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Die Winterstürme waren verhallt, der Schnee geschmolzen und der Frühling hatte zum sechsten Male, seit Friedrichs Heere das blühende Sachsen überzogen, die Wiesen um das Schloß frisch übergrünt. Mit den heimkehrenden Schwalben waren die kriegerischen Gäste, die hier einen langen Winter gelegen, ausgezogen. Schon war auch der Frühling verstrichen, und die Sommerlüfte des Jahres 1762 schaukelten sich in den hohen Ulmenwipfeln des Parkes. Wer, den Rücken gegen das Schloß, nur dorthin sah, sah nichts von den Spuren eines sechsjährigen Krieges. Blumen und Kräuter schossen in Üppigkeit auf, wo feindliche Hufe den Wiesengrund zerstampft hatten; wer entdeckte die gefällten Bäume in einem Meere von Grün, jetzt verschont von der Gartenschere, und in Büschen und Wipfeln schlugen die Chöre von Nachtigallen so schmelzend und voll, als vor sechs Sommern, ehe der Fuß des ersten preußischen Grenadiers diesen schönen Park betrat.
Der Kammerherr hatte seiner Dame, die er von einem Nachmittag-Spazierganz zurückführte, die Sprache der Nachtigallen ins Deutsche übersetzen müssen. Er trocknete seine Stirn, als sie seufzend sich umblickte.
»Wohin sehen Sie, meine Teuerste?« fragte er fast erschrocken, als besorgte er, noch einmal umkehren und sein Pensum von vorn anfangen zu müssen.
»Auf eine Glückliche,« entgegnete Amelie, und richtete den Blick auf die Komtesse, welche in der dunkelsten Ulmenallee, einen offenen Brief in der Hand, auf und ab ging. »Meinen Sie wohl, Kammerherr, daß die Cousine auch das von den Nachtigallen hört, was Sie mir die Gefälligkeit hatten zu erklären?«
»Da die Komtesse, meine Teuerste, immer in dem Briefe liest, so möchte ich vermuten, sie hört nichts von Philomeles holden Tönen.«
»Zum wie vieltenmal meinen Sie, daß sie den Brief durchliest?«
Der Kammerherr lächelte. »Ich meine, sie wird sich die Augen verderben, da es schon finster wird.«
»Das Auge der Liebe sieht durch die Nacht.«
»Sie liebt,« bemerkte der Kammerherr, »auf eine fast extravagante Weise ihren Bräutigam, der darum noch immer Leutnant ist. – Ist Ihnen nicht wohl, um des Himmels willen? – Sie weinen –«
»Ich – weinen?« fuhr sie auf. »Ich kann ja nur lachen, meinen Sie hier. Wie sollte mir nicht wohl sein! Ich brauche ja nur mein Los mit ihrem zu vergleichen. Da hat sie nun einen Bräutigam, der nicht vorwärts kommt, keine Aussichten, und ein zweifelhaftes Vermögen hat, während ich, – o gönnen Sie mir, lieber Kammerherr, die Tränen um meine arme Cousine, die einst so hoch über mir zu stehen glaubte; so ungleich teilt das Glück und so wenig wissen es die Leute zu schätzen. Fort, fort, daß wir hier nicht im Wege sind.« –
Um die Mundwinkel der Komtesse schwebte ein süßes Lächeln, wie sie dem alten Portier unten zunickte, und oben dem Jäger sagte, sie werde nicht zum Abendtisch kommen; mit demselben Lächeln der Seligkeit schickte sie das Kammermädchen aus dem Schlafzimmer. Die lauen Lüfte der Nacht, welche den Juli vom August trennt, hatten freien Zugang durch die offen stehenden Fenster; sie spielten in ihrem leichten Nachtkleid. Eugenie glaubte, die Mondsichel habe nie so sanft ihr ins Fenster geblickt; die Sterne flimmerten an dem dunkelblauen Gewölbe, Leuchtwürmchen glühten unter ihr, tausend Insekten summten, und die Linden sandten ihren letzten Blütenhauch zu ihr auf. Sie weinte, warum wußte sie nicht zu sagen. Es war doch nicht bloße Freude. Sie meinte, es müsse sich alles mit ihr freuen, und es freue sich auch alles. Auf welche Auftritte hatte sie von diesem Fenster gesehen, in welchen Gemütsstimmungen hatte sie sich an diese Brüstung gelehnt, wie anders ungestüm hatte das Herz dazumal geschlagen! Es schlug auch jetzt; aber es schlug im Einklang mit den zirpenden Insekten, dem leisen Fall des kleinen Baches, dem sanften Rauschen der Wipfel, mit dem Schlagen der Nachtigall, mit dem Hauch der Lüfte, dem Schein der Sterne, dem Licht des Mondes.
