Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Dritter Teil
Büsten

Die Büste Henri Becques

(Mai 1904)

Am letzten Tage dieses Monats wird im Théâtre Antoine eine Vorstellung stattfinden, deren Ertrag zur Verwirklichung einer schönen und löblichen Absicht dienen soll. Ein Komitee, zu dem Sardou, Mirbeau, Capus, Antoine und viele andere gehören, gedenkt, das Grab Henri Becques pietätvoll auszuschmücken und irgendwo in einem stillen Parkwinkel, im Jardin du Luxembourg oder im Parc Monceau, die von Rodin gemeißelte Büste des Verstorbenen aufzustellen. Man erinnert sich oder man erinnert sich auch nicht mehr, daß vor einiger Zeit die seltsame Kunde durch die Blätter ging, das Grab des Dichters der »Parisienne« wäre sozusagen verloren gegangen, und unter dem Hügel, der nach allgemeiner Meinung das Dichtergrab überwölbte, schliefe nicht Henri Becque, sondern ein ehrlicher und unpoetischer Oberst der Gendarmerie. Diese Geschichte war, wie genaue Nachforschungen bewiesen, durchaus erfunden, und niemand, der vor dem Grabe Henri Becques den 222 Hut zieht, braucht sich zweifelnd zu fragen, ob er nicht doch vielleicht einem Angehörigen der höheren Polizei seine Reverenz mache.

Wir werden nun also den üblichen Obelisken mit dem Porträtrelief oder eine ähnliche Grabverschönerung sehen und, wenn die Gelder reichen, auch noch die Büste. Griesgrämige Leute, die alle Ehren auf der Goldwage zuwägen möchten, werden unwillig bemerken, daß Flaubert, Alfred de Vigny, Stendhal und viele andere in Paris noch keinerlei Denkmal besäßen, und daß das Denkmal Mussets noch im Atelierschuppen lagere. In Deutschland, wo »Die Pariserin« in allerdings mangelhafter Darstellung vor kurzem so wenig Glück gehabt und wo »Die Raben« so vollständig durchgefallen sind, wird man noch weniger begreifen können, warum ein großes Komitee es für nötig hält, dem Verfasser dieser beiden Stücke all diesen Marmor zu stiften. Und wenn man sich auch noch so eindringlich sagt, daß Henri Becque der Führer jener jungen Dramatiker gewesen, die auf Antoines freier Bühne eine neue Literaturära zu begründen gedachten, und wenn man sich auch noch so oft wiederholt, daß Henri Becque zuerst der konventionellen Dumaskomödie entgegengetreten ist – im Grunde versteht man nicht und kann man nicht verstehen, warum gerade jene beiden Stücke einen solchen Einfluß ausgeübt.

Ich glaube, man kann nicht oft genug betonen, daß ein so urfranzösisches Werk wie die »Parisienne« auf der Reise ins Ausland immer sein Bestes einbüßen muß, genau wie ein wirklich deutsches Werk, etwa ein Roman von Fontane oder die »Buddenbrocks«, den Klimawechsel nicht vertragen könnte. Wie ein flachgeschliffener Kiesel, 223 der am Strande zwischen dem salzig feuchten Seetang liegt, all seinen schillernden Glanz verliert und nur noch ein banaler, harter und uninteressanter Stein ist, wenn man ihn weiterträgt, so ist von Werken, aus denen das Temperament und der Geist eines Volkes gerade am farbigsten herausstrahlen, nach ihrer Überführung in andere Gegenden nichts übrig als die nackte, gleichgültige Form. Aber diese Beobachtung, die sich immer wieder und wieder aufdrängt, bedarf gerade dann, wenn von den Werken Henri Becques gesprochen wird, einer gewissen Einschränkung, einfach, weil das eine jener beiden Stücke, und das eigentliche Programmstück, die »Raben«, auch in Paris heute nur noch eine literarhistorische Kuriosität ist, die respektvoll und pietätvoll verehrt wird. Man muß die »Raben« lesen und muß vorher oder hinterdrein eine Komödie von Alexandre Dumas genießen; erst dann beginnt man zu ahnen, warum vor zwanzig Jahren die jungen Literaten über das Stück Henri Becques gejubelt und warum die alten Kritiker Gift und Galle gespien.

