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Sechzehntes Kapitel.
Ich durchsuche das Wrack

Kurz vor Tagesanbruch flaute der Wind zu einem sanften Lüftchen aus Südwest ab. Die See blieb aber noch unruhig wogend. Der Nebel hatte sich in düstere niedrig hängende Wolken geballt – eine in der tropischen Dämmerung häufige Erscheinung.

Ich ging auf Deck, das Tageslicht zu erwarten, und auch Fräulein Temple trat in die Tür. Der Rumpf schlingerte noch tüchtig, jedoch nicht mehr in der gefährlichen Weise wie in der Nacht. Mein ganzes Herz – ein Flehen zum Himmel – lag in meinen Augen, als ein schwacher Schein aus Osten den Nebel zu durchbrechen begann. Doch grau in grau enthüllte sich der Morgen, mehr und mehr ließ er die See in häßlicher Bleifarbe und ringsum einen Regen verkündenden Horizont erkennen. Ganz das Bild eines düsteren Novembertages im englischen Kanal.

Mit atemloser Spannung ließen wir unsere Blicke über das Wasser schweifen. Keines von uns sprach ein Wort. Wieder und wieder suchte jeder die trübe Ferne zu durchdringen – aber umsonst.

Sehen Sie etwas? zitterte es endlich von den Lippen meiner Gefährtin.

Nein, es ist nichts in Sicht.

O, mir bricht das Herz! schrie sie auf.

Wir müssen warten, tröstete ich. Solch ein Wetter klärt sich oft rasch auf. Noch vor Mittag kann der Himmel blau und der Ozean eine glatte, glänzende Fläche sein, und dann werden wir die Schiffe sehen und sie uns. Uebrigens stehen wir auch sehr niedrig, vielleicht ist von der Höhe des Mastes etwas zu entdecken. Ich will einmal hinauf: halten Sie sich inzwischen gut fest – nein, tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich lieber wieder in das Deckhaus, Sie sind dort sicherer. Eine plötzliche scharfe Bewegung des Schiffes könnte Sie, bei der geringsten Unachtsamkeit, über Bord schleudern.

Schweigend und wie gebrochen wankte sie nach ihrem Platz zurück. Als ich sie dort geborgen sah, begab ich mich nach vorn.

Ich untersuchte den Fockmast, ob er noch sicher sei, stieg dann in die Wanten und erreichte die um den Topp des Untermastes laufende Platte. Einige noch stehende Fuß des zersplitterten Obermastes gewährten meinen Händen den nötigen Halt. Unter mir schaukelte die Fockraa in ihrem Rack, dem eisernen Bügel, der sie mit dem Mast verband.

Es war von hier oben ebensowenig zu sehen wie von unten. Die dicke Atmosphäre hinderte jeden weiteren Ausblick und würde ebenso undurchdringlich geblieben sein, wenn ich noch tausend Fuß höher hätte klettern können. Auf das Deck niederblickend, bemerkte ich, daß die Seiten der Vorderluke von dem Brande schwarz waren; die Reling am Galion war nach unten geknickt, die Schanze zeigte mehrere zerbrochene Pfosten, die Welle des Gangspills stand schief – alles trug den Charakter der Verwüstung. Es erschien mir wie ein Wunder, daß der alte Eimer so lange zusammengehalten und nicht seinen ganzen hohlen Bauch mit Wasser gefüllt hatte.

Ich warf noch einen sehnsüchtigen Blick ringsum, dann stieg ich hinab. Als ich aus den Wanten auf das Deck sprang, fiel mir die Schiffsglocke ins Auge, die dicht am Fockmast an einem Gestell hing. Besorgt, daß sie von neuem läuten und die Nerven des schon genügend niedergedrückten Mädchens noch mehr erregen könnte, hakte ich den Klöppel aus und warf ihn ins Wasser.

