Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Waldeck-Rousseau

(1904)

Die Zeitungen haben noch kürzlich versichert, daß es Waldeck-Rousseau besser gehe, aber niemand hat es geglaubt; denn hinter der frommen Lüge grinste, für jeden sichtbar, die Wahrheit hervor. Waldeck-Rousseau rang mit dem Tode, und es unterlag keinem Zweifel, wer hier der Stärkere sein würde. Die Operation, bei der die berühmtesten Ärzte Frankreichs ihre Kunst aufboten, hat den schwerkranken Mann nicht zu retten vermocht; und die rastlos sorgende Liebe einer mutigen Frau konnte über die letzten Stunden ein wenig Sonnenschein breiten, aber die Nacht nicht zurückscheuchen. Längst war von dieser hohen, eleganten, imponierenden Gestalt nichts übrig als ein armes, gelbliches Gerippe. Und diese kalte, gleichsam konzentrierte Energie war so gebrochen, daß die Vollendung des Zerstörungswerkes nicht sehr schwierig mehr sein konnte.

Die französische Republik hat kein Glück mit ihren bedeutenden Männern: von den drei großen Figuren, 262 den drei überragenden Persönlichkeiten dieser Republik hat keine jenes Alter erreicht, in dem der Tod nicht mehr als ein brutaler Gewaltakt der Natur, sondern als eine friedliche und natürliche Lösung erscheint. Gambetta war kaum vierundvierzig Jahre alt, als er in seinem Landhause in Villa d'Avray angeblich an den Folgen eines Unfalls und in Wahrheit an einer Appendicitis verschied; Jules Ferry starb, als er eben das sechzigste Jahr erreicht hatte, und Waldeck-Rousseau hätte erst am 2. Dezember den achtundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Man könnte glauben, daß die Aufregungen, an denen das politische Leben in Frankreich so überreich ist, die Kräfte aufzehren, aber das wäre ein Irrtum. Die Statistik beweist, daß französische Politiker in der Mehrzahl zu den langlebigen Menschen gehören, und es ist nur ein blöder Zufall, daß gerade diese drei Männer, aller Statistik zum Trotz, mitten in voller Arbeitsfrische zermalmt wurden.

Die drei, Gambetta, Jules Ferry und Waldeck-Rousseau, gehören nicht nur dieses Zufalls wegen zusammen, sie gehören vor allem zusammen, weil sich in ihnen die große Tradition der französischen Republik verkörpert. Sie regierten in den achtziger Jahren gemeinsam Frankreich; sie waren durch ihre Arbeit miteinander verbunden, aber mehr noch durch ihre Anschauungen und ihre ganze Geistesrichtung. Sie hatten gegen den Orleanismus, den Legitimismus, den Klerikalismus und all die anderen Ismen, die schon zu triumphieren geglaubt, die Republik durchgesetzt; sie hatten diese Republik gegen die Lauheit der einen, gegen die geheimen Intrigen und die offenen Angriffe der anderen 263 verteidigt. Sie waren die Begründer, und sie waren die berufensten Wächter der Republik; sie waren ganz naturgemäß antiklerikal und wünschten eine allmähliche Entwickelung der sozialen Reformen. Sie waren vor allem praktische Politiker, »Opportunisten«, die eine Politik der Resultate wollten; sie hielten ihr ganzes Leben lang an gewissen Grundprinzipien und besonders an diesem Gedanken der »republikanischen Verteidigung« fest. Aber Gambetta und Ferry wären bereit gewesen, der »praktischen Resultate« wegen sich Deutschland zu nähern, und Waldeck-Rousseau stellte 1895 in einer Rede den Grundsatz auf: »La politique est faite d'expériences successives et contradictoires.«

Wenn ich eben Waldeck-Rousseau nicht allein zu den »Wächtern«, sondern auch zu den »Begründern« der Republik gezählt habe, so ist das eigentlich nicht richtig. Im Jahre 1870 war Waldeck-Rousseau erst vierundzwanzig Jahre alt, und es ist sicher alles mögliche, daß er in diesem jugendlichen Alter »Capitaine-major« wurde und dann bereits zu jener »Commission municipale« gehörte, die nach dem Sturze des Kaiserreiches ihre Tätigkeit begann. Er arbeitete in den Abteilungen »Garde nationale, guerre et police«, aber die hohe Politik wurde nicht in diesen Bureaus gemacht. Auch in den Jahren, in denen die Verfassung geboren, die republikanische Staatsform endgültig proklamiert wurde, auch in dieser Periode, die bis 1875 reichte, trat er politisch noch nicht hervor, beschränkte er sich darauf, in den Gerichtssälen zu Rennes seine Hörer durch eine ungewöhnliche Rednergabe zu entzücken. Erst 1879 wird er zum ersten Male von dieser Stadt Rennes, die auf 264 ihren jungen Advokaten stolz ist und ihn gleichsam dem ganzen Lande zeigen möchte, in die Kammer gewählt. Und am 14. November 1881, kaum achtzehn Monate nach seinem Eintritt in das politische Leben, macht ihn Gambetta zum Minister des Innern.

