Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Die Millionärin

Die Pariser haben wieder ernste aufgeregte Tage durchlebt. Diese Aufregung war nicht verursacht durch die marokkanische Frage, auch nicht durch die intensive Sommertätigkeit einzelner Monarchen, sondern einzig und allein durch eine Lotterie, die zugunsten der französischen Presse oder ihrer Unterstützungskasse veranstaltet worden ist. Man muß sagen, daß die Gewinnchancen dieser Lotterie ungewöhnlich gering sind, denn den anderthalb Millionen Losen steht nur eine ganz kleine Anzahl von Gewinnen gegenüber; aber der Hauptgewinn in jeder einzelnen Serie beträgt eine Million, und diese Ziffer hat noch immer eine werbende Kraft. Die Skeptiker mochten bemerken, daß bei anderthalb Millionen Losen die Konkurrenz etwas groß wäre, die Ungenügsamen mochten vorrechnen, daß eine Million bei dem heutigen Zinsfuße nur einen armseligen Notgroschen bedeutete; kein Mensch ließ sich durch solche grämlichen Betrachtungen von der Jagd nach dem Glück 203 zurückhalten, und die Lose, die offiziell zwanzig Frank kosteten, wurden am Tage vor der ersten Ziehung mit achtundzwanzig bezahlt. Wochenlang wurde überall, wo man ging und stand, die Frage erörtert: »Was mache ich, wenn ich gewinne?«, und viele alte Frauen legten sich so lange die Karten, bis die Karten weich wurden und die ersehnte Million versprachen.

Wie sich bei jeder russischen Niederlage zunächst das Gerücht von einem russischen Siege verbreitet hat, so wurde auch an diesem ersten Ziehungstage eine Anzahl falscher Siegesnachrichten ausgesprengt. Ein interessanter Zufall wollte, daß die erste dieser Nachrichten den russischen Konsul in Paris als Gewinner bezeichnete, während in Marseille eine Fischhändlerin in der Markthalle als Siegerin gefeiert wurde. Der Konsul, der gar kein Los besaß, nahm die Kunde natürlich kaltblütig auf, die Fischhändlerin in Marseille aber verschenkte sofort ihre Fische und stimmte, als ihr Irrtum offenbar wurde, ein Geheul an, das allen Menschen und Tieren in der Halle Tränen des Mitgefühls entlockte. Einen halben Tag lang wartete ganz Frankreich in atemloser Spannung; dann kam die befreiende Meldung, daß Frau Hofer, Kantinenwirtin beim 28. Dragonerregiment in Sedan, die Million gewonnen.

Kantinenwirtinnen, die den Durst eines ganzen Dragonerregimentes löschen, sind gewöhnlich sympathische Persönlichkeiten. Diese Damen gleichen ja nicht immer den Marketenderinnen in den komischen Opern und dem Gustel von Blasewitz, aber wer jemals in Staub und Hitze ein Manöver mitgemacht hat, der erinnert sich in dankbarer Rührung ihrer Umsicht und ihrer Fürsorge. 204 Frau Hofer, deren Mutter schon als Kantinenwirtin sich bewährt hatte, ist Witwe, hat ein hübsches Vermögen erworben und wollte sich eben, im besten Mannesalter, vom Geschäft zurückziehen. Ich sage »im besten Mannesalter«, aber ich muß hinzufügen, daß die Angaben über die Zahl ihrer Jahre in diesen Tagen eigentümlich hin und her schwankten, und daß Frau Hofer in dem Maße an Jahren verlor, wie sie an Reichtum und Ansehen gewann. Die Zeitungen hatten im ersten Augenblick von einer »vierzigjährigen Witwe« gesprochen; aber als es ganz feststand, daß Frau Hofer Millionärin geworden, wurde sie »eine schöne brünette Frau, ziemlich stark, sehr heiter von Natur und achtunddreißig Jahre alt«. Auf ihren Bildern, die in allen Zeitungen zu sehen sind, erscheint sie rund wie eine Kugel, rund wie das Fäßchen in ihrer Kantine, und rund wie die Summe, die sie gewonnen hat.