Als ich das Deckhaus wieder betrat, wandte sich mir das blasse, abgehärmte Gesicht der regungslos Dasitzenden mit einem so herzbrechend fragenden Ausdruck zu, daß ich nur ganz leise zu sagen vermochte: Nein, es ist nichts zu sehen.

O, das ist grausam, das ist grausam! schrie sie. Könnte es doch noch einmal gestern werden! Ich fürchte ja den Tod nicht, aber so sterben – in dieser fürchterlichen See ertrinken zu müssen, ohne daß irgend wer erzählen kann, wie ich umkam – das ist zum Wahnsinnigwerden!

Sie schluchzte mit trockenen Augen. Das Unglück versagte ihr die erleichternden Tränen.

Solcher Verzweiflung stand ich ratlos gegenüber. Es wollte mir das Herz abdrücken, das Mädchen so leiden zu sehen, ihm nicht helfen, sondern nur Trost zusprechen zu können, der sich auf nichts als vage Hoffnungen gründete. Ihr Aussehen war völlig verändert; die lange entsetzliche Nacht hatte ihre Spuren zurückgelassen. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, die Lippen waren blaß, das Haar hing ihr wirr um Stirn und Ohren, selbst ihr Anzug ließ die durchgemachten verzweiflungsvollen Stunden erkennen. Trotz alledem zeigte ihre Schönheit noch viel zu viel von dem hochfahrenden Charakter, den ich bisher an ihr kennen gelernt hatte. Alles Unglück hatte nicht vermocht, den hochmütigen Schnitt ihrer Lippen zu sänftigen, und wohl dies besonders war es, was mich nicht wagen ließ, zärtlichere Beschwichtigungen zu versuchen, obgleich mein Herz vor Mitleid schmolz. Ich betrachtete sie daher nur schweigend, bis sie endlich wieder mit tonloser Stimme sagte:

So sind wir also ganz machtlos und können gar nichts zu unserer Rettung tun?

Direkt allerdings nicht, trotzdem aber können wir inzwischen manches dazu tun, erwiderte ich, froh, sie wenigstens wieder sprechen zu hören. Vor allen Dingen müssen Sie Mut fassen und nicht vergessen, daß unsere Lage weit schlimmer sein könnte. Ich habe gefunden, daß das Wrack noch völlig schwimmkräftig ist. Sobald sich das Wetter aufklärt und wir wieder freieres Umsehen halten können, dürfen wir mit Bestimmtheit darauf rechnen, auf der von zahlreichen Fahrzeugen befahrenen Straße von irgend einem Schiff aufgenommen zu werden, falls wir wirklich nicht die Korvette oder unser eigenes Schiff in Sicht bekommen sollten. Ueberdies haben wir für lange Zeit Lebensmittel. Und so bleibt uns vorderhand nur übrig, geduldig zu sein, scharfen Ausguck zu halten, die Mittel vorzubereiten, um Notsignale geben zu können, und nichts zu versäumen, um uns bei Kräften zu erhalten. Und das erinnert mich, daß ich jetzt aus der Vorratskammer etwas Besseres als Schiffszwieback holen muß.

Eine Weichheit, die ich dem lebhaften Feuer ihrer Augen nie zugetraut hätte, lag in dem Blick, mit dem sie mich ansah, sie schwieg aber, und ich stieg die Treppe hinab.

Bei dem trüben Wetter war es unten so dunkel, daß ich ein Licht anstecken mußte. Außer Zwieback fand ich Käse, Obstmarmelade, ein Faß mit Pökelfleisch, zwei Fässer Mehl, einen Sack getrockneter Bohnen, ein Tönnchen Puderzucker und Wein im Ueberfluß, aber kein Wasser. All mein Suchen danach blieb vergeblich; vielleicht lagen noch einige damit gefüllte Fässer im Kielraum; vorläufig indessen mochte ich nicht so tief hinabsteigen.