Er war also keiner der ersten Bauherren der Republik gewesen und hatte nicht wie Gambetta und Ferry und wie, um auch einige noch Lebende zu nennen, Georges Clémenceau, Brisson, Freycinet und Ranc, zur Assemblée nationale gehört, hatte nicht in Bordeaux und nicht in Versailles mitgesprochen. Aber als er 1879 in die Kammer eintrat, drückten ihm doch all diese Republikaner die Hand, wie man einem alten Bekannten und langjährigen Kampfgenossen die Hand drückt; und das geschah ganz einfach, weil seine Familie zu den ersten republikanischen Familien, zu der »republikanischen Aristokratie« des Landes gehörte, und weil sein Vater, einer der berühmtesten Advokaten der Bretagne, sich 1848 in der konstituierenden Versammlung als ein treuer Anhänger jener republikanischen Idee bewährt hatte, die damals nach kurzer Verwirklichung in die Rumpelkammer der schönen Ideen zurückverwiesen wurde. Der junge Waldeck-Rousseau besaß nicht nur sein zu Saint-Nazaire und Rennes in schwierigen Prozessen erprobtes Talent, er besaß auch das Prestige des Namens und erschien mit seiner eleganten hohen Erscheinung und seinem gemessenen, kühl reservierten Auftreten als der berufene Nachkomme und Erbe des alten liberalen französischen Bürgertums. Einen solchen Mitarbeiter aber brauchte Gambetta, dem seine Gegner so oft höhnisch vorgeworfen, daß er eine Partei von Emporkömmlingen um sich 265 versammelt, daß er einen ehemaligen Weinhändler, Raynal, zum Arbeitsminister gewählt.

Man konnte sich gewiß nicht zwei Persönlichkeiten denken, die einander weniger ähnlich gewesen wären, als der dreiundvierzigjährige Gambetta und der fünfunddreißigjährige Waldeck-Rousseau. Gambetta mit seinem südfranzösischen Temperament war enthusiastisch, mitteilsam, jovial, fortreißend – Waldeck-Rousseau war zurückhaltend und etwas steif, wie ein englischer Aristokrat, er galt für kühl und schien undurchdringlich. Gambetta sprach mit Leidenschaft und großem Schwung, berauschte sich oft selbst an der breiten Pracht seiner Rhetorik, und Waldeck-Rousseau sprach ruhig, nüchtern, geschäftsmäßig, sagte nie ein Wort zu viel und nie eins zu wenig und fesselte nur durch die unvergleichliche Klarheit und Logik seiner Ausführungen. Gambetta liebte und suchte die Popularität, und Waldeck-Rousseau hatte einen scharf ausgeprägten Widerwillen gegen den lärmenden Beifall der Menge, der in Frankreich noch weniger Bedeutung und noch weniger Bestand hat als anderswo. Aber obwohl diese beiden Männer in ihrem ganzen Wesen so grundverschieden waren, standen sie einander sehr nahe, und Waldeck-Rousseau hat diese Freundschaft und später die Erinnerung an Gambetta zu einem wahren Kultus erhoben. Es unterliegt keinem Zweifel: dieser Mann, der für kalt und undurchdringlich galt, war im Inneren ein Sentimentaler, und seine Sentimentalität kam in seinem Familienleben und besonders in diesem Freundschaftskultus zum Ausdruck, in diesem Freundschaftskultus, der allen Mitgliedern von Gambettas Tafelrunde, allen Hütern der »großen 266 Traditionen« galt, und der so oft verräterisch ausgenutzt wurde und doch alle Enttäuschungen überdauerte.

