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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Das Piratenboot

Die Sonne schien hell durch mein rundes Fenster, als ich erwachte. Ich sah nach der Uhr; es war schon halb neun. Schnell sprang ich auf und kleidete mich, an; dann klopfte ich an die Wand meiner Nachbarin.

Sind Sie schon auf?

O ja, klang es zurück.

Schön. Dann gehen wir wohl gleich an Deck?

Sehr gern. Ich bin bereit.

Im nächsten Augenblick war ich an ihrer Tür, und sie trat heraus.

Ich küßte ihr die Hand. Haben Sie gut geschlafen?

Viel besser als ich gedacht habe, erwiderte sie in überraschend munterem Ton. Ich lag ebenso bequem wie in meinem Bett auf der Gräfin Ida.

Na, das freut mich herzlich. Sie sehen auch ganz anders aus wie gestern, lächelte ich sie an. Die Ruhe scheint Ihnen gut getan zu haben.

Das hat sie auch. Ich fühle mich viel kräftiger und freue mich auf die frische Morgenluft. Vielleicht begegnen wir heute einem Schiff. Kommen Sie, ich kann es schon gar nicht mehr erwarten, auszuschauen.

Oben traten wir in einen herrlichen Morgen. Die See glänzte wie Feuer unter der Sonne, und eine angenehme Brise schwellte alle Segel. Die Bark furchte im Fluge die glatte Fläche des Ozeans und wirbelte zu ihren Seiten Schaumlinien auf, die wie dicht verbundene Flocken weißer Watte an dem Kupferbeschlag der Wände entlang nach hinten rollten. Die ganze Seefläche glich einem Kristallspiegel; ein Blick genügte, sie bis zu ihren äußersten Rändern zu überschauen, und dieser Blick ließ mich sogleich in der Ferne vor uns ein Segel wahrnehmen, das anscheinend denselben Kurs verfolgte wie wir.

Sehen Sie doch, rief ich freudig, den Arm ausstreckend – ein Segel!

O Gott, jubelte sie, in die Hände schlagend, wenn das die Gräfin Ida wäre!

Ja, wenn ich doch sagen könnte, sie ist es, erwiderte ich voller Mitleid, ihre Hoffnung zerstören zu müssen, aber sie ist es keinesfalls. Das Fahrzeug ist viel zu klein. Der Kapitän wird uns bestimmtere Auskunft geben können, kommen Sie, wir wollen ihn begrüßen.

Guten Morgen, Herr Kapitän, redete ich ihn an, als wir uns ihm genähert hatten, was halten Sie von dem Segel dort?

Guten Morgen, erwiderte er freundlich, seine Mütze lüftend. Hoffe, daß Sie gut geschlafen haben, Madam.

Danke, ja. Ich habe durch Ihre gütige Fürsorge vortrefflich gelegen. Aber, bitte – was mag das für ein Schiff sein?

Ist kein Schiff, Madam; ist kein Schiff. Scheint nur ein großes Boot zu sein.

Nichts als ein Boot? klang es schmerzlich enttäuscht zurück.

Nichts anderes. Werden es übrigens bald genau wissen, da wir es in kurzer Zeit einholen müssen.

Wäre es denkbar, daß es der Kutter der Korvette ist? fragte sie mich gespannt.

Nein, das ist ausgeschlossen. Der Kutter hatte kein Segel und war auch mindestens um die Hälfte kleiner als jenes Boot.

Sie sprechen von einem Kriegsschiffkutter? erkundigte sich der Kapitän mit auffälliger Neugier.

Ja.

Wieviel Mannschaften führte er?

Sechs Mann.

Er betrachtete eine Weile das Boot durch das Teleskop. Dann fragte er auf einmal: Haben Sie schon gefrühstückt?

Noch nicht.

Dann will ich Ihnen Wilkins sogleich schicken. Ich habe schon gefrühstückt, bedaure daher, Ihnen keine Gesellschaft leisten zu können, doch ich muß jetzt hier oben bleiben.

Hiermit schritt er nach der Küche und wir begaben uns nach unten.

Wilkins ließ nicht lange auf sich warten. Er brachte Tee, Kaffee, Zwieback und kaltes Fleisch. Das Getränk war ja nicht gerade verführerisch, indessen die Not der letzten Zeit hatte uns genügsam gemacht, und so ließen wir es uns schmecken.