Ich nahm einstweilen einige Teller, Messer und Gabeln, Käse, Zwieback und Marmelade. Lieber wäre es mir ja gewesen, ich hätte etwas zum Kochen Geeignetes wählen können, aber in Ermangelung von Wasser und Geschirr ging das eben nicht. Als ich durch die Kajüte schritt, glänzte das Licht auf verschiedenen Handwaffen, die an einem Gestell unter der Treppe hingen. Ich trat neugierig heran und betrachtete einige besonders schöne Dolche und Pistolen, von denen ich mir dies oder jenes Stück zum Andenken mitnehmen wollte, falls wir glücklich aus unserer Lage befreit würden.

Oben fand ich meine Genossin tief in Gedanken versunken. Sie merkte es kaum, als ich all die Lebensmittel neben sie auf den Kasten setzte. Ein zwar armseliges Mahl, sagte ich, doch werden wir auch mit solcher Nahrung unser Leben fristen können, bis wir erlöst werden.

Sie nahm mechanisch etwas Zwieback und Marmelade und trank auch ein wenig Wein, starrte aber dabei unablässig mit so verlorenem Ausdruck durch die offene Tür, als ob ihr Verstand in die Irre ginge und sie unsere Lage nicht mehr völlig begriffe. Mich erfaßte die schreckliche Besorgnis, daß sie wahnsinnig werden könnte.

Um ihre Gedanken abzulenken, zog ich mein Notizbuch hervor und zeichnete mit Bleistift einen Riß von der Lage der beiden Schiffe und des Wracks aufs Papier, nebst Pfeilen, welche die Richtung des Windes, und Zahlen, welche die ungefähren Entfernungen angaben. Dann erging ich mich – ihr immer während des Sprechens die Zeichnung erklärend – des langen und breiten über unsere Aussichten. Das interessierte sie, sie stand auf, setzte sich zu mir und beugte ihr Gesicht dicht neben dem meinen auf das Papier, um meinen Auseinandersetzungen besser folgen zu können.

Noch niemals war sie mir so nahe gewesen, außer an jenem stürmischen Tage, wo ich sie nach dem Hühnerkäfig getragen hatte. Damals aber war uns unsere Situation aufgezwungen worden. Ganz anders stand es jetzt; sie hatte sich aus eigenem freien Willen zu mir gesetzt; ich fühlte ihren warmen Hauch an meinen Wangen, der Duft ihrer Nähe erfüllte die Luft, die ich atmete. Das verwirrte beinahe meine Sinne. Ich sprach eifrig, um den Aufruhr meines Innern zu verbergen. Von heißer Glut war mein Gesicht übergossen, als ich endlich meine Ausführungen beendet hatte und etwas von ihr wegrückte, um mein Notizbuch in die Tasche zu stecken.

Offenbar angeregt von dem, was ich gesagt hatte, schien sie jetzt willig, näher darauf einzugehen, und blieb ruhig neben mir sitzen.

Wenn die Schiffe uns aber nicht finden, was dann? fragte sie lebhaft.

So findet uns sicher ein anderes.

Das fährt aber vielleicht nach einem Teil der Welt, der von Indien wie von England wer weiß wie weit entfernt ist.

Richtig. Das Schiff jedoch kann wieder einem anderen begegnen, das nach England segelt, und von dem wir uns dann aufnehmen lassen.

Wie trostlos! Auf diese Weise können wir ja Monate und Monate auf dem Ozean umherziehen.

Das müßten wir uns freilich gefallen lassen. Alles im Leben geht nur Schritt für Schritt, und vorderhand wollen wir froh sein, wenn wir zunächst aus diesem Wrack befreit werden.

O Gott! Und all mein Gepäck auf dem Ostindienfahrer! Nichts zu haben, als was man auf dem Leibe trägt! Sie sah dabei an sich herunter. Wie soll ich mich denn behelfen?

Ich lächelte. Machen Sie sich doch keine Toilettensorgen. Unser Erlebnis gewinnt durch alle uns auferlegten Entbehrungen nur an Romantik.

Na, wenn das Romantik ist, so mögen hinfort meine Tage, wenn Gott uns das Leben erhält, in der dumpfesten Prosa vergehen! lachte sie hart auf.

