Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Camille Pissaro

Camille Pissaro ist in jenes Nichts hinüber geschlummert, das die Gläubigen und die Optimisten das Jenseits nennen. Er war ein großer Künstler, einer von den wenigen, die, auf eigenen Füßen stehend, nur mit den eigenen Augen sehen wollen, und er war ein seltener, ein wundervoller Mensch. Seit den Jahren, in denen er seinem Lehrer und Freunde Corot gelauscht, seit dem Tage, an dem er mit Monet und Sisley und Renoir der impressionistischen Malerei ihre ersten Triumphe erkämpft, hatte er mit stets gleicher Gewissenhaftigkeit, mit ruhigem Zielbewußtsein und mit einer unsagbar heiteren Arbeitsfreude Werk auf Werk geschaffen. Er ist dreiundsiebenzig Jahre alt geworden und alle, die ihn näher gekannt haben, wissen, daß er zum Sterben noch viel zu jung war.

An einem Sommerabend machte ich in einem kleinen Café auf dem Hafenkai von Dieppe seine Bekanntschaft. Er saß mit seinem schmächtigblonden Sohne, der gleichfalls Maler ist, mit einem bekannten deutschen Kunstschriftsteller und seiner Gattin und mit zwei oder 241 drei ein wenig phantastisch, nach alter Bohèmeart gekleideten Kunstjüngern an einem der Tische. Unter Tausenden wäre seine merkwürdige Erscheinung aufgefallen, und in einer Galerie von »Charakterköpfen« hätte man diesen prachtvollen, imponierenden Kopf bemerkt. Der alte Pissaro trug einen braunen Samtanzug und einen schwarzen, seidenhaarigen Schlapphut mit breiter Krempe. Das weiße Haar fiel hinten so lang herab, daß es sich auf dem Rockkragen bauschte, und der lange Vollbart, der völlig weiß war und nicht einmal, wie der Schnurrbart, noch ein paar dunkle Haare aufwies, legte sich breit und majestätisch auf den Brustteil der braunen Samtjacke. Aber was den Alten besonders von den »schönen Greisen«, von den milchfarbigen Patriarchen der Bibelillustrationen unterschied, das waren die pompöse Nase und die funkelnden, von fast noch schwarzen Brauen überwölbten Augen. Pissaro war auf Sankt Thomas geboren und seine Eltern stammten aus Portugal. Etwas vom Kreolen und noch mehr vielleicht vom portugiesischen Juden haftete seiner Erscheinung an.

Wir wurden bald näher bekannt, und ich sah ihn eine Weile lang fast täglich am Abend in dem kleinen Café oder bei Tage in dem Zimmer am Hafen, in dem er, am Fenster stehend, das Gewimmel vor dem Fischmarkt und die Kähne und Dampfer des Hafenbassins malte. Dann kehrte er nach Paris zurück, wo er in einem Hause wohnte, in das er so recht hineinzugehören schien: in dem alten Hause der Place Dauphine, das beinahe auf dem Pont-Neuf, gegenüber dem Denkmal Heinrichs IV., steht und vor der Revolution das Haus 242 der Madame Roland war. Von den Fenstern seiner Wohnung sah Pissaro die ganze Seine mit ihren Brücken, ihren Waschanstalten, ihren schmalen Dampfschiffen, ihren grünbepflanzten Kais, und er sah in der Ferne die von leichtem Dunst umhüllten Höhen von Meudon, Sèvres und Saint Cloud. Als er die grandiose, lebendige Schönheit dieses Schauspiels aus einer Reihe von Bildern festgehalten, mietete er ein Hotelzimmer auf dem Quai Voltaire. Denn er konnte seiner Augen wegen, die sich beim leisesten Winde entzündeten, nicht im Freien malen und war immer auf der Suche nach einem Zimmer.

Man könnte sagen, daß die Lage der Häuser und der Zimmer, die er nacheinander bewohnte, für seinen ganzen Entwickelungsgang charakteristisch war. Als der Einfluß Corots in ihm noch nachwirkte, und als er nur begierig war, dem Lichte seine Geheimnisse abzulauschen, malte er zumeist auf dem Lande, in der stillen Einsamkeit, in Argenteuil, in Montmorency und auf den Ufern der Marne. Dann ergriff ihn die Lust, statt der ruhigen Stimmung den ewigen Wechsel, die Bewegung, den Widerstreit der Töne und gleichsam das Leben in seiner höchsten Steigerung zu malen, und er nistete sich in den geräuschvollsten Hafenvierteln ein oder hauste dort, wo das Treiben der großen Stadt sich wie auf einer breiten Schaubühne abspielt. Er hatte eine innige, eine fanatische Freude an allem, was Licht und Bewegung war, und er empfand ein unbeschreibliches Wohlbehagen, wenn er dieses Licht und diese Bewegung auf die Leinwand bannte.

Es war genußreich, ihm bei der Arbeit zuzusehen, und fast noch genußreicher, ihn zu hören. Er sprach mit 243 einem klangschönen, warmen, bisweilen leicht singenden Organ, und von seiner ganzen Persönlichkeit ging, während er sprach, eine eigene Wärme aus. Er sprach gern von der Vergangenheit, aber nicht mit der Eitelkeit redseliger alter Herren, sondern mit der selbstverständlichen Freigebigkeit eines guten Reichen. Er erzählte mit einer Begeisterung, die in dreißig Jahren nicht um das Zehntel eines Grades gesunken war, von seinem Lehrer Corot, den er unter allen Malern am höchsten stellte – noch höher, als seinen zweiten Abgott, Ingres – den er allen als Vorbild empfahl und dessen oft mindergeschätzte figürliche Bilder er besonders liebte. Er erzählte von seinen eigenen Anfängen, erzählte, wie er 1870 in Louveciennes ein Haus bewohnte und wie Napoleon III. in Louveciennes sein Hausquartier nahm. In dem Hause Pissaros wurde die Feldschlächterei eingerichtet, alle Bilder und Skizzen gingen zugrunde und dienten als Unterlage für die kaiserlichen Schweinskoteletten. Und an dem, was noch übrig blieb, wischten sich die Schlächtergesellen die blutigen Finger ab.