Eigentlich glaube ich, ist der Kapitän im Grunde doch ein ganz vorzüglicher Mensch, sagte ich, wacker kauend. Wir hätten in schlimmere Hände fallen können; ein anderer Kapitän würde vielleicht nicht halb so viel Fürsorge gehabt haben wie dieser absonderliche Kauz.

Sie gab das zu, kam aber bald auf andere Dinge und plauderte so heiter, wie ich sie seit unserem Besuch auf der Korvette noch nicht wieder hatte sprechen hören. Auch ihr Aussehen war heute ein ganz anderes, denn abgesehen von der Frische, die ihr der gesunde Schlaf verliehen hatte, war es ihr durch ein unbegreifliches Kunststück gelungen, auch ihren zerknitterten Anzug zu glätten und ihm beinahe sein früheres Ansehen zu geben. Ich konnte mich nicht enthalten, ihr darüber Komplimente zu machen, und war auf dem besten Wege, ihr alle möglichen schönen Dinge zu sagen; sie wußte dies aber zu verhindern, indem sie vorschlug, wieder nach dem Boot zu sehen.

Zu meiner Verwunderung fand ich den Kapitän jetzt in einer gewissen nervösen Aufgeregtheit. Er sprach mich sogleich an: Bitte, nehmen Sie doch einmal das Teleskop und betrachten Sie das Boot. Ich werde nicht klug daraus und möchte wissen, welchen Eindruck es auf Sie macht.

Die unter der frischen Brise wie eine Möwe dahinschießende Bark war, während wir unten gefrühstückt hatten, dem Boot beträchtlich nähergekommen. Das Teleskop zeigte es mir jetzt so deutlich, daß ich jede Einzelheit zu erkennen vermochte.

Es war ein breites, tief im Wasser gehendes Großboot, das mit Männern fast überfüllt schien. Es zählte siebenundzwanzig Köpfe mit teils gelben, teils beinahe schwarzen Gesichtern, die uns alle zugekehrt waren und uns offenbar scharf beobachteten. Dies hätte mich weniger verwundert, doch der auffallende Anzug der Kerle: die schlappenden Sombreros, rote Hüftenschärpen, grellfarbige Hemden und andere Einzelheiten ließen mir die Gesellschaft höchst verdächtig erscheinen. Teufel auch – ein richtiges Piratennest! dachte ich und wandte mich dem Kapitän zu: Die Bande gefällt mir gar nicht. Ich möchte wetten, daß sie zu der Mannschaft der Seeräuberbrigg gehört, von deren Wrack Sie uns gestern abholten.

Genau mein Gedanke, rief er, das Glas wieder an die Augen setzend. Jeder Kerl ein blutiger, bis an die Zähne bewaffneter Teufel und gierig, meine Blanche zu entern. Beim Himmel aber, schrie er auf einmal mit wild rollenden Augen, da sollen sie meinen Vordersteven zu kosten kriegen und Wasser saufen lernen! – Doch, fuhr er, plötzlich wieder ruhig geworden und sinnend fort, am Ende fehlt es den Menschen an Trinkwasser, und das müßte ich ihnen geben. Aber wie? Beidrehen und ihnen auf diese Weise die beste Gelegenheit zum Entern zu geben, das kann ich nicht.

Nein, das dürfen Sie unter keinen Umständen, erklärte ich bestimmt. Wir müssen in voller Fahrt bleiben. Es handelt sich hier nicht allein um Ihr Schiff, sondern um unser aller Leben, und namentlich auch um das der jungen Dame hier. Glauben Sie dem Gesindel gegenüber Menschenfreundlichkeit üben zu müssen, nun gut, dann sprechen Sie das Boot im Vorüberfahren an, und wenn es sich herausstellt, daß die Insassen Wasser brauchen, so lassen Sie einige Fässer über Bord werfen; die Kerls werden sie dann schon auffischen. Mehr dürfen Sie unserer Sicherheit wegen keinesfalls tun.

Da haben Sie recht, nickte er, wie im Selbstgespräch vor sich hinmurmelnd. Und gelingt es ihnen auch wirklich, sich festzuhaken, so ziehe ich sie bei der schnellen Fahrt, die wir haben, sicher unter Wasser.

Von diesem Gedanken anscheinend völlig beruhigt, sprang er auf einmal mit der Behendigkeit eines Affen auf die Reling, wo er sich an einer Pardune festhielt, – bereit, im Vorüberfahren das Boot anzurufen.