Es ist wahrscheinlich, daß die erfolgreichen Schriftsteller, die zu dem Denkmalskomitee gehören, gar nicht auf den Gedanken gekommen wären, Henri Becque durch Marmorsäulen zu ehren, wenn dieser gute Becque in ihrer Erinnerung nur als der literarische Vorkämpfer und als Erzeuger eines feinen Kunstwerks, der »Parisienne«, lebte. Aber was den Mitgliedern des Komitees und was vielen anderen vor Augen steht und unvergeßlich ist, das ist die Persönlichkeit Henri Becques, diese Persönlichkeit, die alle Vorzüge und alle Fehler des französischen Literatentums in sich barg, die in allem 224 Guten wie in allem Schlechten so vollkommen französisch war und von all den Schlägen getroffen wurde, die auf einen Dichter niederfahren können. Mit seinem Unabhängigkeitsdrang, mit seinem zerfetzenden Witz, mit seinen Bohème-Gewohnheiten und seiner unbegrenzten Respektlosigkeit schien Henri Becque direkt aus dem Kreise Diderots in die Gegenwart verpflanzt. Und obwohl er, im Geben und selbst noch im Nehmen, einen Stolz besaß, der dem »Neffen Rameaus« durchaus nicht eigen war, und obwohl er auf Jahre geistiger Ernte zurückblicken konnte, erinnerte er in der letzten Zeit seines Lebens doch ein wenig an diesen »raté«, an dieses gescheiterte Genie, an diesen gestürzten Engel, der mit bitterem Humor hausieren geht, weil er sich keine Schöpferkraft mehr zutraut.

Er hatte durchaus die äußere Erscheinung eines Mannes, der zu einer Führerrolle bestimmt ist, eines Empörers, eines Luzifers der Literatur. Seinen Kopf mit der prachtvoll gewölbten Stirn, den trotzig emporstehenden Haaren, den sehr buschigen Brauen, der etwas breiten, kräftigen Nase und dem harten, kurzen, nach unten gewöhnten Schnurrbart konnte man je nach Sympathie und Neigung mit dem Kopf eines Löwen oder einer schönen Dogge vergleichen. Seine Gestalt war groß und elegant, und immer erst nach einiger Zeit bemerkte man, daß sein schwarzer Rock schon ein wenig schäbig war, und daß seine Wäsche zu wünschen übrig ließ. Er sprach gern und lächelte dabei ironisch; er war ein ausgezeichneter Gesellschafter, der eine ganze Tafelrunde auf Kosten der Abwesenden unterhalten konnte, er erzählte Anekdoten, die ein ungünstiges Licht 225 auf seine Zeitgenossen warfen, und versandte boshafte Bemerkungen, die den besten Ruf untergraben mußten. Aber vielleicht war er weniger lustig, wenn er dann allein nach Hause ging.

Als ich ihn kennen lernte, lag die Periode, in der er frei und ziemlich mühelos hatte schaffen können, bereits hinter ihm. Seine Stücke wurden nur selten aufgeführt und brachten ihm keinen nennenswerten materiellen Gewinn, und er lebte von einer kleinen Pension, auf die er als früherer Beamter Anspruch hatte, von dem Gelde, das er dann und wann mit einem Zeitungsartikel verdiente, und von allerlei Zuschüssen, die bald von dieser und bald von jener Seite kamen, und die er mit einem Gemisch von philosophischer Ergebenheit und leichter Verschämtheit annahm. Er hatte gegen Ende der achtziger Jahre begonnen, an einer Komödie »Polichinelles« zu arbeiten, und seine Freunde und Verehrer hatten von einem Winter zum anderen auf dieses Werk gehofft, von dem man sich Wunderdinge versprochen hatte. Einmal hatten Antoine und der Dramatiker Georges Ancey ihn nach Camaret in der Bretagne entführt, ihn dort in der Nachbarschaft ihrer Landsitze einquartiert und ihm beinahe gewaltsam die Feder in die Hand gedrückt. Becque hatte auch wirklich eine lange, eine viel zu lange Reihe von Szenen geschrieben, aber aus den einzelnen Szenen war kein Stück geworden und das dicke Manuskript war wieder in den Koffer gewandert. Jetzt glaubte niemand mehr ernstlich, daß die »Polichinelles« jemals gespielt werden würden, aber alle Welt wußte irgend ein bissiges Wort aus der unvollendeten Komödie zu zitieren.