In Frankreich besteht eine Sitte, die bisweilen sehr schön und weit öfter grotesk wirkt: die Sitte, jeden, der durch sein Schaffen auf einem Gebiete der Kunst berühmt oder auch nur bekannt geworden, »cher maître«, lieber Meister zu nennen. Ich wüßte keinen, den man so gern, so ohne Zwang, und ohne heimliche »reservatio mentalis« seinen »lieben Meister« genannt hätte, wie den alten Pissaro. Die vornehme Güte, mit der er jeden Jüngeren empfing und belehrte, die ruhige Abgeklärtheit, die über seinem ganzen Wesen lag, ließen das Wort, das so oft geziert und unwahr klingt, als 244 die natürliche Anredeformel erscheinen. Und dieser Alte gehörte nicht zu den Künstlern, die nur den Ateliertratsch und im besten Falle ihre Kunstinteressen kennen – sein Geist, der immer in Bewegung war und vieles umfaßte, ertrug keine engenden Fesseln. Dieser Mann, der noch in seinen besten Jahren den harten Kampf ums Brot gekämpft und erst im Alter die Früchte erntete, war eine Kämpfernatur geblieben. Seine Anschauungen über die Dinge dieser Welt glichen sehr selten den Tendenzen der »führenden Klassen«, und seine Philosophie war im höchsten Grade polizeiwidrig.

Bei all seiner Güte war er gegenüber den Anfängern, die zu ihm kamen und seinen Rat erbaten, die Offenheit selber. Er hielt nie mit seinem Tadel zurück und beschönigte nichts, aber er suchte durch Gründe und Erklärungen dem Frager den rechten Weg zu weisen. In seiner fanatischen Liebe für das Licht und seine Wirkungen fand er das meiste, was man ihm zeigte, »zu schwarz«. Eine tiefe Abneigung aber empfand er gegen alle, die »Ideen« zu malen suchten und die er »die Ideologen der Malerei« zu nennen pflegte. Ich erinnere mich, daß wir einmal von Hogarth sprachen, und daß er mir sagte: »Der Maler soll nicht denken, sondern denken machen.« In solchen Momenten versandte er die Worte ganz kurz, wie ruckartig abgesandte Pfeile, und seine schwarzen, funkelnden Augen schienen mit behaglicher Ironie die Wirkung des Geschosses zu verfolgen.

Ich habe nicht die Absicht, über sein Lebenswerk zu urteilen und Pissaros Stellung innerhalb der impressionistischen Schule zu zeigen, die eine rein französische Schule ist, und nur in einem Lande erstehen konnte, 245 in dem das Licht mit so heiterer Fülle und so wechselndem Zauber alles Körperliche umspielt. Aber wenn man die drei großen impressionistischen Landschaftsmaler, wenn man Monet, Sisley und Pissaro miteinander vergleichen will, dann scheint mir Monet den größten Schwung und die größte Phantasiekraft, Sisley die größte Poesie und Pissaro die größte Wahrhaftigkeit zu besitzen. Monet ist in den besten Bildern seiner zweiten und dritten Epoche ein machtvoller Poet, Sisley ist ein unendlich feiner Lyriker, der von der »Grazie des dix-huitième siècle« geerbt hat, Pissaro ist ehrlich bis zur Selbstkasteiung. Vielleicht sind die Bilder Monets und Sisleys oft reizvoller als die Bilder Pissaros – aber Monet und Sisley haben sehr oft ihre Stimmung in die Landschaft hineingelegt, und Pissaro ist immer bemüht gewesen, die Stimmung herauszuholen.

Im vergangenen Sommer, an einem Julitage, besuchten wir den Alten in Havre. Er hatte sich dort eingemietet, natürlich am Hafen, und wir fuhren mit dem Dampfer von Trouville hinüber, um ihm die Hand zu drücken und ein paar Stunden mit ihm zu verleben. Wir saßen mit ihm an der Bucht, in der die Sportsleute von Havre gerade eine Segelregatta abhielten, durchwanderten die Stadt und hörten zu, wie er den schmutzigen Hafen pries und wie er alles lustig fand: das Aus- und Einfahren der großen Schiffe, das Pfeifen, das Knarren der Krahnketten und das Geschrei der Fuhrleute. Als es Abend wurde, begleitete er uns zum Dampfer und stand dann auf dem Quai, ironisch schmunzelnd, als wollte er sagen: »Fahrt nach eurem öden Trouville – ich bleibe hier, auf diesem Ufer, wo 246 man in jeder Sekunde die Vollkraft des Lebens spürt!« Er winkte mit dem schwarzen Schlapphut, der Wind wirbelte seine weißen langen Haare ein wenig durcheinander, und sein herrlicher, unvergeßlicher Kopf erschien zwischen all den rußigen Galgengesichtern wie der Kopf eines alten Balladenkönigs. Er ist nicht mehr lange auf dem Ufer des Lebens geblieben. 247

 


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