Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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»Canard rouennais«

Mehrere Damen und Herren, die bei einem Diner den beliebten »Canard rouennais«, die »Rouennaiser Ente« gegessen, sind erkrankt, und eine dieser Personen hat sogar jene andere Welt aufgesucht, in der nicht mehr diniert wird. Es scheint, daß man im Sommer keinen »Canard rouennais« essen darf, und daß diese Ente in den heißen Monaten ein Unglücksvogel ist, vor dem öffentlich gewarnt werden muß. Ich weiß nicht, ob der Verlust besonders groß ist: man kann schließlich ohne »Canard rouennais« leben, und man kann sogar, was weit schlimmer ist, auch ohne ihn sterben.

Der »Canard rouennais« ist ein französisches Nationalheiligtum, das nicht nur seine Fanatiker, sondern auch seine Hohepriester hat. Der berühmteste dieser Götzendiener war Joseph, der Restaurateur in der Rue Marivaux, an der Komischen Oper, der vor einigen Jahren als Koch des Zaren nach Petersburg berufen wurde und jetzt der hohen russischen Gesellschaft die Kriegsstrapazen erleichtert, die sie in Petersburg erduldet. Joseph hatte das Lockenhaupt eines Dichters und die edle Ruhe eines Römers, und ganz wie ein Feldherr nur bei den wirklichen Schlachten hervortritt, so erschien Joseph fast nur, wenn auf dem blankmetallenen Serviertisch 182 der »Canard rouennais« herangerollt wurde. Drei oder vier Kellner reichten ihm feierlich die Messer, mit denen er das Fleisch vom Gerippe trennte, und die neunundneunzig Gewürze und Flüssigkeiten, aus denen er ernst und gravitätisch die Sauce zusammenrührte. Schließlich kam das Gerippe unter die Knochenpresse, der herausgequetschte Saft kam in die komplizierte Sauce, die gewärmten Entenscheibchen und die Sauce kamen auf den Teller, und man aß diese Schwergeburt der Kochkunst ohne innere Begeisterung, aber mit einer heimlichen Furcht vor der Rechnung.

Jetzt ist von den großen Künstlern, die den »Canard rouennais« sozusagen in klassischer Manier zu servieren wissen, eigentlich nur noch Frédéric übrig, der Besitzer des Restaurants zur »Tour d'argent«, ganz unten auf dem linken Seinequai. Der auch schon bejahrte Frédéric, der eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Ibsen hat, versteht die besondere Kunst, die Ente auf der Gabel zu tranchieren, ohne sie auf die Schüssel zu legen. Den jüngeren Kräften fehlt der richtige Schwung, die wahre Tradition, und diese Tradition dürfte ganz verloren gehen, wenn die ungünstigen Gerüchte, die über den »Canard rouennais« augenblicklich umlaufen, sich bestätigen sollten.

Wie fast alle Verehrer des »Canard rouennais«, gehören auch die Personen, die jetzt diesem Gericht zum Opfer gefallen sind, zu den besten Kreisen. Der Marquis und die Marquise de la Guiche haben ihre Gäste mit dem »Canard« bewirtet, der Comte Léon de Laubespin ist gestorben, sämtliche Festteilnehmer sind erkrankt, und den Dienstboten, die wohl am meisten gegessen hatten, 183 geht es am übelsten. Die Sachverständigen erinnern daran, daß nach den Regeln der französischen Kochkunst die Ente erstickt wird, damit das Blut im Innern des Körpers verbleibe. Das zusammengepreßte Blut kann bei warmer Witterung sich leicht zersetzen, und die Ente wird giftig, was man ihr bei dieser Behandlung nicht weiter verübeln kann.

Bereits gelten die Austern für gefährlich; vor kurzem hat man in den »petits fours« giftige Bestandteile entdeckt, und ein Lukullus würde sagen: »Es wird immer schwerer, sich zu sättigen!« Übrigens starb bekanntlich auch Lukullus an einer Vergiftung, und die Behauptung des Cornelius Nepos, daß ein Sklave das Gift in die Speisen gestreut, ist keineswegs bewiesen. Die Geschichte des »Canard rouennais« ist sehr traurig, aber auch sehr lehrreich, und die Warnungen, die sie enthält, werden hoffentlich nicht so bald vergessen werden. Das wahre und dauernde Glück ist nur in der Einfachheit zu finden, in der Einfachheit der Sitten und der Saucen.

 


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