Alle Leute hatten ihre Arbeit verlassen und standen neugierig an der Schanzbekleidung. Ich erbat mir vom Kapitän nochmals das Glas und kam immer mehr zu der Ueberzeugung, daß wir einen Teil der Besatzung der Piratenbrigg vor uns hatten. Jedes Gesicht, das ich musterte, zeigte den Ausdruck von Wildheit, und selbst den Glanz des fettigen schwarzen Haares vermochte ich zu unterscheiden; einige der Burschen trugen große Ohrringe. Ein baumlanger Kerl, mit einem roten türkischen Fes auf dem Kopfe, den einen Arm um den Mast gelegt, stand auf der Duchte, durch welche dieser gesteckt war, und schien dem Steuermann Weisungen zu erteilen, während er unverwandt den Blick auf uns geheftet hielt. Aus den leicht schlängelnden Bewegungen der Bootsspitze schloß ich auf die Absicht, uns plötzlich schräg anlaufen zu wollen. Doch machte mir das keine Sorge, denn unser scharfer Steven durchschnitt das Wasser wie die Schere ein Stück Segeltuch, und eine einzige kleine Drehung am Rade hätte genügt, das Boot in den Grund zu bohren und alle Insassen zu ersäufen.

Auf Anrufweite gekommen, schrie Kapitän Braine mit einer Stimme, die ich dem schmalschultrigen Manne nicht zugetraut hätte:

Boot ahoi!

Der Mann am Bootsmast schwenkte sogleich seinen freien Arm und antwortete in gebrochenem Englisch: Wir seind schiffbrüchig! – Ihr uns aufnehmen. – Nix Wasser – nix Essen!

Eine Weile starrte der Kapitän auf das Boot, wie wenn er nicht wüßte, was er sagen sollte, dann brüllte er:

Wie lange treibt Ihr schon?

Diese Frage wurde offenbar nicht verstanden, denn der Kerl am Mast schüttelte so heftig mit dem Kopf, daß seine Mützentroddel nach allen Seiten flog. Darauf schwenkte er abermals den Arm und wiederholte:

Ihr uns aufnehmen! Wir am Verdursten!

Inzwischen war das Boot dem Backbordbug bis auf Pistolenschußweite nahegekommen, und nun flog es mit einer plötzlichen Bewegung seiner Spitze heran, indem einer der Kerls einen langen Bootshaken mit der offenbaren Absicht vorstreckte, diesen in die Bark einzuschlagen.

Gott, o Gott! kreischte Fräulein Temple, sie werden an Bord kommen!

Im selben Augenblick, wo sich der Bootshaken in eine der Jüttingen Eiserne Stangen, die außenbords angebracht sind und zur Befestigung der Wanten und Pardunen dienen. festhakte, und das Boot sich längsseits drehte, schrie der Kapitän dem Mann am Rade zu: Ruder fest! Nicht abgieren! Und gleichzeitig fluchte eine Stimme, die ich als die Wetherleys erkannte, den Mann mit dem Bootshaken an: Laß los, du Hund!

Dabei sauste eine meterlange eiserne Hebestange nach unten und traf den Mann so wuchtig vor den Kopf, daß er wie ein Klotz hintenüber ins Boot schlug und fast im nämlichen Moment ging der Bootsmast, erfaßt von der untern Raa unseres Großmastes, krachend über Bord. Gellendes Geschrei, untermischt mit spanischen Flüchen, schallte zu uns herauf. Mit verzweifelter Anstrengung versuchten die Banditen wie wilde, ihre Beute anspringende Bestien jeden nur greifbaren Gegenstand an unserer Schiffsseite zu packen. Doch vergeblich. Der schnelle Lauf unserer braven Bark ließ die Teufel keinen Halt gewinnen. Als sie am Steuer des Bootes vorüberschoß, krachte plötzlich ein Schuß. Der Steuermann des Bootes, ein Mulatte mit echtem Galgengesicht, hatte ihn auf den Kapitän abgegeben, der noch immer auf der Reling stand.

Das alles spielte sich in viel kürzerer Zeit ab, als sich erzählen läßt. Es war bloß ein Augenblick; im nächsten sahen wir nur noch, wie die Piraten unter wildem Geschrei mit den Armen hinter uns her drohten und ihren Mast aufzufischen suchten.

