Willibald Alexis / Julius Eduard Hitzig
Kriminalfälle des neuen Pitaval
Willibald Alexis / Julius Eduard Hitzig

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Exner

In Schlesien und den benachbarten Ländern war der Räuber Exner zu Anfang dieses Jahrhunderts überall bekannt und gefürchtet. Seines Handwerks ein Wollspinner und aus Sulzbach in der Oberpfalz gebürtig, war er schon in seiner frühesten Jugend ein berüchtigter Dieb. Wegen mehrerer gewaltsamer Diebstähle, die er in Schlesien noch als halber Knabe verübte, wurde er mehrfach festgesetzt, zur Untersuchung gezogen und bestraft. Aus dem Zuchthaus zu Jauer entsprang er, gesellte sich mehreren Diebesgenossen zu, die ihn zu ihrem Anführer wählten, und beging als ihr Hauptmann noch achtzehn gewaltsame Diebstähle und Einbrüche. Zwar wurde er oft ergriffen; er entfloh aber ebensooft mit der größten Verwegenheit, ehe die langwierigen Untersuchungsprozesse zum Abschluß gekommen waren. Zuletzt auf den Festungen von Glatz und Silberberg, der durch ihre Lage festesten in Schlesien, eingesperrt, machte er auch da noch Versuche zu entspringen. Er entledigte sich der schwersten Fesseln, brannte große Öffnungen durch die Dielen und ließ sich einmal 40 Fuß hoch an einem von Bettüberzügen zusammengeknüpften Seile herab.

Im Jahre 1802, etwa 35 Jahre alt, war er schon zu lebenslänglicher Strafarbeit verurteilt. Er mußte angeschmiedet werden, weil sonst angeblich sein Entweichen nicht zu verhindern sei. Aber auch da, an der tief in die Mauer verankerten Kette, schien er seinen Wächtern nicht sicher genug.

Es herrschte damals ein allgemeiner Schrecken in den preußischen Staaten vor der großen Menge von Räubereien, Brandstiftungen und Diebstählen, die in den letzten zehn Jahren vorgefallen waren.

Man hoffte, durch Deportation der gefährlichsten Verbrecher dem Unheil beizukommen. Preußen hatte noch keine Kolonien, wohin sie hätten geschickt werden können. Deshalb wandte man sich an den russischen Hof nach Petersburg, der sich einverstanden erklärte, eine Anzahl preußischer Bösewichter in den sibirischen Bergwerken zu beschäftigen. Die von Nertschinsk, im äußersten nordöstlichen Asien, wurden dazu bestimmt, und in sämtlichen preußischen Festungen und Zuchthäusern ward nun eine Nachsuchung nach den gefährlichsten Verbrechern angestellt, die ihr Vaterland auf ewig verlassen sollten.

Eine Kette von 58 Verbrechern wurde aus den verschiedenen Straforten nach Pillau in Ostpreußen transportiert, dort unter starker Bewachung auf einem dazu besonders eingerichteten Schiff eingeschifft. Sie kam am 18. Juni 1802 zu Narva an, wo sie vom dortigen russischen Kommandanten zur weiteren Beförderung nach Sibirien übernommen wurde.

In einer Schrift, die zu diesem Zeitpunkt erschien, wurde dem Publikum erklärt, daß es von gefürchteten Verbrechern befreit, daß Nertschinsk von Narva 7123 ¾ Werst entfernt und die tägliche Marschroute der Sträflinge auf 25 Werst bestimmt sei. Bei ununterbrochenen Tagesmärschen würden diese Leute wenigstens 285 Tage brauchen und wahrscheinlich erst im April des nächsten Jahres (1803) an ihrem Bestimmungsort angelangt sein. Nur wenigen Reisenden selbst sei es bisher gelungen, bis in diese entfernten Gegenden zu dringen, da Wüsten, Seen und Gebirge die Reise dorthin unendlich erschwerten.

An ein Entlaufen von hier sei nicht zu denken. Wer nordwärts entfliehe, werde von den streifenden Tataren aufgegriffen und zurückgeliefert, wenn nicht Wölfe oder Eisbären einen kurzen Prozeß mit ihm machten. Wer aber nach Süden zu den Chinesen entlaufe, werde auch von diesen zurückgebracht. Sollte endlich ein einzelner den Chinesen, Tataren, Wölfen oder Eisbären bei seinem Ausbruch entkommen und von den mitleidigen russischen Bauern aufgenommen werden, so würde er doch bald darauf, aus Unkunde der Sprache und des Weges, umkommen, und es sei kein Beispiel vorhanden, daß ein Verbrecher aus Sibirien den Rückweg in die Heimat gefunden habe. Nun könnten die preußischen Untertanen doch sicher und ruhig sein. Unter den 58 Verbrechern befand sich an der Spitze der Kette der Wollspinner Exner.

