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Sechzehntes Kapitel

Als ihn das siebzigste Jahr begrüßte, wurde er mit einem Male alt. Das Alter überfiel ihn plötzlich innerhalb weniger Wochen. Wer ihn damals in einem Abstand von wenigen Monaten wiedersah, erschrak. Aus dem stämmigen, schlanken Abbé war ein zusammengefallener, tapsender, greiser Priester geworden. Seine Schlankheit war weg, er setzte einen Bauch an. Sein Rücken krümmte sich, als ob er das Gewicht der langen Vergangenheit nicht mehr tragen könnte. Die Zähne fielen ihm aus, und seine Lippen schlossen sich deshalb nur noch enger. Sein Hals schrumpfte zusammen, den nach vorne geneigten Kopf trug er fast zwischen den Schultern eingezogen, sein Gesicht war das der Hexe aus »Hänsel und Gretel«. Und er achtete auch auf sein Äußeres nicht mehr. Sein Anzug war voller Flecke und Zigarrenasche.

Inzwischen hatte er den Rang eines Domherrn erhalten. Der Kardinal Hohenlohe ernannte ihn zum Domherrn in der Diözese von Albano, weil dort ein Kanonikat frei geworden war und zur italienischen Domherrenwürde auch die unteren kirchlichen Grade ausreichten; man brauchte dazu kein Pfarrer zu sein. Der neue Domherr ließ sich mit beglückter Eitelkeit die lila Mozetta, den kleinen Schulterkragen anfertigen, dessen vornehme kirchenfürstliche Farbe er schon immer so bewundert hatte. In den Bänken der Domherren der Kirche von Albano hatte auch er seinen ständigen Platz, in dem alten holzgeschnitzten Gestühl. Ab und zu ging er auch hin und sang eifrig mit den anderen Domherren mit.

Im Augenblick saß der Domherr Liszt in dem offenen Garten des Sibilla-Restaurants in Tivoli. Wenn er seiner Arbeit in der Villa Hohenlohe müde wurde, schritt er langsam durch die engen Straßen dem Berggipfel zu, wo er, die Ellenbogen auf den Gartenzaun des Gasthauses aufstützend, in das kleine Tal hinunterblickte und den Lauf des Aniene verfolgte. Domenico de Angeli, der Gastwirt, der außerordentlich stolz darauf war, daß seine Ahnen bereits hier ansässig waren, als Tivoli von den Römern noch Tibur genannt wurde, leistete ihm ständig ein Weilchen Gesellschaft und erzählte ihm von gemeinsamen Bekannten, von dem Bürgermeister Pietro Tornai oder von dem Dirigenten Pezzini, von dem Maler Carlandi, von dem alten Trinchieri, kurz von den Honoratioren Tivolis, die es sich alle hoch anrechneten, wenn der Domherr ihr Haus hin und wieder durch seinen Besuch ehrte. Der Gastwirt erzählte noch von Francesco, seinem Sohn, der in Rom Ingenieur lernte und in jedem seiner Briefe den Meister grüßen ließ. Dann ging der brave Angeli weiter, um nach seinen Gästen zu sehen, den Domherrn seinen eigenen Gedanken überlassend. Vom Fuße der Ruinen des römischen Sibillentempels sah der Domherr auf die Gegend herab. Rechter Hand stürzte der weiße Wasserstaub eines gewaltigen Wasserfalles in die Tiefe. Oberhalb des Wasserfalles klopften Frauen ihre Wäsche, das Klatschen der nassen Wäsche hatte einen starken Widerhall in der Stille. Auf der anderen Seite des Wasserfalles ragten vier dunkle Pinien gen Himmel. Hinter ihnen, jenseits der Landstraße, bildeten weiße Felsen den Hintergrund. Die Wand des mächtigen Grabens, den das Gefälle des Wassers tief ausgehöhlt hatte, überzog der Sommer mit dichtem Grün, hier und da blühten grell lilafarbige Sträucher, dort wiederum viele Blumen, Glyzinien, Lorbeer, weißkelchige Calla, Banksiarosen, Granat, Oleander, Palmen, Zypressen, Jasmine. Weit hinter dem sich windenden Weg tauchten die weißen Flecke kleiner Häuser auf, einst die Wohnhäuser des Horaz und des Catull. Am Himmelsmeer störte nicht eine einzige Wolke das strahlende Blau, und das Gefälle des Wassers sang mit ewiger Eintönigkeit seinen einzigen Akkord, dem einst Horaz und Catull hier am Fuße des Sibillentempels ebenso gelauscht und der Vergänglichkeit ebenso nachgesonnen hatten wie er jetzt.