So kurz die Zeit des Zusammenstoßes aber auch gewesen war, hatte ich doch gesehen, daß das Boot mehrere Wasserfässer und Säcke mit Proviant enthielt. Not hieran hatte den Anfall also nicht veranlaßt; er war ein richtiges Seeräuberstückchen.

Während all der Aufregung, die der Vorfall mit sich brachte, bewahrte der Kapitän eine eisige Ruhe. Auch jetzt stand er noch, wie aus Stein gehauen, auf der Reling und starrte in Gedanken versunken nach dem immer kleiner werdenden Boot.

Sind Sie verwundet? fragte ich, zu ihm tretend.

Er drehte sich langsam um und erwiderte, indem er gemächlich herabstieg:

Nein. Der Mordbube traf mich nicht. Es ist jetzt das viertemal in meinem Leben, daß auf mich geschossen wurde. Mag mein Ende sein wie es will, so viel scheint mir sicher, daß ich nicht durch die Kugel eines andern umkommen werde. Aber Schurken, doppelt destillierte Schurken waren sie alle miteinander, fuhr er, wieder nach dem Boot blickend, fort. Meine kleine Blanche wollten sie mir nehmen und uns allen die Hälse abschneiden! Ach, diese verruchten Bösewichter! Ja, so ein Schiffchen mit Beinen wie die eines Rennpferdes und dem harmlosen Aussehen eines ehrlichen Handelsschiffes hätte ihnen wohl gepaßt für ihr Geschäft. Und alle hätten sie kaltblütig massakriert, nur Sie nicht, Madam, vermute ich. Doch nur, um Sie für ein schlimmeres Geschick aufzusparen, als der Tod für Sie gewesen wäre, wenn anders Ihr edles Aeußere Ihre Ansichten über diesen Punkt nicht Lüge straft.

Mir wurde brühsiedeheiß bei diesen Worten, und schon hatte ich auf der Zunge, ihm sein unpassendes Benehmen ernstlich zu verweisen, als er – die geballte Faust drohend nach dem Boot schüttelnd – grimmig auflachte: Haha – erschießen wolltet Ihr mich, Ihr Mordbande? Oho, meine Zeit ist noch nicht gekommen! Mein Werk ist noch nicht vollbracht! – Aber, sehen Sie, wandte er sich plötzlich völlig ruhig und in ganz anderer Tonart zu mir: Falls der Schuß mich getroffen hätte, so würde meine Blanche jetzt ohne Führer sein, wenn Sie nicht an Bord wären. Es ist einmal nicht anders, ohne wenigstens zwei sachverständige Köpfe kann kein Ozeanschiff sein. Der mürrische unverständige Affe, der Lush, weiß sich am kleinen Finger nicht Rat. Mit ihm allein wäre das Schiff sicher eine Beute der Piraten geworden. Na, fügte er mit seinem freudelosen Lächeln hinzu, die werden uns nicht mehr beunruhigen.

Damit schritt er in seiner plötzlichen Art davon, um wieder Ordnung auf dem Schiff zu schaffen, denn der Vorgang hatte alle Arbeit ins Stocken gebracht, und die Leute standen noch immer, das Ereignis lebhaft besprechend, in Gruppen umher. Auch für Fräulein Temple und mich bildete es jetzt das nächstliegende Gespräch, dann sagte sie:

Zweierlei weiß ich nun ganz genau. Das eine ist, daß Kapitän Braine wirklich total wahnsinnig ist, und das andere, daß er fest entschlossen ist, Sie an die Stelle des verstorbenen Maats zu setzen.

Ich gebe zu, stimmte ich bei, daß auch ich ihn jetzt für geistig kränker halte, als ich es bisher tat, denn sein Wesen und seine Sprache waren teilweise erschreckend. Was aber die Maatangelegenheit betrifft, so denke ich so: Ist er wirklich verrückt, so kann er bei seinen Berechnungen Fehler machen und uns wer weiß wohin führen. Deshalb halte ich es für alle Fälle notwendig, ihn in seinem Tun kontrollieren zu können. Das aber vermag ich nur, wenn ich ihm gefällig bin und zusammen mit ihm arbeite.

Ah so; ich verstehe, nickte sie nachdenklich. Daran hatte ich nicht gedacht. Aber es ist doch ein schrecklicher Gedanke, sich in den Händen eines Verrückten zu wissen, den man fortwährend beobachten muß, um nicht noch weiter in ganz unabsehbares Unglück zu geraten. Gott, o Gott, Herr Dugdale, wann werden unsere Leiden enden?