Die Provinzen, in denen Exner sein Wesen getrieben, atmeten auf, von einem Alp befreit. Er, für den keine Mauer zu stark, kein Eisen zu fest war, war nicht allein aus ihrem Gesichtskreis entfernt, sondern auch in solche halb mythische Regionen entrückt, aus denen kaum die Sage nach Europa drang. So war denn die Furcht beseitigt, aber es blieb eine gewisse Achtung vor der Größe zurück, die diese Furcht einzuflößen gewußt hatte. In Glatz zeigte man mit Scheu und Staunen die Mauer über der senkrechten Felsenwand, an der Exner, nachdem er aus seinem Kerker ausgebrochen war, sich mit einem Besen, auf dem er ritt, indem er ihn mit Riesenkraft an die senkrechte Fläche drückte, herabließ. Zuvor hatte er ein kaum minder schwieriges Werk in der Durchbrechung der mehrere Ellen starken Festungsmauer vollbracht. Mit keinem anderen Werkzeuge als einem Nagel und Geduld hatte er Stein um Stein abgelöst und wieder eingesetzt. Den Staub hatte er durch eine Federpose hinausgeblasen. Was ihm bei dieser langen Arbeit, zu der nur ein Gefangener auf Lebensdauer Geduld hat, am beschwerlichsten fiel, war, wie er später aussagte, daß er jeden Tag so oft aufhören und wieder anfangen mußte, denn da er alle drei Stunden kontrolliert wurde, mußte er in der Zwischenzeit die Steine herausnehmen und wieder einsetzen, so daß ihm zur eigentlichen Arbeit oft nur eine halbe Stunde Zeit blieb. Er kam glücklich auf seinem Besen herunter, nur beim letzten Absatz brach er sich ein Bein. In diesem Zustande kletterte er über Felsen, durch Sümpfe und Gräben, bis er gefunden und zurückgebracht wurde. Dabei soll er noch den Mut gehabt haben, dem Kommandanten, der ihm mit Schlägen drohte, zu antworten: »Die erlaubt Ihnen das Gesetz nicht.«

Exner wurde als großer Räuber bewundert, und es erschienen daher seinerzeit mehrere Lebensbeschreibungen, die, auf die große Menge berechnet, ihren Zweck nicht verfehlt haben mögen, Staunen, Schrecken und eine gewisse Bewunderung über seine körperliche Stärke und mechanische Geschicklichkeit zu erregen, aber nichts von Zügen enthalten, die großartig genannt werden können. Romanhaft klingt es allerdings, wenn man hört, daß der entsprungene, verfolgte Räuber in einer Dorfschenke mit seinen Gesellen einen Ball veranstaltet habe, zu dem die Burschen und Mädchen, ja sogar ein Kammermädchen der Gutsherrschaft, zuliefen, vom Kitzel des Wunderbaren und Abenteuerlichen angelockt, denn es ging die dunkle Kunde herum: Es sind der Exner und seine Gesellen, die den Ball geben. Aber der Gutsherr und der Landrat kamen auch hinzu und störten die Lustbarkeit, die der Räuberhauptmann mit einem »Ei, guten Abend, Herr Landrat!« verließ, einem Gruß, den der Landrat mit einem derben Backenschlag erwiderte.

Nach dem Urteil eines scharfblickenden Juristen finden sich in der Geschichte seiner Verbrechen allerdings viele Beweise von außerordentlicher Kraft, Verschlagenheit und Ausdauer, von Gewandtheit, List, Unerschrockenheit, Trotz und Verwegenheit; aber es sind weder Spuren von einem wirklich durchdringenden Verstand, von ausgezeichneten Fähigkeiten und glücklichen Anlagen, als von einer geistigen Erhebung über das gewöhnliche Seelenniveau gemeiner Verbrecher zu entdecken.

Unfähig einer Idee, ja vielleicht auch nur großmütiger Regungen, erscheint er als ein gemeiner Bösewicht, der nur, um von der Beute zu leben, raubt und stiehlt. Bei völliger Unbildung, gröbster Roheit und gänzlicher Unempfänglichkeit für irgendeinen andern als den gemeinsten Genuß erhebt ihn keines seiner zahllosen Verbrechen über die Grenze des Einbruchs und des gewaltsamen Diebstahls.

