre erwiesen, und die Kasse war ganz voll. Mein Vater saß neben mir. Unter den Zuschauern fanden wir bekannte Personen. Beim Eingang für die Pferde stand der Turnlehrer, der, welcher unter Garibaldi gedient hat; uns gegenüber auf dem zweiten Platz saß das Maurermeisterlein mit seinem runden Gesichtchen, neben der Riesengestalt seines Vaters; … und kaum sah er mich, als er mir das Hasenmäulchen machte. Etwas weiter entfernt sah ich Garoffi, der die Zuschauer zählte und an den Fingern ausrechnete, wie viel die Gesellschaft wohl eingenommen habe. Auf dem ersten Platz, nicht weit von uns entfernt, saß auch der arme Robetti, der das Kind vor dem Omnibus rettete, mit den Krücken zwischen den Knieen, ganz nahe an der Seite seines Vaters, des Artilleriehauptmanns, der ihm eine Hand auf die Schulter legte. Die Vorstellung begann. Der kleine Hanswurst that Wunder auf dem Pferde, auf dem Trapez und auf dem Seile, und jedesmal wenn er heruntersprang, klatschten alle in die Hände und viele liebkosten ihn. Dann zeigten mehrere andere ihre Künste: Seiltänzer, Taschenspieler und Bereiter, in bunte Lappen gekleidet und von Silber strahlend. Aber wenn der Knabe nicht da war, so schien es, als ob das Publikum sich langweile. Einmal sah ich den Turnlehrer wie er, am Eingang für die Pferde stehend, dem Besitzer des Cirkus etwas ins Ohr sagte, und dieser ließ das Auge sofort über die Zuschauer schweifen, als ob er jemand suche. Sein Blick blieb auf uns haften. Mein Vater bemerkte es, erriet, daß der Lehrer gesagt hatte, er sei der Verfasser des Artikels, und um keinen Dank annehmen zu müssen, entfernte er sich, indem er zu mir sagte: – »Bleibe, Heinrich, ich erwarte dich draußen.« Nachdem der kleine Hanswurst einige Worte mit seinem Vater gewechselt, führte er noch ein Kunststück aus: aufrecht auf dem galoppierenden Pferde wechselte er viermal die Kleidung; er erschien als Pilger, als Matrose, als Soldat und als Seiltänzer, und jedesmal, wenn er an mir vorbeikam, betrachtete er mich. Am Schlusse machte er die Runde mit seinem Hut in den Händen und alle warfen ihm Soldi oder Zuckerwerk hinein. Ich hielt zwei Soldi bereit; aber als er vor mir stand, zog er den Hut schnell zurück, sah mich an und ging vorüber. Ich fühlte mich sehr gekränkt. Warum hatte er mir diese Unhöflichkeit angethan? Die Vorstellung war zu Ende, der Besitzer des Cirkus dankte dem Publikum und die ganze Menge erhob sich und drängte dem Ausgang zu. Ich war in dem Gedräng verloren und schon im Begriffe hinauszugehen, als jemand meine Hand berührte. Ich drehte mich um, es war der kleine Hanswurst mit seinem schönen braunen Gesichtchen und seinen Locken, der mir zulächelte, er hatte die Hände voll Zuckerwerk. Nun verstand ich. »Willst du,« sagte er zu mir, »Zuckerwerk vom Hanswurstel annehmen?« Ich nickte ja, und nahm drei oder vier. – »Nun,« sagte er, »nimm auch einen Kuß.« »Gieb mir zwei,« – antwortete ich und neigte mich zu ihm. Er wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht, das mit Mehl bestreut war, schlang mir einen Arm um den Hals und gab mir zwei Küsse auf die Wangen, indem er sagte: – »Da nimm, bringe deinem Vater auch einen.«
21. – Dienstag.