Die Pariser Reporter, die natürlich nach Sedan geeilt sind, haben die runde Witwe inmitten ihrer Dragoner getroffen, denen sie gerade einen Freipunsch kredenzte. In all ihrem Glück und in all ihrem Punsch hatte sie sich kaum einen kleinen Schwips angesäuselt, und sie äußerte sich zwar redselig, aber keineswegs phantastisch. Sie erzählte, daß die Frauen auf dem Markte sie umdrängt und an irgend einer Körperstelle berührt hätten, wovon diese gläubigen Weibsbilder sich eine glückbringende Wirkung versprachen, und sie erzählte weiter, daß sie in ihrer Heimat Villemouble ein Haus bauen, daß sie Pferd und Wagen kaufen und oft nach Paris reisen wollte. Man fragte sie, ob sie sich wieder zu verheiraten gedächte, aber sie verneinte energisch und 205 erklärte sehr vernünftig, daß die Männer nur ihre Million, nicht sie selber umwerben würden. Dagegen wollte sie sehr viel Gutes tun, recht vielen Menschen Freude bereiten, und wenn sie auch nicht all die wohltätigen Pläne, die in den Blättern ihr zugeschrieben wurden, sofort ausführte, so stiftete sie doch zehntausend Frank für die Ferienkolonien und berief ihren einzigen Erben, einen Neffen, telegraphisch an ihre Seite. Dieser Neffe, der bisher in Paris das etwas melancholische Amt eines Leichenwagenkutschers versah, äußerte seine Freude so laut, daß er wegen Störung der öffentlichen Ordnung mit einer Polizeistrafe bedacht werden mußte. Es ist eine alte Beobachtung, daß Menschen, die viel mit stummen Personen zu tun haben, ihre Gefühle gern recht vernehmbar kundgeben, und der Fall der Fischhändlerin und der Fall des Leichenwagenkutschers beweisen die Richtigkeit dieser Theorie.

Den zweiten Hauptgewinn, zweimalhunderttausend Frank, gewann ein Herr Désiré Cousin, Kassierer bei einer Firma in Armentières, und auch Herr Cousin erhielt den Besuch der Reporter. Herr Cousin ist nicht so herzhaft, nicht so beglückt und lustig wie die runde Witwe, er ist der Typ des trockenen Gewinners, und er hegt, um den Borgern und Bettlern überflüssige Bemühungen zu ersparen, den begreifbaren Wunsch, daß von diesem Vorfall nicht allzuviel gesprochen werde. Herr Cousin, der eine Frau und zwei Söhne hat, wird seinen Kassiererposten nicht aufgeben, er wird genau wie früher allmorgens auf seinem Bureauschemel hocken, und gedenkt auch sonst nicht, seine Lebensweise erheblich zu verändern. Man braucht nicht zu befürchten, daß 206 er sich infolge dieses Glücksfalles kostspieligen Ausschweifungen überlassen wird, und man spürt ordentlich den sauren Wein auf der Zunge, den er zur Feier des Ereignisses seinen Kollegen offerieren dürfte.

Es ist sehr amüsant, zu sehen, wie so die verschiedensten Menschensorten, die verschiedensten Naturen einen plötzlichen Gewinn aufnehmen, und da ja noch mehrere Millionen zu gewinnen sind, so werden diejenigen, die leer ausgehen, wenigstens um einige Beobachtungen reicher werden. Bis jetzt hat das Schicksal in sichtbarer Parteinahme die Sittenreinheit, die Rechtschaffenheit, den Fleiß und die Herzensgüte belohnt, und man erkennt mit Genugtuung, daß der jähe Glücksfall diese Tugenden keineswegs erschüttert hat. Es ist wahr, daß die glücklichen Gewinner einstweilen in den Flitterwochen des Reichtums leben, daß die runde Witwe vielleicht doch noch ihr Herz und ihre Million einem verführerischen Jüngling opfern wird, und daß der sparsame Kassierer, der sonderbarerweise sechs Lose besaß, immerhin eines Tages dem Spielteufel verfallen und sein Geld verspekulieren kann. »Wer weiß, was geschieht!« sagt die Fischhändlerin in der Markthalle zu Marseille, sagen oder denken alle diejenigen, die nicht gewonnen haben. Und auch in dieser selbstlosen Anteilnahme, in dieser Sorge für das fernere Wohlergehen der vom Schicksal Begünstigten zeigen sich das gute Herz, das Gemüt und der biedere Sinn unserer Zeitgenossen. 207

 


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