Exner gelangte nicht durch seine Taten, sondern durch sein Ende zur Ehre eines dauernden Platzes in der Kriminalistik. Sein Ende aber war nicht, wie man erwartet, in den sibirischen Bleigruben; er verkam nicht in den Steppen der Tataren, noch fiel er den Bären in die Klauen oder den Chinesen in ihre Schlingen, sondern er erscheint ebenso unerwartet als wunderbar da, wo man am allersichersten vor ihm zu sein glaubte, und sein Tod gab zu einer der wichtigsten, immer wiederkehrenden Fragen der Kriminalistik Anlaß.

Die Mühle von Harpersdorf im Glogauischen liegt einsam auf dem Felde, drei viertel Stunden vom Dorfe. Selbst das nächste, auch ganz verlassen gelegene Büdnerhaus ist noch um hundert Schritt davon entfernt. Der Zustand der Gegend im Jahre 1805 war, was die öffentliche Sicherheit betrifft, nicht zufriedenstellend. Ungeachtet der Deportation so vieler gefährlicher Verbrecher, die vor drei Jahren in Ketten nach Sibirien abgeführt worden waren, wurde gestohlen, geraubt und eingebrochen, besonders auf dem Lande. Man schrieb diese neue Unsicherheit auf Rechnung der unruhigen Zeiten und der großen Kriegsheere, die sich aus Westen und Osten nach Deutschland zusammenzogen.

Auch die Müller auf der Harpersdorfer Mühle teilten diese Besorgnis und waren nicht ohne Vorsicht. Sie hatten in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli die drei zum Vermahlen bestimmten Säcke nicht auf einmal, sondern nur nach und nach eingeschüttet, um durch das Klappern der Mühle desto öfter geweckt zu werden.

Als der Mühlgehilfe Renner, der beim Müller Meschter in Diensten stand, in der Nacht eben wieder Korn aufschütten wollte, bemerkte er hinter dem Fenster, wo der Kasten stand, aus dem das Korn geholt wurde, einige Bewegungen und eine unheimliche, zerlumpte, halb gespensterhafte Gestalt. Er selbst erklärte, er habe diese Gestalt anfänglich für seinen Schatten gehalten. Bald aber bewegten sich Menschenhände und Arme zum Fenster. Er erkannte, es war ein Dieb, der einbrechen wollte.

Aber im inneren Mühlenraum befand sich außer dem Mühlgehilfen auch Karl Bufe, der Schwiegersohn Meschters. Renner weckte ihn und machte ihn darauf aufmerksam. Bufe sah scharf zu und sah ebenfalls deutlich die Hände und Arme. Er eilte auf der Stelle nach der Stube des Müllers, weckte ihn und sagte, was es gebe. Als Bufe in die Mühle wieder hinaufstieg, sah er statt der Hände und Arme deutlich einen ganzen Mann, der sich in seiner Beschäftigung durch alle die Bewegungen in der Mühle keineswegs hatte stören lassen, sondern das kleine Fenster schon fast ganz herausgebrochen hatte.

Bufe stürzte nochmals hinunter und rief den Schwiegervater an, daß er schnell zu Hilfe käme. Meschter war dann auch aus dem Bett gesprungen, ergriff den Hirschfänger, der immer neben seinem Bette stand, und ging mit seinem Schwiegersohn in die Mühle hinauf.

Alle diese Vorbereitungen waren nicht in der Stille, sondern ganz laut, ja sogar unter Geschrei vor sich gegangen; dies hatte die unbekannte Gestalt nicht im geringsten von dem Werke abgehalten. Vielmehr hatte der Einbrecher jetzt, als der Müller ankam, das Fenster völlig herausgebrochen, und die drei in der Mühle sahen, daß sie es nicht mit einem Diebe zu tun hatten, hinter ihm bemerkten sie die Köpfe von noch etwa vier bis fünf Leuten. Während er mit dem Vorderkörper durch das Fenster klettern wollte, glaubten Renner und Meschter ein Terzerol in seiner Hand gesehen zu haben.

Meschter schrie ihn an: »Racker, was willst du hier?« Er ging auf das Fenster los, ohne zugleich auf den Eindringenden selbst losgehen zu können; denn gerade vor dem Fenster stand der zwei Ellen breite Mehlkasten, der die unmittelbare Annäherung verhinderte.

Der Dieb sah drei Männer vor sich in der Mühle, zum Teil bewaffnet, aber auch dies bewog ihn sowenig als der Lärm umzukehren. Vielmehr packte er den Müller, als dieser auf der linken Seite des Kastens an ihn herankam, mit aller Gewalt beim Arme. Der Griff war so stark, daß Meschter sich nicht losmachen konnte. Die Spuren des Anpackens waren an seinem Arme noch einige Tage nachher sichtbar. Er mußte daher befürchten, entweder den Dieb selbst in die Mühle hineinzuziehen oder von ihm hinausgezogen zu werden.