Welch' traurige Scene sahen wir heute am Maskenzuge? Die Sache lief gut ab; aber es hätte ein großes Unglück entstehen können. Auf dem Platze San Carlo, der ganz mit gelben, roten und weißen Guirlanden geschmückt war, sammelte sich eine große Menge; Masken aller Farben tummelten sich; vergoldete und beflaggte Wagen, welche die Form von Zelten, kleinen Theatern und Schiffen hatten, waren voll von Possenreißern, Kriegern, Köchen, Matrosen, Schäferinnen; es war ein Durcheinander, daß man nicht wußte wohin sehen; ein Getöse von Trompeten, Hörnern und Becken, das die Ohren zerriß. Die Maskierten auf den Wagen tranken und sangen, redeten zu den Leuten zu ihren Füßen und zu denen an den Fenstern, welche mit lauter Stimme antworteten, und bewarfen sich wie wütend mit Pomeranzen und Bonbons; und über den Wagen und der Menge, überall wohin das Auge blickte, sah man Fahnen flattern, Helme glänzen, Federbüsche nicken, Köpfe aus Papiermaché sich bewegen, riesige Weiberhauben, ungeheure Cylinder, wunderliche Waffen, kleine Mohrentrommeln mit Schellen, Triangel, rote Mützen und Flaschen: alles schien toll zu sein. Als unser Wagen auf dem Platze ankam, fuhr vor uns ein prächtiger Vierspänner, die Pferde waren mit goldgestickten Decken behangen und mit Guirlanden aus künstlichen Rosen bekränzt. Auf dem Wagen befanden sich vierzehn oder fünfzehn Herren, als Edelleute vom französischen Hofe verkleidet, alle in Seide, glänzend, mit weißen Perücken, den Federhut unter dem Arm, mit dem kleinen Degen, und einem Gewirr von Bändern und Tressen auf der Brust: es war herrlich. Sie sangen mit einander ein französisches Lied und warfen Zuckerwerk unter die Menge, und diese klatschte in die Hände und schrie. Plötzlich sahen wir zu unserer Linken einen Mann, der ein Mädchen von fünf oder sechs Jahren über die Köpfe der Leute emporhob, ein armes Ding, das verzweifelt weinte und die Arme bewegte, als ob es Krämpfe hätte. Der Mann drängte sich gegen den Wagen der Herren, einer derselben beugte sich herab und jener andere sagte laut: – »Nehmen Sie dieses Kind, es hat seine Mutter verloren, halten Sie es auf dem Arm; die Mutter kann nicht weit sein und wird es sehen; es ist nichts anderes zu machen.« – Der Herr nahm das Kind auf den Arm; alle hörten auf zu singen; das Kind heulte und sträubte sich; der Herr nahm die Maske herunter; der Wagen fuhr langsam weiter. Unterdessen bahnte sich wie uns nachher gesagt wurde, eine halb wahnsinnige Frau am entgegengesetzten Ende des Platzes mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge, indem sie schrie: – Maria! Maria! Maria! ich habe mein Kindlein verloren. Man hat es mir gestohlen. Sie haben mir mein Kind erdrückt. Und seit einer Viertelstunde gebärdete sie sich wie wahnsinnig und war dem Verzweifeln nahe, rannte bald da, bald dorthin, von der Menge, die ihr keinen Platz machen konnte, immer wieder zurückgedrängt. Der Herr auf dem Wagen hielt indessen das Kind an seine mit Bändern und Tressen geschmückte Brust gedrückt, ließ die Blicke über den Platz schweifen und suchte das arme Wesen zu beruhigen, welches sich das Gesicht mit den Händen bedeckte, und nicht mehr wußte wo es war und schluchzte, daß das Herz einem brechen wollte. Der Herr war gerührt; man sah, daß das Schreien ihm in die Seele ging; alle andern boten dem kleinen Mädchen Pomeranzen und Süßigkeiten an; aber dieses stieß alles zurück, wurde immer ängstlicher, und machte immer krampfhaftere Bewegungen. – »Suchet die Mutter!« – schrie der Herr der Menge zu, – »suchet die Mutter!