Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Eugène Carrière

(1906)

Ein tragisches Ereignis, das man seit langem erwarten mußte, ist gestern eingetreten; ein wundervoller Künstler, ein rastlos schöpferischer Geist, ein großer, mutiger, verehrungswürdiger Mensch ist gestern gestorben. Eugène Carrière ist, sechsundfünfzig Jahre alt, dem Krebsleiden erlegen, das seinen Körper zerfressen, aber seine starke Seele nicht zu erschüttern vermocht hatte. Seit fast drei Jahren wußte Carrière, daß der Tod ihm mit raschen Schritten näher und näher komme, und ohne mit der Wimper zu zucken, hat er, unablässig schaffend, den Kommenden erwartet. Er war zweimal operiert worden, und seine Freunde erzählen, daß er kurz vor und kurz nach diesen Operationen kaum an sein Leiden dachte und in seltsam heiterer Seelenruhe den Blick auf ganz andere Fragen gerichtet hielt. Als er sich nicht mehr bewegen und nur noch mit leiser, glanzloser Stimme sprechen konnte, liebte er es, seine Freunde um sich zu versammeln, Musik und den Klang der Worte und alle Äußerungen des gesunden Lebens 248 zu vernehmen. Und seine ruhige Gelassenheit war kein philosophisches Gaukelspiel, keine Heldenmaske, keine Stoikerpose – es war die Gelassenheit eines innerlich gefestigten Mannes, in dem der Gedanke so stolze Schwingen hat, daß er frei und königlich zu den Höhen emporsteigen kann.

Carrière war in Gourney, nicht weit von Paris, geboren, aber er verbrachte seine Jugend in Straßburg. Während des Krieges geriet er als junger Soldat in Gefangenschaft, wurde nach Dresden geführt und hatte dort Gelegenheit, in den Galerien die alten Meister zu studieren, unter denen Rubens ihn vor allen anderen begeisterte. Er besuchte dann später die Ecole des Beaux-Arts in Paris, arbeitete unter der Aufsicht des akademisch langweiligen Cabanel und wurde nicht einmal eines »Prix de Rome« für würdig befunden. Er verheiratete sich früh, lebte als der treueste Familienvater zwischen seiner Frau und seiner stetig sich mehrenden Kinderschar und malte, außer einigen Freunden, außer Daudet, Verlaine und Goncourt, nur immer wieder seine Frau und seine Kinder. Zuerst malte er sie mit den kecken, fröhlichen Farben des Franz Hals, und alle Bilder seiner ersten Periode sprühen und leuchten in warmem Sonnenglanz. Dann verzichtete er auf all die äußere Sonne, auf jeden Farbenreiz, hüllte seine Gestalten in ein rinnendes, hundertfach abgetöntes Nebelgrau und schuf sich jene herbe und scheinbar melancholische Art, die man so lange »monoton«, »gesucht« und »maniriert« genannt hat, bis man ihren Sinn und ihre tiefe Schönheit begriffen.

Es sind, soviel ich weiß, von Carrières besten und 249 größten Werken nur sehr wenige oder gar keines nach Deutschland gekommen, und während in unseren Ausstellungen tausend französische Stümpereien gezeigt werden, ist bei uns ein Maler fast unbekannt, der Unvergleichliches geschaffen. Wenn man Carrière kennen lernen und begreifen will, dann muß man nicht bei ein paar Porträts, nicht einmal bei seinen Kinderbildnissen beginnen, sondern man muß zuerst jene Bilder vor Augen haben, die in Frankreich unter dem gemeinsamen Namen »Maternités« berühmt sind. Auf diesen Bildern sieht man, immer in rinnenden grauen Nebelschleiern und grau in grau getönt, die Mütter, die ihren Liebling ans Herz drücken, ihn nähren, ihn mit sorgenvollem Ernst oder mit glückseligem Lächeln betrachten. Es gab besonders in den letzten Herbstsalons zwei dieser Bilder, die ich damals zu schildern versucht habe – denn man kann nur versuchen, sie zu schildern. Im Herbstsalon von 1904 sah man eine »Maternité« von unsagbar schmerzlicher Innigkeit: eine Mutter, deren Blicke über das runde Köpfchen des Säuglings hinweg in die graue Zukunft zu wandern schienen, und die in der Ahnung einer unfaßbaren Tragik ihr Kind mit bebenden und schützenden Armen umklammert hielt. Und 1905 folgte der Hymnus der heitersten, glücklichsten Mutterfreude, ein Bild voll unterdrücktem Jubel, voll stillem Jauchzen, voll seligem Lebensvertrauen, ein Bild, in dessen grauer Atmosphäre mehr Sonne verborgen war als auf den funkelnden Gemälden aller lichtspendenden Sonnenmaler.