So seltsam es klingt, daß ein durchs Fenster einbrechender Dieb den Eigentümer des Hauses durchs Fenster hinausziehen soll, fürchteten Meschters Leute doch gerade dies – ein Beweis von der Kraft des Einbrechenden. Karl Bufe hielt deshalb seinen Schwiegervater fest, eine andere Hilfe gestattete der große Mehlkasten nicht. Meschter selbst aber stieß mit seinem Hirschfänger in dieser außerordentlichen Gefahr auf den Unbekannten ein, ohne bestimmt zu sehen, wohin. Auch da noch ließ der Dieb seinen Arm nicht sogleich los. Es kostete die ganze Kraft des Müllers, um sich loszumachen, und erst als er frei war, rutschte oder schob sich der Dieb rückwärts zum Fenster hinaus.

Die drei in der Mühle sahen aus dem Fenster und gewahrten in der Dunkelheit, daß mehrere mit einem auf der Erde liegenden Menschen beschäftigt waren. Sie wagten nicht hinauszugehen und hielten sich eine Weile ruhig. Als es draußen still blieb, meinten sie, die Räuber hätten sich fortgeschlichen, und traten behutsam aus der Tür des Gebäudes. Hier aber sahen sie deutlich, daß fünf Personen noch immer mit einem auf der Erde Liegenden beschäftigt waren. Plötzlich sprang aus dem Dunkel noch ein Sechster vor und, den Säbel in der Faust, auf sie los. Eiligst flüchteten sie in die Mühle und schlossen die Tür.

Die Müllersleute waren in ihrer eigenen Mühle belagert, von einer gewiß sehr gefährlichen Bande, die selbst die Verwundung oder Tötung ihres Anführers und ein vollständig abgeschlagener erster Angriff nicht zum Weichen brachte. Die unheimliche Stille der Feinde im Dunkel machte ihre Lage noch peinlicher. Was beabsichtigten die Räuber noch, die doch wußten, daß drei rüstige Männer wach und auf ihren Angriff vorbereitet waren? In das entfernte Dorf konnten die Müller kein Notzeichen geben. Ihre Hoffnung auf Beistand war nur auf das einsame Häuslergebäude gerichtet, das hundert Schritt von der Mühle entfernt lag und von einem einzigen verabschiedeten Soldaten namens Grüttner bewohnt wurde.

Renner sprang jetzt auf den Boden der Mühle und rief aus Leibeskräften in diese Richtung: »Feuer! Es sind Diebe da!«

Grüttner wurde aufgeschreckt. Ein beherzter Mann, sprang er im bloßen Hemde, nur mit einem Prügel bewaffnet, auf die Mühle zu. Als er in den Müllergarten kam, sah er beim Abtritt unter der Traufe fünf Menschen mit einem andern, der auf der Erde lag, beschäftigt. Er, auf freiem Felde allein, wollte unternehmen, was die drei in der Mühle nicht gewagt hatten, den Feind anzugreifen und zu verscheuchen.

An ein Gebüsch sich lehnend, hielt er seinen Prügel wie ein gefälltes Schießgewehr vor sich und brüllte, wenn sie nicht augenblicklich die Flucht ergriffen, ließe er Feuer geben. Zugleich tat der alte Soldat, als habe er ein größeres Gefolge, sie möchten nur herankommen und die Kerle gut aufs Korn nehmen; mit den paar Leuten würden sie schon fertig werden.

Die Drohung wirkte, doch nur zum Teil. Die Räuber sprangen zurück, aber nur um die Mühle herum, und man darf sich wundern, wenn behauptet wird, daß dieser Auftritt etwa sechs Minuten gedauert habe. Entweder glaubten sie an das Anrücken einer größeren Zahl, vor der sie die Flucht ergreifen mußten, oder sie erkannten die Kriegslist, in diesem Falle wäre es allerdings ein leichtes gewesen, über den einen herzufallen. Inzwischen benutzten die Belagerten den glücklichen Moment und ließen das Hilfskorps schnell durch die Tür in die Mühle.

Als die Räuber sich wieder gesammelt hatten, postierten sie sich der Tür gegenüber, und statt zu weichen, tobten und drohten sie, alle drinnen zu töten. Die Gegenwart des Soldaten gab den Belagerten indessen Mut. Notdürftig bewaffnet, machten sie mit lautem Geschrei einen Ausfall, und die Räuber, die dies nicht erwartet hatten, zogen sich ins dunkle Feld zurück. Die Müllersleute dachten nicht daran, sie zu verfolgen, aber sie benutzten den günstigen Augenblick, und Renner lief ins Dorf, um Hilfe zu holen.