Das Ministerium Gambetta fällt am 25. Januar 1882, im gleichen Jahre stirbt Gambetta; am 21. Februar 1883 wird Waldeck-Rousseau Minister des Inneren im Kabinett Jules Ferry. Dieses Ministerium bleibt länger als irgend ein anderes vorher am Ruder, es wird erst am 30. März 1885 in der stürmischen Tonking-Debatte von Clémenceau gestürzt, Waldeck-Rousseau verläßt mit sichtlichem Vergnügen sein Amt, und da seine etwas klerikalen Wähler allerhand Ansprüche erheben, wirft er ihnen 1889 das Mandat vor die Füße und scheidet aus dem Parlament. Er hat sich in den zehn Jahren, in denen er der Kammer angehört, eine außerordentliche Autorität erworben, er gilt als der »starke Mann«, der in schwierigen Fällen herbeigeholt werden muß, aber er hat nicht die geringste Neigung, sich mit dem politischen Tageskram abzugeben. Er läßt sich beim Pariser »barreau« einschreiben, ist bald der glänzendste Advokat Frankreichs, plädiert in allen großen Finanzprozessen, verheiratet sich mit der schönen und geistreichen Tochter Charcots, versammelt in seinem Hause Künstler und Gelehrte und besonders die Getreuen Gambettas, studiert sozialpolitische Schriften, malt Aquarell und freut sich am Segelsport. Erst 1895 läßt er sich, halb gezwungen, im Departement Loire zum Senator wählen. Und nach dem Rücktritt Casimir-Periers ist er ein paar Stunden lang Kandidat für die Präsidentschaft der Republik, verzichtet aber, als die Dinge nicht ganz glatt gehen, zugunsten Felix Faures.

267 In diesen neunziger Jahren gewinnt die sozialistische Bewegung in Frankreich sehr an Ausdehnung, und die ungeheuer lärmende Agitation, vor der Casimir-Perier in schwächlicher Nervosität die Flucht ergreift, beunruhigt das satte und selbstzufriedene französische Bürgertum. Waldeck-Rousseau ist der Meinung, daß durch diese Agitation die Republik und das Werk Gambettas in Gefahr kämen, und er nimmt zu den Tageskämpfen Stellung und erhebt in Saint-Etienne, in Monbrison, in Roanne die Warnerstimme. Man kann sagen, daß sein Auftreten in diesen Jahren nicht sehr glücklich war, und zwar einfach, weil seine doktrinäre, nüchterne Art von den Massen nicht verstanden werden konnte, und weil seine autoritäre Bestimmtheit, seine phlegmatische Verachtung aller populären Reizmittel zwar den besitzenden Klassen wohltat, aber die Arbeiterschaft zurückstieß. Was er wollte, entsprach durchaus nicht so ganz den geheimen Wünschen der Bourgeoisie, die ihm Beifall spendete, denn er wollte eine entschiedene Reformtätigkeit unter einer starken Regierung. Er sagte in Roanne: »Man wird das Schicksal der Arbeiter nie verbessern, indem man die Freiheit der Arbeitgeber antastet, man wird nie etwas Gutes und Nützliches für die Arbeit erreichen, indem man das Kapital bedroht.« Aber er war schon damals, und nicht erst, als er später Millerand in sein Ministerium nahm, von der Notwendigkeit und dem Nutzen der Arbeitersyndikate überzeugt und erklärte: »Man darf sich vor allem nicht fürchten, der Arbeit eine machtvolle, intelligente und starke Organisation zu geben.«

268 Dann kommt die Dreyfus-Affäre, kommt der wildeste Hexensabbat, der je gesehen worden, und in der allgemeinen Verwirrung der Geister und unter dem Ansturm der klerikalen Banden, der nationalistischen Raufbolde und der militärischen Prätorianer treibt das Schiff der Republik wehrlos dem Untergange zu. Alle Masken fallen ab, das »gebildete Bürgertum«, würdig repräsentiert durch Herrn Méline und das »Journal des Débats«, verkriecht sich zitternd, feige und infam im hintersten Winkel, der Pöbel beherrscht die Straße, die journalistischen Briganten feiern Orgien, Felix Faure sitzt aufgeblasen und selbstgefällig, wie Ludwig XIV, zwischen Pfaffen, säbelrasselnden Intriganten und Maitressen im Elysée. In diesen Tagen fragen die paar anständigen und mutigen Menschen, denen der Ekel und der Zorn die Kehle zuschnüren, und die in prachtvollem Enthusiasmus ihre Haut zu Markte tragen, sich häufig: »Was sagt Waldeck? Was tut Waldeck-Rousseau?« Er hat sich nicht offen geäußert, aber man hat die Empfindung. daß er ein Bundesgenosse ist, daß er nur auf den rechten Augenblick wartet und dann eingreifen wird. Und der Augenblick kommt, als das elende Ministerium Dupuy der Kriminalkammer des Kassationshofes, die zu warm für die Revision eintritt, die Dreyfus-Sache abnimmt und die Entscheidung den sämtlichen Kammern des Kassationshofes überweist. In einer Rede, die mir in ihrer Schärfe, ihrer stahlharten Eindringlichkeit, ihrer eiskalten Ironie heute noch in der Erinnerung als eine der großartigsten Reden Waldecks erscheint, fertigt er den Minister ab, und zeigt er, wie der Pöbel zu behandeln sei. Von nun ab wissen die Republikaner, 269 daß sie auf Waldeck zählen können, und als nach Felix Faures Liebestod Herr Loubet unter dem Geheul eines bezahlten Gesindels zum Präsidenten der Republik gewählt worden, erscheint es ganz selbstverständlich, daß Waldeck das Ministerium bildet. Kein anderer hätte in dieser Stunde sich um die Macht beworben, kein anderer zeigte Lust, sie anzunehmen.