Das Schicksal alter Menschen ist es, daß das Hinscheiden ihrer Altersgenossen den Gedanken an den Tod in ihnen ständig wachhält. Je betagter einer wird, um so mehr scheiden von seinen Kameraden, Bekannten und Verwandten hin. Der Domherr dachte über seine Toten nach. Die Reihe eröffnete Marie. Die alte Dame hatte noch ihre Memoiren veröffentlicht, in denen sie in einem wunderlichen Gemisch von Wahrheit und Entstellung die Geschichte ihrer Liebe erzählte, dann war sie still gegangen. Ihr folgte der Papst, der den Verlust seiner weltlichen Macht nicht hatte verschmerzen können. Das Konklave wählte an seine Stelle den Grafen Massai-Ferreti und umging durch einen förmlichen Staatsstreich Franz Josefs Veto, das zu spät kam. Das neue Oberhaupt der Kirche bestieg als Leo XIII. den Thron, der Domherr Liszt war auch schon zur Audienz bei ihm gewesen. Der neue Papst war ein feiner, vornehmer alter Herr, auf seinem Lächeln, seinem Benehmen, seinen Bewegungen stand seine Abstammung geschrieben. Den Domherrn und Komponisten, dem er als Kardinal schon zugetan war, versicherte er erneut seiner väterlichen Zuneigung und segnete ihn auch. Dann folgten dicht hintereinander zwei schmerzliche Nachrichten: Baron Augusz, der treueste Freund, war gestorben und der Oberstaatsanwalt Eduard Liszt, der meistgeliebte Verwandte. Auch George Sand starb. Sie gingen, sie empfahlen sich nacheinander, er war immer noch da. Er konnte nur noch mühsam gehen, sich zu bücken bedeutete ihm eine große Anstrengung, andauernd fehlte ihm irgend etwas. Manchmal quälte ihn jeden Abend Fieber, ein anderes Mal schmerzte ihm der Kopf unerträglich, wieder einmal war er auf der Straße gestürzt und hatte sich aufgeschlagen. Auch die waren langsam alt geworden, die zu ihm gehörten. Die Fürstin Carolyne war schon über sechzig Jahre alt, sie arbeitete noch immer an ihrem riesigen kirchengeschichtlichen Werk, war bereits über den zwanzigsten Band hinaus und hatte ihr ganzes Geld zusammengekratzt, um das außerordentlich umfangreiche Werk drucken lassen zu können. Wagner war achtundsechzig Jahre alt, frisch und gesund, hatte aber schwere Sorgen; das Anteilsystem der Bayreuther Festspiele hatte sich nicht bewährt, und jetzt war er drauf und dran, seinen ursprünglichen Entschluß aufzugeben und die Karten ebenso frei zu verkaufen, wie die Karten zu den Oberammergauer Passionsspielen verkauft wurden. Cosima war über die Vierzig hinaus und hatte sich sowohl ihre prächtige Gestalt als auch die fast gläserne, kalte Weiße ihres Gesichtes bewahrt, aber auch in ihrem Haar zeigten sich nach und nach weiße Strähnen. Sie mußte allmählich daran denken, ihre Töchter zu verheiraten. Die älteste war schon siebzehn Jahre alt.

Und er war siebzig, ein sich schwerfällig bewegender, stiller, kränklicher alter Domherr. Die Geschehnisse strichen über seine Seele hinweg, wie die Schwalbe den Wasserspiegel berührt. Es mußte schon eine sehr bedeutende Sache sein, wenn sie ihn außergewöhnlich bewegen sollte. Wenn er auf die vergangenen vier Jahre zurückblickte, zog eine ganze Reihe bunter Bilder vor seinen Augen vorüber. Er sah sich in vielen Ländern, an vielen Orten, als ob er den Lebenslauf eines fremden Menschen beobachtete.

Er sah sich in Pest ein Konzert geben: ein neunzehnjähriger Junge spielte Violine. Großartig. Der Geigenkünstler war ein hochgewachsener, schlanker, eleganter, dunkelblonder, sehr hübscher Junge, seine Bewegungen und seine ganze Körperhaltung ließen die gute Kinderstube ahnen. Es war Eugen Hubay, der Sohn eines der Dirigenten des Nationaltheaters. Sein Spiel hatte den Abbé so mitgerissen, daß er sofort in das Schicksal des jungen Mannes eingriff, ihm Empfehlungsschreiben nach Paris zu Pasdeloup und anderen musikalischen Größen mitgab. Der junge Geigenkünstler hatte bisher von Joachim gelernt, der einst Franz Liszt verraten hatte, aber ein großes Talent und ein Ungar war. Auch Hubay war ein großes Talent und ein Ungar, ein Sprößling dieser Erde, die der Welt so viele große Begabungen geschenkt hatte. Der junge Mann war in Paris bei Pasdeloup aufgetreten, hatte entscheidenden Erfolg gehabt, Vieuxtemps gewann ihn lieb, nahm ihn in seine Obhut, – um sein weiteres Schicksal brauchte man sich nicht mehr zu sorgen.