Bis sie kam, verging eine geraume Zeit, in der die Belagerten zwar keine verdächtigen Bewegungen der Räuber bemerkten, doch getrauten sie sich auch nicht, die Mühle zu verlassen. Erst als gegen Morgen die bewaffneten Bauern mit den Gerichten ankamen, besichtigte man den Kampfplatz.

Der Leichnam eines kräftigen Mannes wurde seitlich der Mühle, unter der Traufe liegend, gefunden, genau an der Stelle, wo Grüttner die Räuber mit dem Verwundeten oder schon Getöteten beschäftigt gesehen hatte. Der Stich mit dem Hirschfänger war in das linke Auge bis ins Gehirn gedrungen. Die zwei Zoll zwei Linien tiefe Wunde wurde später von den Obduzenten für absolut tödlich erklärt. Unter dem Fenster, das der Räuber ausgebrochen hatte, lagen ein Terzerol und ein Meißel. An seinem Körper befand sich ein Wehrgehenk mit einer leeren Scheide.

Der Getötete war den Bauern und Gerichtspersonen gänzlich unbekannt. Bei der Untersuchung seiner Kleider ergab sich, daß kein ehrlicher Mann besser als der unbekannte Räuber durch Pässe und Atteste legitimiert sein konnte. Er führte einen österreichischen Gesandtschaftspaß aus Petersburg vom 13. Mai 1804, mit dem Namen Johann Friedrich Ferdinand bei sich, gebürtig aus Bielitz im österreichischen Oberschlesien. Ein anderes Attest war in russischer Sprache und ein drittes in französischer ausgestellt, von einer Comtesse de Rochechouan, Kaminiecz, d. d. 5. Oktober 1804, das besagte, daß er vier Monate bei ihr gedient und sich stets en parfait honnête homme aufgeführt hatte. Auf Grund des Passes war er, wie die Atteste der Ortsbehörden bekundeten, durch russische, österreichische und preußische Provinzen gereist. Desgleichen fand sich eine Kundschaft der Tuchmacherinnung zu Greiffenberg, d. d. 11. Mai 1805, in der er unter dem obigen Namen genannt wurde.

Andere Gerätschaften, die man in seinen Taschen fand, sprachen indes gegen diese Urkunden und charakterisierten nur zu deutlich den wahren Beruf des Toten. Es handelte sich um eine Spille, die zu einem Dietrich umgeformt war, drei Krähenaugen, einige Faden Schwefel und drei Wachslichter. Schwarze Pulverflecken an seiner rechten Hand machten es wahrscheinlich, daß er das Terzerol eben erst geladen hatte, und Eindrücke über den Handgelenken ließen auf langes Tragen von Fesseln schließen.

Als der Kreisphysikus Raschke zur Obduktion ankam, verschwand jeder Zweifel. Er erkannte auf den ersten Blick, daß der Tote der berüchtigte Räuber Exner sei, der vor drei Jahren nach Sibirien geschickt worden war. Er hatte ihn früher im Gefängnis behandelt; er nannte mehrere Merkmale, die sich am Körper des Toten befinden müßten. Alle diese Zeichen fanden sich. Nun rief man, den Akten zufolge, Exners ehemalige Geliebte herbei. Sie erkannte ihn an den eingebogenen Beinen, einer Narbe am rechten Becken, vom Hufschlag eines Pferdes, einem Leistenbruch auf der rechten Seite und einem Fell auf dem linken Auge, das er in den Blattern bekommen hatte.

Ohne Zweifel war der Tote der berüchtigte Exner. Man erfuhr jetzt, daß seit einiger Zeit schon das Gerücht umging, er sei aus Sibirien geflohen. Bei näherer Nachforschung fand man aber keinen anderen Grund als die wiederholten, gefährlichen, tollkühnen Einbrüche und Diebstähle, die die Umgegend in Unruhe versetzt hatten. Das Erstaunen war groß, zumal das des Müllers Meschter, daß er den gefürchtetsten und berühmtesten Räuber Schlesiens getötet hatte.