Man weiß, aus wie verschiedenartigen Elementen Waldeck-Rousseau ein Ministerium schuf. Er nahm ein wenig, was er bekommen konnte: die Leygues, Caillaux, Monis, Lanessan, lauter minderwertige Werkzeuge, die erst in seiner Hand Geltung erlangten, und er nahm den Sozialisten Millerand und den Kommunardentöter General Gallifet. Er handelte ganz nach dem Rezepte, ganz im Geiste Gambettas, und sah nur das Ziel, nur die »republikanische Verteidigung«. Er verfolgte die »Politik der Resultate« und verlor keine Zeit mit den ängstlichen Parteibedenken, mit denen die kleinen Geister sich herumschlagen. Wenn Gambetta in der Lage wäre, aus einem Himmel herabzulächeln, gewiß hätte er beifällig über den Freund und Nachfolger gelächelt, der so getreu an den alten Lehren festhielt.

Wer am 26. Juni 1899 in der französischen Deputiertenkammer war, wird nie diese Sitzung vergessen, in der Waldeck-Rousseau der tobenden Kammer sein Ministerium vorstellte. Die Schlacht, die bis zum Schlusse der Sitzung verloren schien, wurde im letzten Augenblick dank einer beschwörenden Rede des alten Brisson gewonnen, und die Regierung fand eine Majorität von fünfundzwanzig Stimmen. In dem unbeschreiblichen Tumult, unter dem Wutgeschrei der Rechten und des Zentrums 270 saß Waldeck-Rousseau scheinbar ruhig auf seinem Platz und hielt die Hände in den Taschen des Jacketts, aber seine Backenmuskeln arbeiteten wie in einer kauenden Bewegung, und das war bei ihm das Zeichen, daß er innerlich erregt war. Nachdem er so beinahe in der ersten Stunde unterlegen wäre, hielt er sich mit stets wachsender Autorität drei Jahre lang, bis er nach dem glänzenden Ausfall der Wahlen freiwillig zurücktrat. Er säuberte das Heer, die Justiz, die Beamtenschaft von allen verdächtigen Gestalten, machte den Aufrührern den Prozeß, stellte die Ordnung wieder her, dämpfte den Streit durch eine Amnestie, die den Wünschen seiner Freunde und seinen eigenen Neigungen durchaus nicht entsprach, die ihm aber um der »Resultate« willen notwendig schien. Er schuf das Vereinsgesetz und eröffnete den Kampf gegen die geistlichen Orden, teils, weil er in der Dreyfus-Affäre den einst unter Gambetta und Jules Ferry bekämpften Klerikalismus wieder an der Arbeit gesehen, und teils, weil er wußte, daß die große republikanische Partei, die er brauchte, nur in der Offensive zu bilden wäre. Er hat dann später, schon geschwächt und gereizt durch die nagende Krankheit und auch in einem angeborenen Widerwillen gegen alles, was ihm wie eine revolutionäre Maßlosigkeit erschien, die weitergehende antiklerikale Politik seines Nachfolgers heftig angegriffen und ist in dieser Senatsdebatte nach einem Rededuell mit Clémenceau unterlegen. Es genügt, an diesen Zwischenfall zu erinnern; aber ich möchte ihn nicht berührt haben, ohne die Worte hierherzusetzen, mit denen Clémenceau am 23. Juni 1899 in der »Aurore« Waldeck-Rousseaus Regierungsantritt begrüßte: »Er kam, 271 als die anderen sich versteckten und flüchteten, als sie zitterten oder neue Verrätereien einfädelten . . . Ich habe ihn früher bekämpft, und obwohl ich, wie er, mich rühmen darf, manches gelernt zu haben, bereue ich die vergangenen Kämpfe nicht. Aber heute dünkt es mich ehrenvoll, meine Hand in die Hand meines Gegners zu legen und ihm zu sagen: dienen Sie der Republik, ich will Ihnen dienen.«