« Alle wandten sich nach rechts und links, aber die Mutter fand man nicht. Endlich, wenige Schritte von der Straße Roma stürzte sich eine Frau gegen den Wagen … Ach! niemals werde ich sie vergessen! Sie schien kein menschliches Wesen mehr zu sein; die Haare flatterten, das Gesicht war entstellt, die Kleider zerrissen; sie stürzte sich vorwärts, indem sie einen heisern Schrei ausstieß, von dem man nicht wußte, ob es ein Schrei der Freude oder der Angst oder Wut sei, sie streckte die Hände wie Krallen aus, um das Kind zu ergreifen. Der Wagen hielt an. – »Hier ist es,« – sagte der Herr, reichte ihr das Kind, nachdem er es geküßt hatte und legte es in die Arme seiner Mutter, die es stürmisch ans Herz drückte … Aber eines der beiden Händchen blieb einen Augenblick zwischen den Händen des Herrn und dieser streifte sich einen goldenen Ring mit einem Diamant vom Finger und steckte ihn mit einer schnellen Bewegung an einen Finger der Kleinen: – »Nimm,« – sagte er, – es soll deine Aussteuer sein. Die Mutter blieb wie bezaubert stehen, die Menge brach in Beifallsbezeugungen aus, der Herr bedeckte das Gesicht mit der Maske, seine Gefährten setzten den Gesang fort und der Wagen fuhr langsam weiter, unter einem Sturm von Händeklatschen und Beifallrufen.
24. – Donnerstag.
Der Lehrer ist sehr krank und sie schickten heute an seiner Statt den von der vierten Klasse, welcher Lehrer an der Blindenanstalt gewesen ist; er ist der älteste von allen, so weiß, daß es scheint, er trage eine Perücke aus Baumwolle und dabei spricht er, als ob er ein melancholisches Lied sänge; aber er ist gut und weiß viel. Kaum war er in die Schule getreten, so sah er einen Knaben mit einem verbundenen Auge, näherte sich der Bank und fragte ihn, was er habe. – »Gieb acht auf die Augen, Knabe,« – sagte er ihm. Und nun fragte ihn Derossi: – »Ist es wahr, Herr Lehrer, daß Sie Lehrer der Blinden gewesen?« – »Ja, mehrere Jahre,« – antwortete er. Und Derossi sagte halblaut: – »Bitte erzählen Sie uns etwas davon.«
Der Lehrer setzte sich an das Pult.
Coretti sagte laut: – Die Blindenanstalt ist in der Nizzaner Straße.
– »Ihr sagt Blinde, Blinde,« – begann der Lehrer, – »als ob ihr sagen würdet, Kranke oder Arme, oder was weiß ich. Aber versteht ihr wohl die Bedeutung dieses Wortes? denkt ein wenig darüber nach. Blind! Nichts sehen, niemals! Unfähig den Tag von der Nacht zu unterscheiden, weder den Himmel, noch die Sonne, noch die eigenen Eltern sehen, nichts von dem, was ringsum ist und was man berührt; in ewige Finsternis getaucht sein, wie begraben im Innern der Erde! Versucht ein wenig die Augen zu schließen und zu denken, daß ihr immer so bleiben müsset: sofort ergreift euch eine Angst, ein Schrecken, es scheint euch unmöglich, so bleiben zu können, ihr möchtet schreien und glaubt, daß ihr wahnsinnig werden oder sterben müßtet. Doch … arme Knaben! wenn man das erstemal in das Blindenhaus eintritt, in der Zeit der Erholung, wenn man von allen Seiten Violinen und Flöten spielen, laut sprechen und lachen hört, wenn man sieht, wie sie mit behenden Schritten die Treppen erklimmen und herabkommen, ungehindert durch Korridore und Schlafsäle streifen, so würde man nicht glauben, daß sie die Unglücklichen seien, die sie in Wirklichkeit sind. Man beobachte sie aber nur genau. Es giebt Jünglinge von sechszehn bis achtzehn Jahren, kräftig und heiter, welche die Blindheit mit einer gewissen Ungezwungenheit, fast mit einer gewissen Kühnheit tragen; aber man kann in dem unwilligen und stolzen Ausdruck der Gesichter lesen, wie gräßlich sie gelitten haben müssen, bevor sie sich in ihr Unglück ergaben. Da sind andere, mit bleichen, süßen