Wie war Exner zurückgekommen? Von woher? Die letzte amtliche Notiz über ihn war das Übergabeprotokoll von Narva. War ihm geglückt, was damals für unmöglich galt? Oder war er schon auf dem Wege entsprungen? Hatte er vielleicht den russischen Befehlshaber, der nur seine Kopfzahl liefern mußte, dazu gebracht, ihn gegen einen anderen Verbrecher auszutauschen? Über alle diese Fragen hat man, soviel bekannt wurde, keine bestimmte Auskunft erhalten. Nur seine Pässe verraten, daß er über Petersburg und Polen unter fremdem Namen den Rückweg fand. Die Justiz – nachdem versäumt worden war, den Komplizen des Räubers nachzusetzen, die auch darüber hätten Aufschluß geben können – die Justiz sah es nicht als ihre Sache an, die letzten Lebenswege eines toten Verbrechers zu verfolgen, und um auf diplomatischem Wege Erkundungen einzuholen, war die Zeit nicht angetan. Nur das Resultat stand fest, daß auch die Verbannung nach Sibirien kein sicheres Mittel für Preußen war, seine Verbrecher loszuwerden.

Exners Tod erregte ungemeines Aufsehen. Abgesehen von dem kriminalistischen Nachtstück und dem romanhaften Zufall, daß ein zufällig in die Nacht hinausgeführter Stich, der kein anderes Ziel hatte, als eine Gefahr abzuwenden, bewirkte, was weder Gesetze noch Verordnungen, noch die Deportation zu bewirken imstande gewesen war, trat nun die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Tat auf. Für das Publikum war sie klar, nicht aber für die preußischen Juristen.

Das preußische Landrecht enthielt keine klaren Festlegungen über das Recht der Notwehr. Im Bewußtsein, in einem vollkommen verwalteten Staate zu leben, war man der Ansicht, daß der Bürger zur Wahrung seiner Rechte nichts selbst tun, sondern alles vertrauensvoll seiner Obrigkeit überlassen solle. Das Bewußtsein, der Staat habe das Recht, jede Handlung und Äußerung zu kontrollieren, die aus dem Kreise der Gedanken und dem innersten Heiligtum des Familienlebens ins öffentliche Dasein übergehe, war so zu Fleisch und Blut geworden, daß die Juristen – und nicht diese allein – dem Zweifel Raum geben konnten, ob nicht Meschter etwas getan habe, wozu er kein Recht hatte.

Das Publikum folgte dem natürlichen Gefühl und begriff nicht, daß der Müller ein Verbrechen begangen haben sollte, weil er bei der Verteidigung seines Lebens und seiner Habe einen frechen Dieb niederstach.

Eine Untersuchung wurde eingeleitet. Ein Justizkommissarius in Löwenberg veröffentlichte sogar einen Aufsatz, in dem er das Publikum unterrichtete, daß es zweifelhaft bleibe, ob die Handlung Meschters als eine rechtmäßige Notwehr betrachtet werden könnte, sosehr man dies auch wünschen und so dringend man auch die künftigen Richter bitten müßte, ihm die Befreiung der Provinz von einem gefährlichen und allgemein gefürchteten Diebe als Milderungsgrund seiner Strafe anzurechnen.

Die Stimme der Juristen drang dieses Mal ins Volk und weckte eine Furcht und Scheu vor dem Gesetz. Daß Meschter nicht bestraft, ja, daß er ausdrücklich freigesprochen wurde, konnte diese unbegründete Scheu nicht verscheuchen; denn weit verbreitet war das Gerücht noch in späteren Jahren: Der Müller, welcher nichts getan als einen Dieb niedergestochen, der ihn töten wollte, sei dafür, und zwar von Rechts wegen, zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und nur infolge der königlichen Begnadigung freigesprochen worden. Daß ein solches Gerücht unter dem Volke entstehen und Wurzeln fassen konnte, war nur die Nemesis, die jeder Justiz anhaftet, die, und wenn sie die beste ist, sich vom Volke isoliert und ihm, keine Einblicke in ihren Mechanismus gewährend, nur durch ihre Urteilssprüche imponieren soll.

Der Kriminalsenat zu Glogau erkannte als Tatbestand, daß der Müller einen Menschen, der des Nachts, zwecks gewaltsamen Einbruchs, bewaffnet in seine Behausung habe eindringen wollen, durch Drohungen versuchte abzuwehren; als er aber sich nicht nur nicht habe abweisen lassen, sondern ihn selbst gewaltsam am Arme ergriffen, dabei auch mit einem Terzerol versehen war, habe er ihn durch einen Stich mit seinem Hirschfänger getötet.

Demnach stehe Totschlag fest. Der Täter aber verweise auf den Notstand, in dem er sich befunden habe und daß seine Tat als eine rechte Notwehr angesehen werden müsse. Die Bestimmungen des preußischen Landrechts darüber lauteten: daß jedem die Befugnis zustehe, die ihm oder den Seinigen drohende Gefahr einer unrechtmäßigen, durch eigenmächtige Gewalt zugefügten Beschädigung, wenn obrigkeitliche Hilfe zur Abwendung der Gewalt nicht zu erlangen sei, aber durch diese Sache nicht wieder in den vorigen Stand gesetzt werden könne, alsdann selbst, durch der Sache angemessene Hilfsmittel, abzuwenden.