Ja, das weiß Gott allein. Jedenfalls aber werden Sie jetzt einsehen, daß unsere Sicherheit meine ganze Wachsamkeit erfordert, und Sie nicht mehr ärgerlich werden dürfen, wenn ich mich auf seine Bitte hin bereit erkläre, mit ihm die Sonne zu schießen, wie der Seemann sagt.

Sie sprechen gerade so, als ob Sie sich um meine Meinung kümmerten.

Na, ich dächte, Sie verständen es doch recht gut, Ihrer Meinung Geltung zu verschaffen. In der Kraft, Ihrem Willen Nachdruck zu verleihen, haben, glaube ich, Ihre Augen nicht ihresgleichen.

Sie wollen doch nicht mit mir zanken? sagte sie so sanft und mit, einem Blick so voller Lieblichkeit, daß ich ganz wirr wurde und mein blutübergossenes Gesicht der See zuwenden mußte, um sie nicht erkennen zu lassen, was in mir vorging und wie mein Herz hämmerte. Ich vermochte ihr nur murmelnd zu antworten:

Wenn wir uns zanken, wird es nicht meine Schuld sein.

Es war wieder einmal ein Moment, wo ich unter dem faszinierenden Eindruck ihrer Augen fast die Besinnung verlor. Sehr gelegen kam es mir daher, als jetzt der Kapitän rief: Herr Dugdale, könnte ich ein Wort mit Ihnen sprechen? und dadurch unser Gespräch abgebrochen wurde.

Mit Vergnügen, antwortete ich. Worauf sie sagte:

Ich werde inzwischen in die Kajüte gehen; hier ist es zu heiß. Sie kommen dann hinunter und erzählen mir, was er gewollt hat.

Als ich beim Kapitän anlangte, glaubte ich in seinem Gesicht eine gewisse Verlegenheit zu erkennen. Ich hatte mir vorgenommen, ihm zu verstehen zu geben, daß er alles, worin ich ihm willfahren würde, nur als Gefälligkeit oder einen Ausdruck meiner Dankbarkeit anzusehen hätte. Dies wurde mir auch um so leichter, als er gewissermaßen zaghaft fragte, ob ich wohl jetzt mit ihm unsere Breite und Länge bestimmen würde.

Versteht sich, erwiderte ich. Gern, wenn ich Ihnen damit dienen kann.

Das schien ihn zu freuen, denn schmunzelnd nickte er: Da will ich gleich die Instrumente holen, und lief hinunter. Im Umsehen war er wieder da. Jeder nahm einen Sextanten und begann seine Arbeit.

Ich fand mich schneller zurecht, als ich gedacht hatte. Die Messung machte mir keinerlei Schwierigkeiten und ich handhabte das Instrument, wie wenn ich es täglich benutzt hätte. Als wir fertig waren, bat er mich, in seine Kajüte zu kommen, um die Lage der Bark auszuarbeiten.

Der Wohnraum war klein, aber hell und freundlich. Seine Ausstattung bestand in einer Hängebettstelle, einem Tisch, auf dem eine halb aufgerollte Karte lag, mehreren Stühlen, einem mit Kissen belegten Kasten, einem Waschtisch, Chronometer, Kleiderrechen und zwei kleinen an der Wand befestigten Schränkchen, auf denen Bücher und verschiedene kleinere Gegenstände lagen. Alles in peinlichster Ordnung.

Wir setzten uns an den Tisch, wo er mir zunächst den gestrigen Kurs des Schiffes zeigte. Dann sagte er: Nun wollen wir sehen, ob wir ein gleiches Fazit erhalten.

Keiner von uns sprach mehr ein Wort. Emsig vertieften wir uns in unsere Berechnungen. Ich kam mir vor wie seinerzeit auf dem Kadettenschulschiff. Ab und zu warf ich einmal einen Blick nach dem Kapitän. Sein tief auf das Papier gebeugtes Gesicht trug einen beinahe schmerzlichen Ausdruck, so, als ob die geistige Anstrengung ihm physische Pein verursachte. Wir wurden fast gleichzeitig fertig. Der Vergleich ergab, dass die Berechnung der Breite auf die Sekunde stimmte, in der Länge aber etwa um sieben Meilen differierte. Wir suchten nach dem Fehler. Nach einer Weile jedoch schrie er, mit der Faust auf den Tisch schlagend: Sie werden recht haben! Sie werden recht haben! Ich erkenne, daß Sie mit den Kniffen der Rechnung völlig vertraut sind, ich lasse die Ihrige gelten. Nun aber noch eins: Wenn ich auch schreiben kann, so geht es mir doch ziemlich schwer von der Hand und nimmt mir immer viel Zeit. Würden Sie auch das Logbuch führen?