Gesichtern, in welchen man eine große Ergebung bemerkt; aber sie sind traurig und man ahnt, daß sie hie und da im geheimen noch weinen müssen. Ach, meine lieben Söhne! Bedenkt, daß einige von ihnen das Gesicht in wenig Tagen verloren haben, andere nach jahrelangem Märtyrertum, nach vielen schrecklichen Operationen, und daß viele so geboren sind, geboren in einer Nacht, die nie ein Morgenrot für sie hatte, in die Welt getreten wie in ein ungeheures Grab, und die nicht wissen, wie das menschliche Antlitz geschaffen ist! Stellt euch vor, wie viel sie gelitten haben müssen und wie sehr sie noch leiden, wenn sie an den schrecklichen Unterschied denken, der zwischen ihnen und den Sehenden besteht und wenn sie sich dann fragen: – ›Warum dieser Unterschied, wenn wir keine Schuld tragen?‹ – Wenn ich, der ich mehrere Jahre unter ihnen gewesen bin, mich an jene Klasse, an alle jene für immer umnachteten Augen, an alle jene Augensterne ohne Blick und ohne Leben erinnere, und dann euch betrachte, … so scheint es mir unmöglich, daß ihr nicht alle glücklich seid. Bedenkt: es giebt ungefähr sechsundzwanzigtausend Blinde in Italien! Sechsundzwanzigtausend Personen, die das Licht nicht sehen! Verstanden? – ein Heer, das vier Stunden brauchte, um an unsern Fenstern vorbeizumarschieren!«
Der Lehrer schwieg; es herrschte atemlose Stille. Derossi fragte, ob es wahr sei, daß die Blinden ein feineres Gefühl hätten, als wir.
Der Lehrer sprach: – »Es ist wahr. Alle andern Sinne verfeinern sich bei ihnen, eben deshalb, weil sie denjenigen des Gesichtes ersetzen müssen und mehr geübt werden, als von denen, welche sehen. Am Morgen frägt der eine den andern in den Schlafsälen: – ›Scheint die Sonne?‹ – und der am geschwindesten angekleidet ist, entschlüpft sofort auf den Hof, um die Hand in der Luft zu bewegen und zu fühlen, ob er die Wärme der Sonne bemerke und dann läuft er um die frohe Nachricht: – ›die Sonne scheint!‹ – zu überbringen. Nach der Stimme einer Person machen sie sich eine Vorstellung ihrer Gestalt; wir beurteilen die Seele eines Menschen nach den Augen, sie nach der Stimme; sie erinnern sich Jahre lang an Klang und Ausdruck. Sie bemerken, ob in einem Zimmer mehr als eine Person ist, auch wenn nur eine spricht und die andern sich nicht rühren. Mit dem Tastsinn bemerken sie, ob ein Löffel gut oder schlecht gereinigt sei. Die kleinen Kinder schon unterscheiden gefärbte Wolle von natürlicher. Wenn sie zu zweien durch die Straßen gehen, erkennen sie fast alle Läden am Geruch, auch da, wo wir keine Gerüche wahrnehmen. Sie spielen mit dem Kreisel und indem sie das Surren hören, das er beim Drehen macht, treffen sie ihn ganz genau, ohne je zu fehlen. Sie treiben Reife, spielen Kegel, springen über das Seil, bauen Häuschen aus Steinen, pflücken Veilchen, als ob sie dieselben sehen könnten, sie machen Binsenmatten und Körbchen, flechten Stroh von verschiedenen Farben, sicher und gut, so haben sie ihr Gefühl geübt! Das Gefühl ist ihr Gesicht; eines ihrer größten Vergnügen ist, zu befühlen, zu fassen, die Form der Gegenstände zu erraten, indem sie dieselben betasten. Wenn man sie ins Gewerbemuseum führt, wo sie betasten können was sie wollen, ist es rührend zu sehen, mit welcher Freude sie sich auf die geometrischen Körper, auf die Häusermodelle, auf die Instrumente werfen, mit welchem Vergnügen sie alle diese Sachen anrühren, streifen, in den Händen umkehren, um zu ›sehen‹, wie sie gemacht sind. Sie sagen ›sehen‹!«
Garoffi unterbrach den Lehrer, um ihn zu fragen, ob es wahr sei, daß die blinden Knaben besser rechnen lernen, als die andern.