Wo wohl der Kutter mit Colledge jetzt sein mag? Lenkte ich das Gespräch auf ein anderes Thema.

Ja, das möchte ich auch wissen. Ich glaube nicht, daß Herr Colledge, wenn er hier an Ihrer Stelle wäre, Ihren Mut beweisen würde.

Es wundert mich, Sie das sagen zu hören. Er erfreute sich doch großer Bevorzugung von Ihrer Seite.

Nun ja, in gewisser Weise. Ich kenne einige Verwandte von ihm. Das gab verschiedene Anknüpfungspunkte, und da er ein netter Mensch ist, hatte ich ihn ganz gern. Ich wußte gar nicht, daß er verlobt ist.

Hat er Ihnen das mitgeteilt? fragte ich erstaunt.

Nein; ich sah es ihm aber an, als sein Vetter ihn ins Verhör nahm. Wissen Sie, wer die junge Dame ist? setzte sie in einem Ton hinzu, als ob sie die Sache im Grunde ein wenig interessierte.

Ich mochte nicht lügen. Da sie es selbst erraten hatte, beging ich an Colledge auch kein Unrecht, wenn ich nun den Namen seiner Braut nannte. Ueberdies erschien mir die Angelegenheit in unserer Lage auch viel zu geringfügig und nichtig, und ich antwortete daher ganz offen: Gewiß. Wir waren ja Kabinengefährten und Vertraute. Er zeigte mir ihr Bild – ein liebliches, anmutiges Gesicht. Ihr Name ist Fanny Crawley.

Sie blickte durch die offene Türe und schien mich kaum zu hören. Immer noch dasselbe abscheuliche Wetter, bemerkte sie. Die Sonne sieht aus wie flüssiges Blei. Sagen Sie, sind Sie während Ihrer Seemannszeit jemals in einer so gefährlichen Lage gewesen wie jetzt?

Sie ist sehr unangenehm, aber gefährlich wollen wir sie noch nicht nennen.

Wie lange waren Sie auf See?

Zwei Jahre.

Ist Ihr Vater Seemann?

Nein. Mein Vater ist tot. Er war Kapitän im 38. Infanterieregiment und fiel bei Burmah.

In ihren Augen schien ein gewisses Interesse zu erwachen. Mein Vater diente auch in der Armee, fuhr sie lebhafter fort, doch tat er nur wenig Dienst. Lebt Ihre Mutter noch?

Ja.

Sie schluchzte wieder tränenlos auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ach, meine arme Mutter! Meine arme Mutter! Wenn sie ahnte, in welch furchtbarer Lage ich mich befinde! Und sie sträubte sich so gegen die weite Reise, wollte mich gar nicht fortlassen! Ach, wie bin ich gestraft! Ein zitternder Seufzer entrang sich ihrer Brust. Dann versank sie wieder in düsteres Brüten.