Das bedeutet also, lachte ich belustigt, daß Sie mich tatsächlich zu Ihrem ersten Maat machen wollen.

Er schwieg ohne mich anzusehen.

Nun, fuhr ich fort, ich bin einem Gentleman –

Bin kein Gentleman, unterbrach er mich.

Aendert nichts in meiner Anschauung, sprach ich lächelnd weiter. Ich bin also, wollte ich sagen, immer gern gefällig, zumal wenn mich Dankbarkeit verpflichtet. Und um diese, wenigstens zu einem kleinen Teil, abzutragen, will ich tun, was in meinen Kräften steht, und Ihnen, soweit Sie mir vertrauen, in der Schiffsführung beistehen. Freilich muß ich aber daran die Bedingung knüpfen, daß dieses Verhältnis für die Dame und mich nicht zu einem Hindernis wird, Ihr gastliches Schiff zu verlassen, sowie sich die erste Gelegenheit dazu bietet.

Er sah mich mindestens eine Minute stumm an, nickte mehreremal nachdenklich vor sich hin und erwiderte endlich: Darüber, Herr Dugdale, werden wir später sprechen.

Aber, guter Gott, Herr Kapitän, was soll denn das heißen? rief ich erregt. Ich verstehe Sie nicht. Sie können doch unmöglich die versteckte Absicht hegen, uns auf Ihrem Schiff festhalten zu wollen?

Wieder starrte er mich eine Weile schweigend an, ehe er mit dumpfer Stimme wiederholte: Später, Herr Dugdale, später! Damit erhob er sich.

Dann wünsche ich zu wissen, entgegnete ich ebenfalls aufstehend, was Sie sich unter diesem »später« denken.

Er faßte sich an die Stirn. Das weiß ich selbst noch nicht, muß erst klar sehen und dazu reiflich überlegen. Bitte, verlassen Sie mich jetzt. Ich habe das Bedürfnis, allein zu sein.

Er machte dabei ein so schmerzdurchgrabenes Gesicht, daß ich inniges Mitleid für ihn empfand und es vorläufig aufgab, weiter in ihn zu dringen. Ich verließ ihn deshalb, ohne etwas zu sagen und begab mich zu meiner Gefährtin.

Sie war natürlich sehr neugierig. Ich erzählte ihr aber nur von dem ersten Teil meines Zusammenseins mit dem Kapitän und der Art, wie ich mich erboten hatte, ihm gefällig zu sein. Alles übrige verschwieg ich einstweilen, da es sie nur von neuem geängstigt und niedergedrückt haben würde, wenn ich ihr gesagt hätte, daß wir nicht mit dem Kopf durch die Wand könnten und kein Mittel besäßen, unsere Ueberführung auf ein anderes Schiff zu erzwingen, falls der Kapitän nicht wollte. Es wäre mir das auch gerade gegenwärtig um so schwerer geworden, als ich sie verhältnismäßig heiter antraf.

Wir gingen bald wieder auf Deck, wo der Kapitän inzwischen ein Sonnendach hatte aufspannen lassen, unter dem wir ziemlich den ganzen Nachmittag verbrachten. Sie war mitteilsamer als je und weihte mich in ihre ganzen Familienverhältnisse, Lebensgewohnheiten und Passionen ein, deren größte das Reiten war. Bei der Hetzjagd der Meute zu folgen, war ihre höchste Wonne. In ihren Schilderungen immer lebhafter werdend, schien sie unsere Lage ganz zu vergessen. Aus allem konnte ich entnehmen, daß sie als einziges Kind ihrer Eltern sehr verwöhnt und verzogen war.