Der Lehrer antwortete: – »Es ist wahr. Sie lernen Rechnen und Lesen. Sie haben eigene Bücher mit erhabenen Buchstaben; sie gleiten mit den Fingern darüber, erkennen die Buchstaben und sprechen die Wörter aus; sie lesen fließend. Und man muß sie sehen, die Armen, wie sie erröten, wenn sie einen Fehler machen. Und sie schreiben auch, doch ohne Tinte. Sie schreiben auf dickes, hartes Papier mit einem Pfriem aus Metall, der so viele Pünktchen macht, als zu einem besondern ABC notwendig sind; diese Pünktchen sind dann auf der Rückseite des Papiers erhaben, so daß sie, wenn sie das Papier umkehren und mit den Fingern über dieses Relief fahren, das lesen können, was sie oder auch was andere geschrieben haben; und so machen sie Aufsätze und schreiben sich unter einander Briefe. In gleicher Weise machen sie Zahlen und Rechnungen. Kopfrechnungen machen sie mit unglaublicher Leichtigkeit, da sie nicht wie wir von den umgebenden Gegenständen zerstreut werden. Ihr solltet sie sehen, wie sie leidenschaftlich darauf aus sind lesen zu hören, wie sie aufmerksam sind, wie sie sich an alles erinnern, wie sie unter sich Gespräche führen, auch die Kleinen, über Gegenstände aus der Geschichte und Sprache, wie vier oder fünf auf der gleichen Bank sitzen, und der erste mit dem Dritten, der zweite mit dem vierten und alle mit einander laut sprechen, ohne daß sich der eine zum andern wendet, ohne ein einziges Wort zu verlieren, – ein so gutes und scharfes Gehör haben sie! Und dem Examen legen sie mehr Wert bei als ihr, ich versichere es euch, und hängen auch mit größerer Liebe an ihrem Lehrer. Sie erkennen ihn am Schritt und am Geruch; sie merken ob er guter oder schlechter Laune ist, ob er wohl oder unwohl ist, aus nichts anderem, als aus dem Ton seiner Stimme; sie wollen, daß der Lehrer sie berühre, wenn er sie ermutigt oder lobt, und sie berühren seine Hände und Arme um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Und sie lieben einander, sind gute Kameraden. In der Zeit der Erholung sind fast immer die Gleichen bei einander. In der Abteilung der Mädchen z. B. bilden diese mehrere Gruppen nach dem Instrument das sie spielen, die Violinspielerinnen, die Klavierspielerinnen, die Flötenspielerinnen, und sie verlassen einander nie. Wenn sie einen lieb gewonnen haben, ist es schwer, sie von ihm zu trennen. Sie finden einen großen Trost in der Freundschaft. Sie beurteilen sich richtig unter einander. Sie haben ein feines und tiefes Verständnis für gut und schlecht. Niemand ergötzt sich wie sie an der Erzählung einer großmütigen Handlung oder einer großen That.«
Votini fragte, ob sie gut spielten. – »Sie lieben die Musik grenzenlos,« – antwortete der Lehrer. – »Die Musik ist ihre Freude, ihr Leben. Blinde Kinder, die kaum in die Anstalt getreten sind, können drei Stunden unbeweglich dastehen, um spielen zu hören. Sie lernen leicht, spielen mit Leidenschaft. Wenn der Lehrer einem sagt, daß er keine Anlagen zur Musik habe, so empfindet er einen großen Schmerz, aber er fängt an, aus allen Kräften zu lernen. Ah! wenn ihr die Musik da drinnen hören würdet, wenn ihr sie spielen sehen würdet, die Stirne erhoben, das Lächeln auf den Lippen, das Gesicht gerötet, vor Rührung zitternd, entzückt diese Harmonieen anhörend, gleichsam den Widerhall aus der unendlichen Dunkelheit, die sie umgiebt, da würdet ihr fühlen, welch göttlicher Trost in der Musik liegt! Und sie jubeln, glänzen vor Glückseligkeit, wenn ein Lehrer zu ihnen sagt: – ›Du wirst ein Künstler werden.