Dann sah sich der Domherr in der Weimarer Gärtnerei mit dem genialen Russen Borodin zu zweit am Klavier sitzen. Dieser Borodin war der Nachkömmling des kaukasischen Fürsten Imeretinsky, Professor der Physik an der Universität in Petersburg, hatte sich aber nebenbei mit Musik befaßt. In Europa herumreisend, war er auch nach Weimar gekommen, ins Mekka der Musiker, um den großen Liszt kennenzulernen. Er war ein Mann in mittleren Jahren, bärtig mit hängendem Schnurrbart, dieser Physikprofessor. Er hatte auch gleich seine Oper mitgebracht, den Meister damit furchtbar erschreckend, der in Verzweiflung geriet, wenn er sich die Musik von Dilettanten anhören mußte. Der sonderbare Professor hatte jedoch aus seiner Oper »Fürst Igor« noch keine drei Minuten lang vorgespielt, da zog der Abbé schon seinen Stuhl aufgeregt näher. Die Stimme einer ganz eigenartigen Begabung ertönte am Klavier. Eine Stelle war in dieser Oper, die den Hörer ganz gefangennahm: die Tänze der Polowzen. Reine Urkraft, die titanische Wehmut der weiten tatarischen Steppen, eine sich in die Unendlichkeit verlierende Musik …

Der Domherr sah sich in Klausenburg. Eine herzliche Freundschaft verband ihn mit einem ungarischen Aristokraten, dem Grafen Gézá Zichy, der durch einen Unfall den rechten Arm verloren hatte, mit seiner gesunden Linken aber so gut Klavier spielte, wie nur je ein berühmter Pianist mit zwei Händen. Er hatte bei Volkmann gelernt und sich zu einem hervorragenden Klavierspieler ausbilden lassen. Sie waren viel zusammen, sie traten sogar zu zweit auf und spielten dreihändig. Gézá Zichy ging nach Klausenburg, um dort ein Konzert zu geben, und bat ihn so lange, bis auch er mitkam. Nach langer Zeit traf er hier den alten Freund, Graf Alexander Teleki, wieder. Der einstige Berliner Jurist war auch ein betagter Mann geworden. Er hatte allerhand Abenteuer erlebt; nach dem Freiheitskampf war auch er Emigrant geworden, und wenn es ihm nicht gelungen wäre, aus der Festung Arad zu entfliehen, hätte man auch ihn mit den anderen dreizehn Generälen zusammen hingerichtet. So hatte man ihn nur in effigie gehenkt, zu dieser Zeit war er aber schon in Konstantinopel. Er hatte sich in England, Frankreich und in der Schweiz aufgehalten, viel Elend durchgemacht, war Tagelöhner gewesen, hatte dann die Tochter des Lord Lonsdale geheiratet, sich wieder scheiden lassen, unter Garibaldi gekämpft und war endlich nach Hause zurückgekehrt. In seinem Gepäck brachte er die Bibel wieder mit, die ihm seine Mutter bei seiner Flucht mit der Ermahnung in die Hand gedrückt hatte, fleißig darin zu blättern. Er hatte sie aber nicht ein einziges Mal aufgeschlagen. Und erst hier zu Hause kamen die Hundertkronen-Banknoten zum Vorschein, die seine gute Mutter zwischen den Bibelseiten versteckt hatte. Alexander Teleki war auch heute noch ein einziges buntes Erlebnis, ein Bündel von lauter lustigen Geschichten. Sie unterhielten sich abermals bei Zigeunermusik, aber von der alten, tobenden Ausgelassenheit waren nicht einmal mehr die Lieder geblieben; der heutige Zigeuner konnte die alten Lieder kaum noch spielen …

Dann sah er sich in Paris bei der Weltausstellung. Man hatte ihn zum Präsidenten der ungarischen Gruppe erwählt. Er wohnte bei Erards. Er sah Victor Hugo wieder, den lange verschollen Gewesenen. Der französische Dichterfürst war nach dem Tode Napoleons III. aus seinem Exil zurückgekehrt und hatte seinen literarischen Thron von neuem bestiegen. Ihre gemeinsamen Erinnerungen, die sie auffrischten, waren fünfzig Jahre alt. Und der greise Abbé spielte dem greisen Dichter die Berg-Symphonie vor, deren Verse der junge Musiker vor fünfzig Jahren von dem jungen Dichter bekommen hatte. Der ungarische Teil der Ausstellung war sehr interessant und typisch ungarisch schon deswegen, weil sich die Ungarn auch dort draußen ständig miteinander stritten. Die zwei berühmtesten ungarischen Maler Michael Munkácsy und Michael Zichy gingen im Ausstellungssalon fast mit der Faust aufeinander los, weil sie sich nicht einigen konnten, wessen Bild einen besseren Platz bekommen sollte. Endlich siegte Munkácsy, der aus einem schlichten Tischlergesellen zum weltberühmten Maler geworden war, die Witwe eines reichen Barons aus Luxemburg geheiratet hatte und ein großes Haus in Paris führte. Auch Alexander Bertha wohnte in Paris, der frühere Schüler. Sie begegneten einander auch, wechselten aber nur einige wenige ganz kühle Worte. Der Abbé hatte seinem Schüler nicht verzeihen können, daß dieser die Aufrichtigkeit seiner ungarischen Gefühle zu bezweifeln wagte.