Es hat außer dem einen Gambetta in der französischen Republik nie ein Staatsmann, nie ein Minister eine ähnliche Autorität besessen wie Waldeck-Rousseau. Seine Parteigenossen verehrten ihn mit einer gewissen scheuen Bewunderung, suchten in seinen immer unbeweglichen Zügen seine Absichten und Pläne zu lesen, empfingen jedes seiner Worte wie ein Orakel. Er schien in dieser politischen Welt, die er beherrschte, aber deren kleinliches Getriebe ihn nicht im mindesten interessierte, im Grunde fremd, und gerade die souveräne Verachtung, mit der er dieses Gebiet behandelte, machte Eindruck. Seine Gegner nannten ihn oft einen Dilettanten der Politik, womit sie ausdrücken wollten, daß er die Politik wie einen Sport und als Grandseigneur betrachtete, und wirklich hatte er nichts von einem Berufspolitiker: der Besitz der Macht war ihm lästig, jeder Alltagsehrgeiz lag ihm fern, und er trat nur hervor, wenn ungewöhnliche Schwierigkeiten zu überwinden waren, oder wenn das Werk, wenn das Erbe Gambettas, wenn der Heilige Gral in Gefahr schien. Ich habe schon gesagt, daß er die Freundschaft zu einem Kultus erhob, und er selber hatte Freunde, die mit einer fast fanatischen Hingebung zu ihm aufblickten. Die große Menge haßte 272 oder bewunderte ihn, je nach ihrem Parteistandpunkt und ihrem Begriffsvermögen, aber es erging ihm nie wie seinem Kollegen Cicero, von dem Plutarch erzählt: »Wenn der Abend kam, und er in sein Haus zurückkehren wollte, begleitete ihn das Volk auf dem Platze nicht mehr schweigend, ohne sich zu äußern, sondern mit lauten Rufen zu seinem Lobe und mit Händeklatschen, indem es ihn den Retter und den zweiten Gründer Roms nannte . . . Und das, weil er die Verschwörung Catilinas, die größte und ernsteste, die je gegen den Staat unternommen worden, mit so wenig üblen Folgen, ohne Tumult, Verwirrung, noch irgendwelchen Aufruhr beruhigt und unterdrückt.« . . . Er wurde nie auf öffentlichem Platze gefeiert wie Cicero. Aber man darf wohl annehmen, daß er in einem solchen Falle auch schleunigst einen Wagen gerufen und sich entfernt hätte.

Einige seiner Widersacher haben behauptet, daß er eigentlich keinerlei Reformen von entscheidender, allgemeiner Bedeutung ausgeführt, und das ist vollkommen richtig. Ich glaube, daß er Frankreich gern mit einer neuen sozialpolitischen Gesetzgebung bedacht hätte, und daß diese Pläne verwirklicht worden wären, wenn er noch einmal die Macht hätte annehmen können. Da ihm das Schicksal die nötige Zeit nicht gelassen, hat er nur eine Kleinigkeit vollbracht: er hat die Republik vor dem Untergange bewahrt, hat »Rom zum zweitenmal gegründet«. Es wäre lächerlich, wenn man leugnen wollte, daß er ein großer Staatsmann gewesen, denn selten schien ein Mann so dazu geboren, so dazu geeignet, einen Staat zu lenken. Er hatte nur einen einzigen Fehler, der auch wieder gambettistisch war: er 273 schenkte, in seinem Widerwillen gegen allen Kleinkram, seiner Umgebung ein zu weitgehendes Vertrauen, und die Erkenntnis, daß einer seiner liebsten Mitarbeiter ihn hintergangen, hat ihn in den letzten Monaten auf dem Krankenlager tief bekümmert. Aber man hatte, wenn man ihn sah oder am Steuerruder wußte, ein Gefühl der vollkommenen Sicherheit, man empfand, daß falsche Manöver, verderbliche Irrtümer und Abenteuer ganz ausgeschlossen wären. Die Republik, die befangen im Parteigezänk und in den Eintagsinteressen sich immer erst nach einiger Zeit ein klares Urteil bildet, wird ihm in naher Zukunft Denkmäler errichten. Die Demokratie aller Länder wird Ursache haben, das Verschwinden eines Mannes zu betrauern, der die Regierungsgewalt nicht zur Unterdrückung, sondern zum Schutze der freiheitlichen Ideen verstärkte. Und da die Existenz jedes wirklichen Staatsmannes heutzutage eine Friedensbürgschaft bedeutet und die Gegenwart an solchen Männern nicht reich ist, so ist die ganze Welt an diesem Verluste beteiligt.

 


 


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