‹ – Für sie ist der Erste in der Musik derjenige der am besten Klavier oder Violine spielt; wie einen König lieben und verehren sie ihn. Wenn ein Streit zwischen zweien entsteht, gehen sie zu ihm; wenn sich zwei Freunde entzweien, so ist er es, der sie versöhnt. Die Kleinsten, die er spielen lehrt, lieben ihn wie einen Vater. Bevor sie schlafen gehen, sagen ihm alle gute Nacht. Fortwährend sprechen sie von Musik. Noch spät abends im Bette, wenn alle müd vom Lernen und Arbeiten und halb eingeschlafen sind, sprechen sie leise von Opern, Musikern, Instrumenten, Orchestern. Und es ist eine so große Strafe für sie, wenn man ihnen die Lektüre oder die Musikstunde entzieht, sie leiden so sehr darunter, daß man fast nie den Mut hat, sie auf diese Weise zu strafen. Was das Licht für unser Auge ist, das ist die Musik für ihr Herz.«
Derossi fragte, ob man nicht hingehen könne, um sie zu sehen. – »Man kann,« – antwortete der Lehrer; – »aber ihr Knaben sollt jetzt noch nicht hingehen. Ihr werdet später gehen, wenn ihr imstande seid, die ganze Größe dieses Unglücks zu verstehen und das ganze Mitleid zu fühlen, das es verdient. Es ist ein trauriges Schauspiel, meine Söhne. Ihr seht da oft Knaben an einem geöffneten Fenster sitzen und sich der frischen Luft freuen, mit unbeweglichem Gesicht, so daß es scheint, als betrachten sie die große, grüne Ebene und die schönen blauen Berge, die ihr seht …, und beim Gedanken, daß sie nichts sehen, daß sie niemals etwas von dieser unendlichen Schönheit sehen werden, fühlt euere Seele einen Schmerz, als wäret ihr in diesem Augenblicke selbst blind geworden. Die Blindgebornen, welche die Welt nie gesehen haben, beweinen nichts, weil sie keine Vorstellung von den Sachen haben, und sie erregen weniger Mitleid. Aber es giebt Knaben, die seit wenigen Monaten blind sind, die sich noch an alles gut erinnern, die wohl wissen, was sie verloren haben, und diese empfinden den größten Schmerz, da sie fühlen, wie sich jeden Tag in ihrem Gedächtnis die heiligsten Bilder verdunkeln, wie in ihrer Vorstellung die geliebtesten Personen absterben. Einer dieser Knaben sagte mir eines Tages mit unaussprechlicher Traurigkeit: – Ich möchte noch einmal das Gesicht zurückerhalten, nur einen Augenblick, um das Antlitz der Mutter, an das ich mich nicht mehr erinnere, wieder zu sehen! – Und wenn die Mutter sie besucht, legen sie ihr die Hände auf das Gesicht, betasten es genau von der Stirne bis zum Kinn und bis zu den Ohren, um zu fühlen wie es beschaffen ist, und sie können es fast nicht glauben, daß sie es nie mehr sehen sollen; sie rufen dieselbe beim Namen, viele, viele Male, wie um sie zu bitten, sie möge, sie solle sich doch nur einmal noch sehen lassen. Wie viele gehen weinend von dort fort, auch Männer mit hartem Herzen! Und beim Fortgehen erscheint es uns wie eine Ausnahme, fast wie ein unverdientes Vorrecht, daß wir die Menschen, die Häuser, den Himmel sehen dürfen. O! es ist keiner unter euch, ich bin dessen sicher, der beim Verlassen der Anstalt nicht geneigt wäre, ein wenig vom eigenen Augenlichte zu geben, um wenigstens einen Schimmer allen diesen armen Kindern zu verschaffen, für welche die Sonne kein Licht und die Mutter kein Antlitz hat.