Dem Ermessen des Richters werden dabei folgende nähere Bestimmungen gegeben: daß das zur Abwendung des Schadens angewandte Mittel mit dem Schaden selbst im Verhältnis stehe; daß die Notwehr nicht weitergehe, als sie zur Abwendung des Übels nötig sei; daß endlich lebensgefährliche Beschädigungen nur dann erlaubt seien, wenn die Person des Angegriffenen nicht anders geschützt werden, der Angegriffene sich auch ohne Gefahr dem Angriff nicht entziehen könne.

Das Gericht erkannte, daß alle diese gesetzlichen Bedingungen im Falle des Müllers Meschter gegeben waren: eine sehr unrechtmäßige und eigenmächtige Gewalt des Einbrechenden; die Drohungen dreier Männer konnten ihn nicht zurückschrecken; er war in Begleitung mehrerer, zum Teil bewaffnet; die Mühle lag entfernt vom Dorfe; weder von daher noch von der Obrigkeit war Hilfe zu erlangen; mit tödlichen Waffen versehen, hatte der Räuber schon einen persönlichen Angriff auf den Müller gewagt; für ihn war es in doppelter Hinsicht gefährlich, entweder zog er den Räuber hinein, wo ihm dann seine Spießgesellen gefolgt wären, oder er wurde von ihm hinausgezogen, wo die Räuber dem Müller auf der Stelle den Garaus gemacht hätten; die Gefahr war drohend, die Wiederherstellung des Gefährdeten konnte durch die Obrigkeit nicht erfolgen, es ging an Leib und Leben; es sei somit unbedingt der Fall einer gesetzlichen und gerechten Notwehr eingetreten.

Es frage sich daher nur, ob nicht die gesetzlichen Grenzlinien überschritten worden waren. Gegen einen mit tödlichen Waffen Angreifenden blieb nichts übrig, als sich selbst auch mit Waffen zu versehen. Der Müller ging nicht mit der Absicht zu töten auf ihn los, sondern redete ihn anfänglich nur an: was er wolle. Erst als der Dieb nicht wich und ihn im Gegenteil, die Waffe in der Hand, gefährlich angriff, bediente er sich auf die natürlichste Weise der eigenen. Es stand Leben gegen Leben und Schade gegen Schaden. Indem sich der Müller aber mit einmaligem Zustechen begnügte, selbst als der andere ihn darauf noch festhielt, trieb er die Notwehr nicht weiter, als die Notdurft forderte. Zwar scheint die ›lebensgefährliche Beschädigung‹ gegen den Angreifenden dann nicht gestattet, wenn der Angegriffene sich ohne Gefahr dem Angriffe hätte entziehen können; aber der Richter erkannte, daß in diesem Falle an Flucht gar nicht zu denken war. Auch könne diese mit Preisgebung des Eigentums nicht gefordert werden, um dadurch jeder Verantwortlichkeit wegen Tötung eines Räubers zu entgehen. Demnach erkannte das Gericht, daß der Müller Meschter wegen der in Notwehr geschehenen ›Ertötung‹ des Exner von aller Schuld und Strafe und von Bezahlung der aufgelaufenen Kosten gänzlich freizusprechen sei.

Dem gesunden Menschenverstand muß diese ganze Beweisführung, durch die jemand freigesprochen wird von Schuld und Strafe, weil er nichts getan hat, als was jeder andere, einigermaßen beherzte Mann im gleichen Falle getan hätte, seltsam vorkommen. Und nicht nur dies; auch in den meisten zivilisierten Staaten, wo der Rechtsbegriff im Volke lebendig ist, würde man mit Verwunderung die gelehrte Erörterung lesen, wodurch etwas bewiesen werden soll, was sich von selbst versteht. Ein auf Tod und Leben Angegriffener darf sich auf Tod und Leben wehren. Es zeugt von einer schlimmen Verrückung der Verhältnisse, wo dieses Naturrecht in die engsten Grenzen eingeschlossen wird, aus Besorgnis, daß es übertreten werden könne. Es zeugt von einer solchen Entfernung von den natürlichen Zuständen, von einem auf die Spitze getriebenen Kontrollwesen und einer Bevormundung der menschlichen und bürgerlichen Tatkraft, die den letzten Schatten der individuellen Freiheit im Staate vernichtet hat.