226 Es wird in diesem Augenblick in den Pariser Zeitungen wieder ziemlich viel von Henri Becque gesprochen, und mehrere seiner ehemaligen Freunde haben erzählt, wie er ihnen das Fragment dieses Stückes vorgelesen. Er war gern bereit, das Manuskript hervorzuholen, und ich für mein Teil habe zweimal das Vergnügen gehabt, die Komödie oder doch ihre meisten Szenen zu hören. Die »Polichinelles«, die in dem Stücke auftraten, waren ein Gesindel von Finanzleuten, die in der Politik herummanschten, und von Politikern, die ihren Einfluß verschacherten. Irgend eine der Personen bemerkte: »Durch Mazas (das jetzt abgerissene Gefängnis der Bankrotteure und Erpresser) kann man es zu allem bringen, vorausgesetzt, daß man herauskommt.« Im ersten Akt gab ein Bankier ein Fest im Kreise seiner Geliebten, und am Schlusse des Aktes erschien ein Polizeikommissar, um den Bankier zu verhaften. Als der Kommissar gemeldet wird, fragt einer der Gäste: »Wen meint er?« Und ein anderer antwortet: »Wer kann das wissen? Nous sommes tous dans les affaires!«

Als mir Becque seine Komödie zum ersten Male vorlas, wohnte er in der Avenue Viktor Hugo in drei Zimmern über dem Hausflur, die ziemlich kahl und im Winter ungemütlich kalt waren. Jedesmal, wenn ich zu ihm kam, amüsierte er sich darüber, daß gegenüber seinem Hause ein Mitglied der Familie Rothschild wohnte, und der Kontrast zwischen seinem Heim und dem Palast auf der anderen Seite war wirklich ziemlich bedeutend. Später zog er nach der Avenue de Villiers in eine Wohnung, in die er, wohl der Bequemlichkeit halber, außer seinen Büchern nur noch den allernötigsten 227 Hausrat mitgenommen hatte. An Tagen, an denen er aus allerlei Gründen nicht ins Restaurant gehen mochte – weil er kein Geld oder keinen Kragen hatte, oder weil er nicht eingeladen war –, bereitete er sich sein Frühstück eigenhändig auf dem Gasapparat in seiner Küche.

Er behauptete, daß er die »Polichinelles« nicht vollenden wolle, weil die Panamaaffäre, die inzwischen ausgebrochen war, all den Figuren, die er gezeichnet, die Masken abgerissen, und weil man nun glauben würde, daß er durch diese banale »Aktualität« beeinflußt worden. In Wahrheit schrieb er die »Polichinelles« nicht zu Ende, weil seine Phantasie erlahmt war und weil er nicht mehr die Energie besaß, eine Handlung logisch zu entwickeln. Bald war er nicht mehr imstande, einen Zeitungsartikel zu schreiben, und höchstens formte er noch dann und wann, in einer glücklichen Stunde, ein kleines Gedicht. Ich habe neulich in einer großen deutschen Zeitung gelesen, daß er in seinem Leben nur ein einziges Gedicht verfaßt hätte; aber das ist ein Irrtum, und ich weiß von mindestens fünf oder sechs Sonetten. In einem dieser Sonette war viel von einem »large lit« die Rede, von einem »large lit, payé par les satrapes«. Er deklamierte es gern mit humoristischem Pathos, und besonders in Damengesellschaft. Aber zu jeder anhaltenden Arbeit war er völlig unfähig, und da er sich vor anderen und vor sich selbst eine Ausrede machen wollte, so hatte er immer »gerade jetzt« soviel Angelegenheiten zu erledigen, die äußerst dringlich waren und seine ganze Zeit in Anspruch nahmen. Er lief von Pontius zu Pilatus für einen Neffen, dem er einen Posten in irgend einem Ministerium verschaffen wollte.

228 Mißtrauen gegen die eigene Kraft, Trägheit und gekränkter Stolz – das alles zusammen verleidete ihm die Arbeit und trieb ihn in die Rolle des Frondeurs hinein, des Frondeurs, der aus dem Winkel, in dem er sich verschanzt hat, seine Zeitgenossen mit grausamen Witzworten und Sarkasmen überschüttet. Er verstand es, Worte zu prägen, die fleißig kolportiert wurden und ihr Opfer wie giftige Pfeile trafen. Er war das böseste Mundwerk von Paris und allen Klatsch der literarischen und politischen Welt formte er zu Epigrammen.