25. – Samstag.
Gestern Abend, als ich aus der Schule heimkehrte, machte ich meinem kranken Lehrer einen Besuch. Vom allzuvielen Arbeiten ist er krank geworden. Fünf Unterrichtsstunden täglich, dann eine Stunde Turnen, dann zwei weitere Stunden Abendschule, das heißt so viel als wenig schlafen, in der Eile essen und vom Morgen bis zum Abend außer Atem sein: er hat seine Gesundheit ruiniert. So sagt meine Mutter. Meine Mutter wartete unten auf mich, ich stieg allein hinauf und traf auf der Treppe den Lehrer mit dem schwarzen Bart an, – Coatti, – denjenigen, der allen Schrecken einjagt und keinen straft; er betrachtete mich mit großen Augen und ahmte zum Spaß die Stimme eines Löwen nach, aber ohne zu lachen. Ich lachte noch, als ich im vierten Stockwerk die Glocke zog; aber ich hörte sofort auf, als mich die Magd in eine ärmliche, halb dunkle Kammer führte, wo der Lehrer war. Er lag in einem kleinen, eisernen Bette; sein Bart war gewachsen. Er legte eine Hand über die Augen, um besser zu sehen und rief mit liebreicher Stimme: »Ah Heinrich!« Ich näherte mich dem Bette, er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: – »Brav, mein Sohn. Du hast gut gethan, deinen armen Lehrer zu besuchen. Ich befinde mich sehr schlecht, wie du siehst, mein lieber Heinrich. Und wie geht es in der Schule? Wie gehts deinen Kameraden? Alles gut, nicht? Auch ohne mich. Ihr kommt gleichwohl sehr gut fort, nicht wahr? ohne euren alten Lehrer?« – Ich wollte nein sagen; er unterbrach mich: – »Geh, geh, ich weiß schon, daß ihr mich nicht haßt.« Und er stieß einen Seufzer aus. Ich betrachtete einige Photographieen, die an der Wand aufgehängt waren. – »Siehe!« – sagte er zu mir – »das alles sind Knaben, die mir in den letzten zwanzig Jahren ihr Bild gegeben haben. Gute Knaben. Das sind meine Erinnerungen. Wenn ich sterben werde, wird mein letzter Blick ihnen gelten, allen diesen Jungen, unter denen ich mein Leben zugebracht habe. Auch du wirst mir deine Photographie bringen, nicht wahr, wenn du die Elementarklassen hinter dir hast?« – Dann nahm er eine Orange vom Nachttischchen und gab sie mir. »Ich habe dir nichts anderes zu geben,« sagte er, »es ist das Geschenk eines Kranken.« Ich betrachtete ihn und mein Herz war betrübt, ich weiß nicht warum. »Höre,« fuhr er fort, »ich hoffe zu genesen; aber sollte ich nicht mehr gesund werden, so suche dich in der Arithmetik zu vervollkommnen, sie ist deine schwache Seite; – nimm einen Anlauf, denn oft ist es nicht Mangel an Aufmerksamkeit, es ist ein Vorurteil, oder, wie man sagen möchte eine fixe Vorstellung.« – Indessen atmete er stark, man sah, daß er litt. – »Ich habe ein böses Fieber,« – seufzte er, – »ich bin halb todt. Ich bitte dich also: Wirf dich auf die Arithmetik, auf die Rechenexempel. Es wird dir das erstemal nicht gelingen! Man ruht ein wenig aus und versucht es wieder. Es gelingt nicht! Wieder ein wenig Ruhe und von vorn angefangen. Und vorwärts, aber ruhig, ohne Übermüdung. Gehe. Grüße mir deine Mutter. Und erklettere diese Treppen nicht mehr, wir werden uns in der Schule wiedersehen. Und sollten wir uns nicht mehr sehen, so erinnere dich zuweilen an deinen Lehrer der dritten Klasse, der dich geliebt hat.« Bei diesen Worten konnte ich die Thränen nicht mehr zurückhalten. »Beuge das Haupt,« – sagte er mir. – Ich beugte den Kopf auf das Kissen, er küßte mich auf den Scheitel. Dann sagte er: – »Lebe wohl,« und wandte das Gesicht gegen die Wand. Und ich flog die Treppen hinab, denn es drängte mich meine Mutter zu umarmen.