Ich sah ein, daß alle Bemühungen, sie diesem zu entreißen, augenblicklich vergeblich sein würden, und begab mich auf Deck. Es begann stark zu regnen. Dies war mir ein wahrer Trost; denn da ich kein Trinkwasser gefunden hatte und es auch sehr zweifelhaft war, ob vielleicht im Kielraum noch einige Behälter voll vorhanden wären, beschloß ich, den Regen auszunutzen. Ich eilte nach unten, um nach Gefäßen zum Auffangen einer möglichst großen Menge des vom Deckhausdach herabströmenden Wassers zu suchen. Doch all mein Umherspüren in Kammern und Kabinen ließ mich keinen für diesen Zweck brauchbaren größeren Gegenstand entdecken. Ich mußte mich mit einigen, scheinbar noch ganz unbenutzten, leinenen Feuereimern, verschiedenen Krügen, leeren Flaschen und Blechgefäßen begnügen, doch für die äußerste Not war auch das schon eine wesentliche Hilfe. Mir zitterte das Herz, wenn ich bedachte, daß wir uns in den Tropen befanden, und die Hitze, selbst bei bewölktem Himmel, schon so groß war. Was sollte aus uns werden, wenn die frei über unserm Scheitel stehende Sonne ihre glühenden Strahlen niedersandte und wir keinen Tropfen Wasser hatten! Dieser Gedanke machte mich während des Suchens halb toll, und der Regen konnte ja jeden Augenblick aufhören. Ich raffte also hastig zusammen, was mir nur irgend brauchbar erschien, nahm zuerst die Leinwandeimer und hing sie unter dem Dach auf. Dann stürzte ich wieder und wieder zurück nach den Flaschen, Krügen und Blechgefäßen. Ich hetzte mich ab, daß mir der Schweiß von der Stirn tropfte, denn die Eimer erwiesen sich als nicht dicht genug, und ich mußte die andern Gegenstände alle erst ausspülen, ehe ich sie aus den Eimern füllte. Gott sei Dank, gelang es mir aber auf diese Weise, einen ganz schönen Vorrat Wasser aufzufangen. Nach endlich beendeter Arbeit ließ ich die Eimer in der Hoffnung, daß sich die Leinwand sättigen und schließlich nichts mehr durchlassen würde, hängen; sie sollten dann zum ersten Verbrauch dienen.

Alles, was ich hier in wenigen Zeilen beschrieben, nahm eine lange Zeit in Anspruch. Fräulein Temple sah mir zu und erbot sich, mir zu helfen, ich lehnte das jedoch ab, da ich sie der Nässe nicht aussetzen wollte.

Wird der Regen nicht das Schiff füllen und zum Sinken bringen? fragte sie in banger Besorgnis.

Dazu müßte es schon lange regnen, lachte ich. Jetzt will ich einmal die vorderen Räume inspizieren, und wenn möglich sehen, wie es im Kielraum aussieht. Wollen Sie mich begleiten? Das Schlingern hat so nachgelassen, daß Ihnen das Gehen nicht unbequem sein wird.

Ich täte es gern, aber wäre es nicht besser, ich bliebe hier für den Fall, daß die Schiffe in Sicht kämen?

Ach, leider ist ja beinahe Windstille eingetreten, und die Schiffe liegen wahrscheinlich ebenso fest wie wir. Außerdem wird auch, wie mir scheint, der Regen noch nicht so bald aufhören und daher nichts zu sehen sein. Jede Tätigkeit ist besser, als einsam hier zu sitzen und über Unabänderliches zu grübeln.

Ja, Sie haben recht, rief sie auf einmal in ganz verändertem Ton. Ich weiß eigentlich nicht warum, denn Sie können doch auch nichts sagen, was mir Hoffnung gäbe, aber Sie stimmen mich immer mutiger. Also gehen wir.

Diese Worte machten mich sehr froh und gewährten mir eine große Erleichterung. Ich erwiderte nichts, ergriff nur ihre Hand und half ihr die Treppe hinab. Am Fuße derselben stand sie erschreckt von der plötzlich ihr entgegentretenden Dunkelheit still. Ist es nicht furchtbar, sagte sie, wenn man bedenkt, daß noch vor wenigen Stunden der arme Leutnant, der sich so darauf freute, in die Heimat zurückzukehren, hier gescherzt und gelacht hat! Seine Stimme klingt mir noch im Ohr, und auch Colledge höre ich noch lachen. – Plötzlich schien sie gespannt zu horchen. Was ist das? Was sind das für Töne?

Ratten, antwortete ich gleichgültig.

Das Quieken klang schrill und scharf, als ob ein ganzer Haufen dieser ekelhaften Tiere etwas zerrissen hätte oder miteinander kämpfte. Ich zündete ein Licht an; furchtsam drängte sie sich an meine Seite. Halten Sie einen Augenblick das Licht, bat ich, ergriff aus dem unter der Treppe befindlichen Waffengestell einen kurzen Säbel und schleuderte ihn wie einen Wurfspieß nach der dunkeln Ecke, aus der das Gequiek kam. Eine riesige Ratte sprang mir über den Fuß; das Mädchen stieß vor Schreck einen Schrei aus und ließ das Licht fallen.