Im stillen wunderte ich mich, daß ein so schönes und obendrein reiches Mädchen nicht schon längst geheiratet hatte. Wartete sie auf einen Mann, dessen Liebe sie zu erwidern vermochte, oder trachtete sie nach Rang und Titel? Oder hatte sie vielleicht kein Herz? Das konnte ich mir bei ihren Augen, die oft so viel Gefühl und Leidenschaft verrieten, nicht denken. Es war ein wilder Kontrast zwischen den Vorstellungen, die ich mir nach ihrem Geplauder über ihre luxuriöse Heimat machte, und der uns umgebenden Wirklichkeit. Besonders scharf trat mir dieser entgegen, sobald der widerwärtige Kerl, der Lush, bei uns vorüberpendelte. Er war wirklich wie ein menschlicher Maulesel in seinem ewig mürrischen und tückischen Aussehen, und heute nachmittag schielte er mich noch viel verbissener und grimmiger an, als bei irgend einer Gelegenheit vorher. Es mochte wohl sein, daß er auf ein zwischen dem Kapitän und mir eingetretenes intimeres Verhältnis schloß, weil er mich mit diesem zusammen die Messungen hatte vornehmen sehen, und daß er deshalb den Haß, den er auf den Kapitän hatte, auch auf mich übertrug. So wenigstens dachte ich. Ich konnte ihm ja unrecht tun, aber gleichviel, jedenfalls flößte mir der Mensch ein instinktives Unbehagen ein.

Gegen Abend hatte sich Fräulein Temple in die Kajüte zurückgezogen. Ich schmauchte auf Deck meine Pfeife und betrachtete den wolkenlosen Himmel, den die Schatten der heranziehenden Nacht tiefblau und dunkel färbten. Ein großer Stern zitterte im Osten über dem Rande des Ozeans, während im Westen die Glut des Sonnenuntergangs noch über der See schwebte, in deren wundervolle Glätte die sanfte nordwestliche Brise matte Silberstreifen zeichnete.

Nicht weit von mir, abgesondert von allen anderen, bemerkte ich Wetherley, mit über der Brust verschränkten Armen auf dem Rahmen der Vorderluke sitzend. Er paffte nachdenklich aus seiner kurzen Tonpfeife; die Gelegenheit schien mir günstig, wieder ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen.

Ich schlenderte daher auf ihn zu.

Ah, guten Abend, Wetherley, redete ich ihn an, als ob ich ihn erst eben zufällig bemerkte. Ein schöner Abend, um behaglich seine Pfeife zu rauchen.

Stimmt, erwiderte er aufstehend, und machte einen Kratzfuß. Man muß die guten Stunden wahrnehmen.

Da haben Sie recht. Das ist alte Seemannsregel, und unser Freund Smallridge meinte das auch immer.

Wenn dies auch nur eine Redensart war, so führte sie doch auf den Ostindienfahrer und damit zu dem, was ich zunächst mit ihm reden wollte. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, wie ich mit Fräulein Temple auf das Wrack gekommen, was wir dort alles erlebt und wie wir nun fortwährend mit Ungeduld nach der Gräfin Ida oder einem andern Schiff ausschauten, das uns heimwärts bringen könnte.

Ja, da werden Se vielleicht noch lange Geduld haben müssen, meinte er. Das is halt, wie's gerade so kommt. Ich bin mal sechs Wochen in ziemlich befahr'nem Wasser gesegelt, ohne von 'nem Segel auch nur so viel wie 'n Möwenschwanz zu sehen.

Das wäre aber schrecklich für uns – besonders für die junge Dame, die nicht ein Stück Wäsche zum Wechseln hat.

Na, da drum braucht sich die Dame nicht groß zu grämen. Se wird doch wohl näh'n können; Nadel und Zwirn kann se von mir kriegen. Und wie viel Leinwand wird se denn brauchen? Ich dächt', 'n Tischtuch des Schiffers sollt's wohl machen.

Ich mußte lachen in dem Gedanken, was mein verwöhntes Fräulein für ein Gesicht gemacht haben würde, wenn es diese goldene Einfalt gehört hätte. Belustigt erwiderte ich: Das ist eine vortreffliche Idee. Ja, Seeleute sind immer praktisch. Uebrigens, denken Sie nur, ich soll auf einmal wieder Seemann spielen. Der Kapitän will mich durchaus zum Ersten Maat machen. Sie werden mich doch als solchen annehmen?

I nu, warum denn nich? Da wär' doch mal wieder 'n richtiger da.

Nun sagen Sie aber mal, Wetherley – im Vertrauen so ganz unter uns, ein Schiffsmaat zum andern – fehlt es dem Kapitän nicht hier oben ein bißchen? Dabei berührte ich meine Stirn.