Vom Dorfturm hatte es schon Mitternacht geschlagen, als sie vergeblich Vergessenheit in den Eiderdaunen ihres Himmelbettes suchte. Die Nachtigall schlug immerfort ihr ins Ohr, die Kissen wogten unter ihr, als werde sie von Wolken getragen. Der Mondschein spielte auf der Diele. Sie griff noch einmal nach dem Leuchter hinter der Gardine, öffnete das Arbeitskästchen und entfaltete, ihn küssend, den Brief, den sie jetzt zum zwanzigstenmal las. Sie las ihn laut:
»– Wir stehen vor Schweidnitz. Morgen sollen uns die Russen verlassen; der König wünscht ihren Generalen eine Probe, was der preußischen Taktik und dem preußischen Mute möglich ist, mit auf den Weg zu geben. In einer Nacht läßt in der Ebene den in den Bergen bis an die Zähne verschanzten Österreichern gegenüber Friedrichs Genius zwei fürchterliche Batterien wachsen. Beim ersten Morgenrot begrüßen sie mit einem solchen Feuer die feindlichen Linien, daß, ehe die Sonne am Horizont steht, Mord, Verwirrung Zerstörung auf den Bergen wütet. Nun gibt Friedrich das Zeichen zum Sturm. Unsere schlesischen Berge sollen wir ihnen wieder entreißen; doch das ist Nebensache. Vor Friedrichs Augen, der in der Mitte der russischen Generalität zusieht, sollen wir ein galantes Fechterspiel von der allerernstesten Art aufführen. Der Kampfpreis diesmal heißt nicht Verlust der Österreicher, sondern die Ehre der preußischen Waffen. Mit dem Bajonett, mit dem Säbel in der Faust wird gestürmt, Berg für Berg den Kaiserlichen genommen; unsere braven Leute tragen, ziehen, winden die Kanonen auf die steileren Höhen hinauf. O, es war ein Götterfest, Eugenie, unter Friedrichs Augen so zu fechten. Der Himmel lachte zu dem blutigen Schauspiel. Du siehst, wie der Krieg gefühllos macht, daß man von Lachen reden kann bei einem Schauspiel, wo das Blut von Viertausenden floß. Daß es die letzte Tragödie in dem Kriege gewesen wäre! Mir pulsiert so etwas von Hoffnung durch die Adern; aber das Blut lügt, es ist Quecksilber, ich kenne mich selbst nicht mehr.
Nun höre, in welche Nacht für mich dieser glänzende Tag voll Morgenrot auszugehen drohte. Du wirst mir glauben, daß ich meine Schuldigkeit tat. Das Regiment, dem ich wieder aggregiert bin, tat vielleicht noch mehr. Zu Pferde forcierten wir die Hügel, die auf unser Teil fielen. Wir waren aus Mecklenburg remontiert; danken wir's den Pferden unter uns, oder den russischen Generalen hinter uns, es gelang. Stürmende Husaren im Steigbügel, bergan, und die Grenadiere über uns nahmen Reißaus. Was Wunder, wenn Du's verstehst. Haben doch Werners Husaren bei Colberg eine russische Flotte in die Flucht gejagt!
Da hielten unsere Schwadronen auf einer mäßigen Höhe, Lust in aller Augen; es blitzte und paffte noch zwischen den Bergen, und von den Bergkämmen wurden die Bärenmützen durch unsere Blechmützen gefegt, und Jubel und Hallo durch das Heer. Aus dem Pulverdampf entdeckten wir noch den Rest einer feindlichen Kompagnie auf den Höhen dicht über uns; sie eskortierten einen hohen Verwundeten. ›Kinder‹ rief der Kommandeur, ›denen gilt's den Rückweg abzuschneiden. Wer hat dazu Lust, wessen Pferde sind noch frisch zu der Hetz?‹ – ›Wir alle!‹ war die Antwort. Der Kommandeur winkte mir. ›Vorwärts, Leutnant!‹ kommandierte er, den Säbel nach dem Berge, und als ich an ihm vorbeisprengte, rief er mir ins Ohr: ›dort auf dem Berge verdienen Sie sich die Schwadron. Diesmal sieht es Friedrich selbst!‹
Die Trompeten schmetterten hinter uns, unsere Pferde schlugen den Staub himmelhoch und der neidische Jubelruf unserer Brüder folgte uns. Da, Eugenie, hielt mir das neckende Glück die Hand vor die Augen. Wer kann auch sehen in solchen Augenblicken, wer hören? Vorwärts galt es, ich dachte nur an vorwärts. Ich hatte den weiten Weg rechts eingeschlagen. ›Links, links!‹ riefen sie hinter mir, das Auge täuscht in den Gebirgsdefileen. Als ich es inne ward, war es zu spät zum Umkehren. Ich hob mich im Steigbügel, um zu sehen, wie das Versäumte wieder gutzumachen. Schon retirierten mit aller Hast die Füsiliere, aber ich sah eine andere Eskadron von unseren schwenkte ab, auf dem Wege links das Defilee zu gewinnen, durch das die Fliehenden mußten. Eugenie, brauch' ich Dir zu sagen, was ich empfand, als ich den Major von Izwitz an der Spitze erblickte. ›Hinüber, Kinder!‹ ich weiß nicht, ob ich es rief, es fühlte, es dachte, eine Seelenangst, daß er mir zuvorkomme, durchzuckte mich. Ob es nicht ging, ob ich ungeschickt, ob noch einmal blind war, als ich seitwärts den Hohlweg hinauf dem Pferd die Sporen in die Seite stieß, ich weiß es auch nicht. Das Resultat war! im Angesicht von Freund und Feind und – Friedrich – strauchelte, schon oben, Deines Freundes Roß, es warf seinen Reiter ab. Es stürzte noch einer, Verwirrung, Aufhalt, Laute der Mißbilligung – kurz wir haben die Füsiliere nicht gefangen. Ein Jubelruf nachher verkündete mir, daß mein ehemaliger Rival meinen – Fehler gutgemacht hatte.