Ich möchte nicht in den Verdacht kommen, mit Superlativen zu prunken, aber ich glaube, daß noch nie, von 250 keinem Künstler und zu keiner Zeit, die letzten Geheimnisse des Mutterherzens und die feinsten Schwingungen der Seele so auf einem Bilde ausgedrückt worden sind wie auf den »Maternités« Carrières. Über die »Technik« Carrières mögen die Kunstgelehrten denken und sagen, was sie wollen – aber noch nie hat ein anderer so, mit solch unendlicher Hingebung und so hoch gesteigertem Feingefühl, die seelische Gemeinschaft zwischen Mutter und Kind zu belauschen und darzustellen verstanden. Man meint, in diesen Bildern ein Klingen zu hören, und es ist die Seele, deren Klingen man leidvoll und freudvoll zu hören meint. Vielleicht ist die Art Carrières noch mehr der Bildhauerkunst als der üblichen Farbenkunst verwandt. Die Debatte über die Mittel wird gleichgültig, wenn die erzielte Wirkung so einzig und so herrlich ist.

Aber je mehr man die »Maternités« betrachtet, und je genauer man das Schaffen Carrières überblickt, desto mehr begreift man auch, daß die angebliche »Manier« – das Grau in Grau – dem großen Ziele diente, das Carrière verfolgte. Carrière hätte seine Bilder mit lachenden Farben durchleuchten, er hätte, wie sein Freund Claude Monet, das Licht in seinen tausend Nuancen auf die Leinewand bannen können, aber ihn lockte etwas anderes. Carrière ging dem inneren Lichte nach, er wollte dieses innere Licht in voller Kraft und Schönheit hervorstrahlen lassen, und darum unterdrückte er alles, was die Offenbarung dieses Lichtes beeinträchtigen konnte. Er unterdrückte allen äußeren Farbenglanz, unterdrückte alles, was das Auge fesseln und die Sinne ablenken mußte, und er schuf sich diese 251 graue nebelhafte Luft, in der – wie ein feiner Rauch an Oktobertagen – die Seele nur ganz langsam vorüberzieht. Dort, wo er diesem geheimnisvollen Vorgang nicht nachspürt, erscheint seine graue Malweise nicht notwendig und wirklich ein wenig monoton. Aber neben seinen »Maternités« und den besten seiner Porträts werden alle farbenfrohen Bilder immer nur kalt und nüchtern erscheinen.

Carrière war mit Claude Monet und mit Rodin intim befreundet; er verkehrte mit Anatole France, mit Zola und mit Georges Clémenceau – und allen, die zu ihm kamen, galt er als ein unerschöpflicher Anreger, als einer der reichsten Geister unserer Tage. Sein Wissen erstreckte sich auf fast alle Gebiete, und immer waren seine Ideen selbständig und frei von jeder Schablone. Er hat ein paar umfangreiche Bilder gemalt – einen »Christus« und ein »Volkstheater« – und er wünschte sehr, sich in dekorativen Wandgemälden zu versuchen. Schwerlich wäre seine Malerei geeignet gewesen, einen Festsaal zu schmücken, aber in einem stillen Studierzimmer oder in einem Musiksalon hätte sie wunderbar wirken müssen. Es war viel von der großen klassischen Musik in Carrières Malerei.

Einer seiner Freunde, der ihn wenige Tage vor dem Ende auf dem Krankenlager gesehen, erzählt mir, daß Carrière ihm gesagt: »Je älter ich werde, desto einfacher erscheint mir das Leben.« Mit diesem tiefen Worte hat der todkranke Künstler sagen wollen, daß alles im Leben auf ein paar Grundwahrheiten beruhe, und daß all die kleinlichen Torheiten, Eitelkeiten und Sorgen nur ein Ausputz seien, den wir sinnlos 252 zusammentragen. Er hat auch sagen wollen, daß es nicht lohne, um so hohler Begriffe willen feige Kompromisse zu schließen und ein Tipfelchen der eigenen Persönlichkeit zu opfern, und er ist niemals bereit gewesen, etwas von seinem Selbst zu verleugnen. Er hat immer den Mut gehabt, all seine Gedanken bis ans Ende zu denken und nach ihnen zu handeln, und alles Kleinliche ist an seinem Panzer wirkungslos abgeglitten. Er war ein großer, stolzer Künstler und ein großer, stolzer Mensch, und groß und stolz, ohne schwächliche Demut, ist er gestern gestorben. 253

 


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