Hm, wiegte er mit dem Kopf, könnt' wohl sein. Hab's schon gedacht, solange ich bei ihm bin.

Was ist denn die Meinung der andern darüber?

Ah, ba, schnippte er mit den Fingern, indem er vorsichtig umherblickte, ob die Küste auch klar sei, das Volk is zu dumm, das merkt nichts als höchstens 'n Grog, den man 'em unter de Nase hält.

Was Sie sagen! Ganz das Gegenteil habe ich geglaubt. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich nach Andeutungen, die mir der Kapitän machte, die ganze Mannschaft für gefährliche, schlaue, durchtriebene Burschen hielt. Er ließ mich durchblicken, daß es Meuterer und entlaufene Sträflinge wären, ja sogar einer darunter sei, der einen Mord begangen habe.

Er sah mich verwundert an, schob an seiner Mütze und kratzte sich hinterm Ohr. Na, da muß 'r mehr wissen wie ich. Meutert mögen wohl schon manche haben und auch sonst in ihrer Dummheit Unrechtes getan haben, ohne sich viel Gewissen draus zu machen. Es könn'n auch welche Sträflinge gewes'n sein. Kann sein, kann nich sein – aber seh'n Se, e Mord is doch 'ne schwere Sache! Wen mag er denn damit meinen?

Darüber hat er sich nicht bestimmt geäußert, Sie werden es aber begreiflich finden, daß, wenn ich mit der Dame bis Mauritius auf dem Schiffe bleiben muß, ich auch gern Bescheid wissen möchte, ob die Mannschaft wirklich gefährlich ist.

Ja ja. Das versteh' ich. Und ich will Ihnen auch meine ehrliche Meinung sagen. Sie würden mich ja nich drum gefragt haben, wenn Se mer nich trauten.

Gewiß nicht. Ich schenke Ihnen volles Vertrauen.

Na also – er sah sich erst wieder vorsichtig um – da will ich Ihnen sagen, zischelte er, einen Mann gibt es, der gefährlich werden könnte, und das is der Lush. Der, glaub' ich, wär' imstande, den Kaptän auf der Stelle niederzustechen, wenn's die andern zuließen. Er hat 'nen Haß auf ihn, das weiß ich. Und alles, was wahr is, er hat Grund dazu. Denn seh'n Se, wenn doch nu einer Maat spielen soll, da will 'r doch auch danach behandelt sein. Und der Lush, wissen Se, is 'ne empfindliche Seele, wenn er auch nur 'n einfacher Handwerker is. Der verträgt's nich, wenn ihm immer schlechte Manieren und Unbildung vorgeworfen werden. Und das tut der Kap'tän mit den beleidigendsten Schimpfworten. Ich, an seiner Stelle, würd's nich tun, denn gibt's mal wirklich Schwierigkeiten, dann wird ihm der Lush nich helfen. Dann kann's schlimm werden, das sag' ich Ihnen. Was aber die Mannschaft betrifft – na, da wüßt' ich wirklich nich, wer davon gerade gefährlich werden könnte. So weit ich se kennen gelernt habe, sind's alle stumpfe, roh zugehau'ne Jungens, die tun, was man ihnen sagt. Freilich kann man nicht wissen, wozu se sich verleiten lassen würden, wenn's dem Lush mal einfiele, sie aufzuhetzen, denn se halten was auf ihn. Und kommt's da mal zu was, und die Bande wird wild – na ja, seh'n Se, da weiß ma doch nich, was gescheh'n kann, und dessentwegen mein' ich, täten Sie gut, mit der schönen jungen Dame so bald als möglich von hier fortzumachen.

Diese Auslassung war zwar nicht sehr tröstlich, ich sah jedoch wenigstens etwas klarer. Ich dankte dem Manne für seine Offenheit und bat ihn, mich zu warnen, falls sich einmal irgend etwas anspinnen sollte, damit mich nichts unvorbereitet träfe. Darauf sprachen wir noch kurze Zeit über nautische Dinge, und als ich mich von ihm trennte, tat ich es in dem beruhigenden Bewußtsein, für den Fall der Not wenigstens einen Freund an Bord zu haben.

Den Rest des Abends verbrachte ich dann noch mit Fräulein Temple, der ich indessen von meinem Gespräch mit dem Bootsmann nur soviel mitteilte, als ich für gut hielt.


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