Was spreche ich Dir von der Kontusion an Schulter und Schläfe, wie mein Arm mich schmerzte, er schmerzt nicht mehr! Aber das Herz brannte wie in lichten Höllenflammen.
Nun höre! Ach, ich kann Dir nicht Punkt um Punkt, den ganzen langen Hergang erzählen. Die Feder fliegt vom A zum Z. Ist das aber nicht sonderbar: man liebte mich nicht eben, aber ich hatte keinen Feind unter meinen Kameraden! Es ist doch zuweilen ein Glück, nicht glücklich zu sein, man wird nicht beneidet! Man hat mich allgemein bedauert, man gönnte Izwitz, der wenig Freunde hatte, sein Glück nicht, aber man war still, totenstill um Friedrich, als die Rapporte kamen, deren der Feldherr und Richter nicht bedurfte: er hatte ja alles mit angesehen. Ich war nicht bei, aber ich berichte Dir nach guten Quellen.
›Demnächst würde ich Ew. Majestät gehorsamst anheimstellen, den Leutnant Stephan, genannt Cabanis, in Arrest schicken zu dürfen,‹ sprach unser Freund der General. Erschrick nicht, es ist doch unser Freund.
›Rät Er mir das?‹ fragte der König.
›Ja, Euer Majestät, wenn ich mir's unterstehen dürfte, so rate ich das, und würde an hochderselben Statt sehr ungnädig den Dienstfehler bemeldeten Offiziers vermerken.‹
›Er rät mir also, wie ich handeln soll?‹
›Es ist notwendig, Ew. Majestät, daß man ein Exempel statuiert, nicht darum allein, daß der Leutnant die Attacke so ungeschickt dirigiert. –‹
›Irren ist menschlich,‹ unterbrach ihn der Monarch.
›Aber,‹ fuhr der General fort, ›es ist augenscheinlich, daß er aus purer Ambition, damit ihm der Major von Izwitz nicht zuvorkäme, den Querstrich gewagt und über Terrain hat wollen operieren, wo man die besten Pferde ruiniert.‹
›Meint Er, General, daß man einen dummen Streich nicht wieder reparieren tun soll?‹
›Ich wollte nur Ew. Majestät gehorsamst anraten –‹
›Er hat nun genug geraten,‹ unterbrach unseren Freund der König und ließ mich rufen. – Was der König gesagt hat, oder nicht gesagt hat, teuerstes Wesen, mit den Lippen oder den Augen, er hat alles gesprochen, was ein Mensch sprechen kann. Er hat von Glück, Liebe, von Gott, Welt, Himmel geredet, ich habe es gehört: die anderen haben nur ungefähr so viel vernommen: ›Dieweil Er ein braver Offizier sonst ist, das weiß ich, soll Er den pour le mérite kriegen; denn ich scher mich nicht drum, wenn einer einmal einen Fauxpas macht. Den reparier Er aber, – künftig bei Gelegenheit – versteht Er: ein honetter Kavalier repariert allemal seine Fehler.‹ Seine Hände haben mir das Kreuz selbst angeheftet; seine Fingerspitzen haben mich berührt; das war der Strom der Gesundheit, des Lebens, ein Strom Himmelsäther, ein Kuß von Dir, der mir durch die Adern bis zur Fußspitze drang. Wer kann mehr erzählen, wer mehr Worte machen! Wärst Du hier! Sie läuten von den Türmen von Schweidnitz, wir ziehen in die wiedergewonnene Stadt. Burkersdorf – so heißt der Ort, nach dem wir die Bergesschlacht nennen – hat den schönsten Klang für mich seit Mollwitz. Mein General reitet vorüber, er lacht mir durchs Fenster zu, er grüßt Dich. Schließ ihn in dein Gebet, er spielte ein gewagtes Spiel, oder nenn' es ein Wunder!«