An Gründen fehlt es den Verteidigern freilich nicht; es sind aber dieselben Gründe, die eine jede Freiheit beschränken, ja unmöglich machen, weil ihr möglicher Mißbrauch schädlich werden könnte.

Jedoch schon in dem Preußen von 1805 regte sich bei dieser Gelegenheit die öffentliche Meinung. Es war, als ob gerade dieser Fall das lange schlummernde Bewußtsein eines entrissenen Rechts erweckt habe. Man wollte es nicht glauben, daß der Müller bestraft werden könne; man glaubte, es sei eine Spitzfindigkeit der Juristen, die aus dem Rechte etwas herausdrehen wollten, was nicht darin stünde, und wenn es stünde, so sei es kein rechtes Recht. So allgemein und laut wurde diese Stimme, daß selbst die Richter in ihrem Urteil »der für den Inculpaten im Publico entstandenen günstigen Stimmung« Erwähnung zu tun sich gezwungen sahen, ein bis dahin in der preußischen Justiz wahrscheinlich unbekannter Fall, eine Justiz, die, stolz auf ihre isolierte, eiserne Basis, nicht glaubte, mit dem Publikum zu tun zu haben, am wenigsten aber die Verpflichtung spürte, sich mit seinen Ansichten auseinandersetzen zu müssen. Daher wurde dann gleich hinzugefügt, daß die Stimmung im Publikum, die eine Strafmilderung fordere, auf das Urteil ohne allen Einfluß geblieben sei.

Allein, es wurde nicht nur darüber geredet. Ein Schriftsteller von Geist und gleichzeitig Advokat, dessen scharfe Feder in mehreren Angelegenheiten sich Geltung verschafft hatte, der Dr. Grattenauer aus Breslau, schrieb damals ein Buch über die Notwehr unter dem Titel »Exners Tod«. Grattenauer tritt schon im Jahre 1806 als Gegner des Inquisitionsverfahrens und als Verteidiger der Geschworenengerichte auf.

Es wird für unsere Leser nicht ohne Interesse sein, die Ansicht dieses preußischen Juristen über den inquisitorischen Prozeß und das Geschworenengericht mit seinen eigenen Worten zu hören, Worte und Ansichten, die aber wahrscheinlich im Getöse der Waffen und den bald folgenden Kriegsdrangsalen völlig verhallten, auch traten andere Reformen ein, durchdringendere, aber notwendigere.

Was nicht öffentlich verhandelt und entschieden wird, hat im höchsten Sinn auch keinen öffentlichen Glauben, und wenn vollends das Resultat einer solchen Verhandlung der öffentlichen Meinung widerspricht, so läßt sich ein allgemeines Anerkenntnis seiner Wahrheit weder denken noch fordern. Hierin liegt der Grund, daß die Masse der Staatsbürger kein anderes Kriminalurteil mit lebhafter und freiwilliger Überzeugung anerkennt als das einer Jury. Eine solche Anerkennung ist aber überall unmöglich, wo kein Geschworenengericht nach öffentlicher Anklage und Verteidigung sein Schuldig oder Unschuldig öffentlich und so ausspricht, wie es die menschliche Überzeugung in ihrer natürlichen Lauterkeit und Reinheit fordert.

»Welches Geschworenengericht in der Welt hätte einen Augenblick unschlüssig sein können, den Mann freizusprechen, der den furchtbarsten Räuber in der Provinz getötet hat? – Man darf's nur aussprechen, und niemand kann's leugnen, denn wo die innere Überzeugung nur gefühlt wird, da triumphiert sie. Wo man sie aber durch irgendein Surrogat zu unterdrücken und zu ersetzen sucht, da wird das Kriterium der Wahrheit im Menschen verleugnet, und wie das verletzte Gewissen sich zu beruhigen im stillen vergeblich bemüht ist, so erhebt sich auch die Stimme der öffentlichen Meinung laut und kräftig wider jeden Angriff auf die letzte Schutzwehr gegen Willkür und Unrecht. Daß dennoch die deutschen Kriminalrichter so wenig Achtung vor der allgemeinen Stimme an den Tag legen, beweist mehr noch die Barbarei der ihnen unterworfenen Bürger als ihre eigene Unbildung, indem es zugleich die Trümmer jenes in seine eigene Nichtigkeit versunkenen vormundschaftlichen Regierungssystems bezeichnet, welche erst weggeräumt werden müssen, bevor der Grund zum Gebäude einer wahrhaft vernünftigen Kriminalverfassung gelegt werden kann.«

So schrieb ein preußischer Untertan schon im Jahre 1806.


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