Aengstigen Sie sich nicht, beruhigte ich sie, indem ich ein Streichholz anstrich, das Licht aufhob und wieder anzündete, die Bestien flüchten in ihre Schlupfwinkel.

O, Herr Dugdale, rief sie mit einer Stimme, in der Furcht und Abscheu bebten, was soll ich tun? Ich wage nicht hier zu bleiben, und wage nicht oben allein zu sein. Es gibt doch nichts Widerwärtigeres als Ratten!

Da haben Sie ganz recht, mir sind sie auch scheußlich, zum Glück aber fürchten sie sich noch mehr vor uns als wir vor ihnen. Bleiben Sie ruhig bei mir; ich werde Ihnen das Gezücht vom Leibe halten.

Aber was wollen Sie denn eigentlich hier unten? Lassen Sie uns wieder hinaufgehen.

Wenn Sie ins Deckhaus zurück wollen, will ich Sie dahin begleiten, die Untersuchung des Vorderschiffs darf ich aber nicht aufgeben. Ich muß mich auf alle Fälle überzeugen, wie es dort aussieht.

Dann bleibe ich bei Ihnen, entschied sie sich kurz. Ich kann das Alleinsein nicht ertragen.

Sie raffte ihr Kleid in der einen Hand zusammen, die andere legte sie in meinen Arm. Ich fühlte sie schaudern. Wir schritten den schmalen Gang zwischen den Kabinen entlang und kamen am Ende desselben an eine Holzwand, deren Mitte mit einem starken Eisengriff versehen war. Ich erkannte sogleich, daß es eine in Falzen laufende Schiebewand sei, und schob sie beiseite; sie führte in einen Raum, in den durch das weite Viereck der offenen Großluke das Tageslicht fiel. Ein Bild wüster Unordnung und wilden Durcheinanders stellte sich uns dar; Matten aus westindischem Schilfrohr, Teppiche, Decken, Beutel, Seekisten, teils offen, teils umgestülpt, Henkeltöpfe, Zinnschüsseln, Seestiefel, Oelanzüge, Taue und noch viele andere Dinge lagen im bunten Drunter und Drüber umhergestreut; da und dort huschten große Ratten und stürzten mit unglaublicher Schnelligkeit durch die Luke, die in gleicher Linie mit der oberen Luke lag, hinab in den Kielraum. Es war ein ekelerregender Anblick.

Bei allem, was ich je gesehen, rief ich, als wir vor diesem gräßlichen Wirrsal eines schmutzigen Trödelhaufens schaudernd stutzten, das sieht ja aus, als ob Vandalen hier gehaust und gerauft hätten!

Wenn nur nicht auch Tote unter diesen Sachen liegen, flüsterte sie mit vor Abscheu und Grauen zitternder Stimme, indem sie sich unwillkürlich dicht an mich schmiegte.

Nein, nein, das würde man am Geruch merken, tröstete ich. Davor brauchen Sie sich nicht zu fürchten; aber kommen Sie, fuhr ich fort, eine große Seekiste an die Schiebewand ziehend, steigen Sie auf diese Kiste, damit Sie wenigstens von den Ratten nicht noch mehr erschreckt werden.

Sie hüpfte hinauf und schien auf dem erhöhten Platz etwas ruhiger zu werden.

Es bot ein eigenartiges Bild, diese majestätische Gestalt mit ihrem eleganten weißen Anzug sich den ruhig wiegenden Bewegungen des Schiffes anpassen zu sehen. Sie machte den Eindruck einer Statue von wunderbarer Schönheit, ganz absonderlich hervorgehoben durch den Kontrast der wilden Umgebung und den durch die Luke niederströmenden Regen.