Er war auch sehr galant und sprach gern, mit schmunzelndem Behagen, von seinem Glück bei Frauen. Im Anfang des Jahres 1896 war er in Kopenhagen gewesen, wo er Vorlesungen gehalten hatte. Er erzählte mir nach der Rückkehr, daß die erste seiner Vorlesungen mißfallen – er war zu zahm gewesen – er hatte sich nicht getraut, schärfer zu sein, weil er hundertundfünfzig junge Mädchen im Parkett gesehen hatte. Vor der dritten Vorlesung machte er auf dem Presseball die Bekanntschaft einer jungen Dame, die sich Margarete nannte und die ihm für den Abend nach der Vorlesung ein Rendezvous gab. Während der Vorlesung bemerkte er die junge Dame im Saal und begann nun zu improvisieren. Er sprach davon, daß für jeden Schriftsteller eine Stunde der Schaffensmüdigkeit käme. Aber dann erwache in dem Müden der Faust, er wolle sein Leben genießen, und wie Faust stehe er am Wege und warte, daß Margarete vorüberkommen solle. »Und so bin auch ich,« sagte Becque, »alt, grauhaarig und vielleicht schaffensmüde, aber bis zu meiner letzten Stunde bin ich bereit, an jenem Wege zu stehen und auf 229 Margarete zu warten.« – Ich erzähle diese Geschichte, wie er sie mir erzählt hat, ich garantiere nicht ihre Richtigkeit, so wenig wie die Richtigkeit der »Fortsetzung«, die er gleichfalls nicht verschwieg. . . .

Er schwadronierte gern ein wenig, aber es war doch ein großes Vergnügen, ihn reden zu hören. Ich denke an einen Abend auf der majestätischen Terrasse von Saint-Germain, wo wir in Gesellschaft eines deutschen Diplomaten im »Pavillon Henri Quatre« saßen und wo der alte Becque in heiterer Weinstimmung mit weit ausholenden Gesten seine Sonette deklamierte. Ich denke an einen anderen Abend, wo er mir melancholisch sagte: »Als ich anfing, da war das, was wir machten, etwas Junges, Neues. Es ist vielleicht nicht ganz das daraus geworden, was wir damals erwartet hatten – es ist ein Spezimen der Kunst geblieben. Es hat vielleicht allerhand genützt, die Handlung ist einfacher geworden, die alte Intrige mit aufgefangenen Briefen und dergleichen darf nicht mehr gemacht werden. Aber man hatte wohl noch mehr erwartet. Das ist vorüber.« Als ich ihn zum letzten Male sah, sprachen wir von dem Thema, von dem alle Welt sprach: von der Affäre Dreyfus. Er schwor damals, daß französische Offiziere einen Kameraden nicht unschuldig verurteilen könnten. Ich glaube, daß er diese Ansicht bald aufgegeben hat. Er sprach auch von Politik – besonders von der großen Weltpolitik; er redete sich ein, sehr viel davon zu verstehen, aber er entwickelte gewöhnlich Ansichten wie ein Kind.

Während er bei den meisten als ein unverbesserliches Schandmaul verschrien war, hatte er doch auch Freunde, 230 die mit einer besonders in den Pariser Literatenkreisen so seltenen Treue zu ihm hielten und bis zu seinem Ende für ihn sorgten. Er liebte Sardon, der ihm literarisch so fern stand, und Sardon liebte ihn. All diese Freunde, die es zu Geld und zu Ehren gebracht und in schön geschmückten Wohnungen wohnten, empfanden und empfinden noch heute, daß der alte Bohémien, der nicht immer einen sauberen Kragen hatte, doch bei weitem der Größere war. Er war nicht nur größer durch die wenigen Werke, die er geschaffen, er war vor allem größer als Persönlichkeit; größer, weil er von den Adelsgeschlechtern der französischen Literatur, von La Bruyère, von Molière, von Diderot zu stammen schien, weil er die Tradition, die wahre französische Tradition verkörperte. All die Boulevardberühmtheiten, all die Modeschriftsteller und Salonphilosophen erschienen neben ihm dünnblütig, blaß und wie im Wachstum zurückgeblieben, und die Eleganz der Salongrößen wirkte nicht halb so vornehm wie die Bedürftigkeit des alten Becque. Immer hatte man die Empfindung, einen Prinzen aus Genieland zu sehen. Einen vertriebenen Prinzen aus Genieland. 231

 


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