25. – Samstag.
Ich beobachtete dich vom Fenster aus, als du diesen Abend vom Hause des Lehrers zurückkamst: du bist an eine Frau angerannt. Gieb besser acht wie du auf der Strasse gehst. Auch dort giebt es Pflichten. Wenn du deine Schritte und deine Bewegungen in einem Privathause abmissest, warum solltest du nicht das Gleiche auf der Strasse thun, die das Haus aller ist? Denke daran, Heinrich. Jedesmal wenn du einen hinfälligen Greis, einen Armen, eine Frau mit einem Kinde auf dem Arme, einen Krüppel mit Krücken, einen unter seiner Last gebeugten Mann, eine in Trauer gekleidete Familie antriffst, weiche ihnen ehrerbietig aus; wir müssen das Alter, das Elend, die Mutterliebe, die Gebrechlichkeit, die Arbeit, den Tod achten. Wenn Jemand in Gefahr ist von einem Wagen überfahren zu werden, so ziehe ihn weg wenn es ein Kind ist; mache ihn aufmerksam wenn es ein Erwachsener ist; frage immer ein Kind, welches allein ist und weint, was ihm fehle; hebe dem Greis den Stock, den er hat fallen lassen, auf. Wenn zwei Kinder handgemein sind, trenne sie; sind es zwei Männer, so entferne dich, wohne dem Schauspiel der rohen Gewalt nicht bei, es beleidigt und verhärtet das Herz. Und wenn ein Mann gebunden zwischen zwei Wachen vorübergeht, so zeige dich nicht so grausam und neugierig wie die Menge: es kann ein Unschuldiger sein. Höre auf mit deinen Kameraden zu sprechen und zu lachen, wenn du eine Sänfte des Spitals, die vielleicht einen Sterbenden trägt, oder einen Leichenzug antriffst, denn morgen könnte ein solcher aus deinem Hause kommen. Betrachte mit Teilnahme alle Kinder der Wohlthätigkeitsanstalten, welche zu zwei und zwei vorübergehen: die blinden, die stummen, die rhachitischen, die Waisen, die verlassenen Kinder. Sei immer eingedenk, dass menschliches Unglück und Mitleid an dir vorüber ziehen, wenn dir das vor die Augen tritt. Stelle dich immer, als ob du eine abstossende oder lächerliche Missbildung des Körpers nicht sähest. Lösche jeden brennenden oder glimmenden Gegenstand, den du auf deinem Weg findest, aus, denn er könnte jemandem das Leben kosten. Antworte dem Reisenden, der dich nach dem Wege frägt, immer mit Höflichkeit. Lache nicht, wenn du jemandem ins Gesicht siehst, laufe nicht ohne Not zu hastig, schreie nicht. Achte die Strasse. Die Bildung eines Volkes wird vor allem nach dem Betragen, das es auf der Strasse zeigt, beurteilt. Wo du Grobheit auf der Strasse findest, wirst du sie auch in den Häusern finden. Und studiere sie, die Strassen, studiere die Stadt, in der du lebst; wenn du morgen in die Ferne verschlagen würdest, so wärest du froh, sie deinem Gedächtnis gut eingeprägt zu haben, sie in Gedanken ganz durchlaufen zu können, – deine Stadt, – dein kleines Vaterland, – das für dich während mehreren Jahren deine Welt gewesen ist, – wo du an der Hand deiner Mutter die ersten Schritte gewagt hast, wo du die ersten Eindrücke erhieltst, wo du die ersten Freunde gefunden hast. Diese Stadt ist für dich eine Mutter gewesen, sie hat dich unterrichtet, ergötzt, beschützt. Studiere sie, in ihren Strassen, in ihrem Volke, – und liebe sie, – und wenn du sie beschimpfen hörst, verteidige sie.