Ich trat an den Rand der nach unten führenden Luke und blickte hinab. Es war wenig anderes zu sehen als Ballast, auf dem einige von den Lafetten genommene Kanonenrohre, Kisten und Tonnen lagen. Unter dem Boden des Ballastes, im tiefsten Teil des Schiffsraumes, spülte zwar Wasser hin und her, doch in viel zu geringer Menge, um mir irgend welche Sorge zu machen. Ein Blick genügte, um zu erkennen, daß das Wrack noch vollkommen dicht war. Da der Regen jedoch ununterbrochen durch die Luken goß, überlegte ich, wie ich sie, der größeren Sicherheit wegen, überdecken könnte.

In der Hoffnung, vielleicht weiter vorn etwas dazu Verwendbares zu finden, bat ich das Mädchen, bis zu meiner Rückkehr auf der Kiste zu bleiben. Sie sah mich zwar sehr ängstlich mit einem flehenden Blick an, doch als ich ihr versicherte, daß mich ihre Stimme jeden Moment würde erreichen können, war sie vernünftig und ließ mich gehen.

Ich gelangte in den ausgebrannten Teil des Schiffes, dessen Luke reichlich Licht verbreitete; der ganze Raum war kohlschwarz, und ein starker Brandgeruch herrschte noch darin. Mit einer kleinen eisernen Hebestange, die am Boden lag, schlug ich hier und da an die verkohlten Wände, um ihre Festigkeit zu prüfen. Doch so schwarz das Holzwerk auch aussah, überall hallte das Echo meiner Schläge wieder. Ich konnte zu meiner Gefährtin mit der Ueberzeugung zurückkehren, daß der Rumpf, abgesehen von den unbedeckten Luken, noch so seetüchtig sei, als man es nur wünschen konnte.

Ich fand meine schöne Statue noch, wie ich sie verlassen hatte. Ueber die kunterbunt umherliegenden Sachen schreitend, drehte ich mit dem Fuß diesen und jenen Gegenstand um. Dabei wurde mein Auge von einem kleinen offenen Blechkasten angezogen, dessen Inhalt von gelblichbrauner Farbe mich einen Freudenruf ausstoßen ließ. Ich hatte Tabak erkannt. Mit wahrem Entzücken beugte ich mich nieder, diesen Schatz zu heben, denn wenngleich ich meine Pfeife in der Tasche hatte, fehlte mir doch das nötige Kraut dazu. Ich kann nicht sagen, wie sehr mich schon während der ganzen Zeit auf eine Pfeife gehungert hatte. Ordentlich liebkosend drückte ich den Kasten an mein Herz.

Was haben Sie denn da? fragte das Mädchen.

Etwas sehr Geringfügiges nach der Entdeckung, daß das Wrack wie ein Kork unter unsern Füßen schwimmt, entgegnete ich freudestrahlend, aber etwas, das mir wesentlich helfen wird, meinen Seelenfrieden wiederzuerlangen – ein Labsal für mich – köstlichen Tabak!

O, das gönne ich Ihnen recht, rief sie matt lächelnd. Nicht wahr, nun gehen wir aber auch wieder hinauf? Der Aufenthalt hier ist zu furchtbar.

Versteht sich, erwiderte ich, sogleich zu ihr tretend und ihr die Hand reichend. Bitte, springen Sie herunter.

Sie nahm wie vorher ihr Kleid zusammen und sprang; dann klammerte sie sich fest an meinen Arm. Im Deckhause setzte sie sich müde wieder auf ihren Platz, stützte das Kinn in die Hand und blickte durch das kleine Fenster zu dem düsteren Himmel empor, von dem der Regen unvermindert in schnurgeraden Strichen herabfiel und auf Deck und Dach prasselte. Nach einer Weile fragte sie: Wollen Sie nicht Ihren Tabak probieren? Es wird mir eine Beruhigung sein, Sie rauchen zu sehen.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und mit einem Wohlbehagen, wie ich es lange nicht empfunden, stopfte ich mir die Pfeife.


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