Er sah sich in Loon, der Sommerresidenz des Königs Wilhelm von Holland. Der König war der Bruder der Großherzogin von Sachsen-Weimar und ließ Franz Liszt, dem Präsidenten des Schiedsgerichtes, diese Verwandtschaft sehr freundlich zugute kommen. Das Schiedsgericht setzte sich aus lauter bedeutenden Männern zusammen: Saint-Saëns, Thomas, Vieuxtemps, Wieniawski von den Musikern, Bouguereau und Gérôme von den Malern, allesamt Weltberühmtheiten. Jeden Abend speisten sie mit dem König, und nach jedem Souper gab es zum schwarzen Kaffee Darbietungen des königlichen Balletts.

Dann sah er sich in den neuen Räumen der Musikakademie. Das Institut hatte trotz der Anfeindungen und Schwierigkeiten seinen Aufgaben fleißig genügt und auf der Andrássy-Straße im ersten Stockwerk eines Miethauses ein neues Heim bekommen. Die Räumlichkeiten waren größer, die Einrichtung war bester, die Zahl der Zöglinge war gewachsen, der Unterricht gestaltete sich heiterer. Aladar Juhász hatte sich prächtig weiterentwickelt. Ilonka Ravasz setzte ihre Liebesspiele fort, blieb aber als Schülerin treu, sie fuhr ihm auch nach Weimar nach und ergötzte dort alle mit ihrer guten Laune und ihrem ungarischen Deutsch. Eines schönen Tages verliebte sie sich dann in einen Sänger namens Korbay, sie wurde seine Frau und eine treue, anhängliche Gattin. Die Musikakademie erhielt im übrigen auch einen Verwaltungsdirektor, damit auch in der Abwesenheit des Meisters keine Unterbrechung des Betriebes eintreten konnte. Man hatte Johannes Végh dazu ernannt, seinen guten Bekannten, den er selbst für diese Arbeit schon zu gewinnen versucht hatte. Végh hatte seine Stellung bereits angetreten, und sie standen in eifrigem Briefwechsel über die wichtigen Angelegenheiten der Professoren und des Unterrichtes.

Und Sophie, die rührend gute, törichte, liebe Sophie … Die Musik hatte sie getrennt. Gerade als ihre Verbindung den süßen Geschmack der Frische zu verlieren drohte. Sophie wurde in eine hervorragende Stellung nach Rußland eingeladen. Sie verabschiedeten sich schön voneinander, umarmten und küßten sich, – die Erinnerung blieb entzückend und hinreißend. Und auch jetzt schrieben sie sich noch oft.

Dann sah er sich in Siena, wo damals Wagner und Cosima den Herbst verbrachten. Er hatte sie besucht und war acht Tage bei ihnen geblieben. Sein Verhältnis zu Wagner wurde immer inniger und vertrauter, das zu Cosima immer steifer. Sowohl Wagner als auch er waren inzwischen alt genug geworden, um in jeder Angelegenheit zuerst das Heitere zu suchen. An Stelle der einstigen überschwenglichen Freundschaftsbeteuerungen trat eine fröhliche Kameradschaft, sie konnten über die nichtigsten Belanglosigkeiten tagelang lachen und waren kindlicher als die Kinder. Cosima kam und ging zwischen den zwei ausgelassenen alten Knaben, als ob sie älter als die beiden wäre. Es war unmöglich, ihr nicht anzumerken, daß ihr Vater ihr lästig war. Sie bemühte sich zwar, das nicht zu zeigen, so etwas fühlt man aber aus unzähligen kleinen Zeichen.

Dann folgte ein neues Bild den voraufgegangenen: als er sich zum ersten Male in seiner neuen Pester Wohnung umsah. Man hatte sie ihm in der Musikakademie eingerichtet, um ihn zu überraschen. Die gesamte Einrichtung stifteten seine guten Freunde und Verehrer. Albert Apponyi, Mihalovics und Baron Harkányi schenkten je einen Teppich, andere schenkten Gardinen, Porzellan, antike Möbel, Vasen. Die ganze Wohnung war eine Schau von Erinnerungsgegenständen. Die Fenster der Wohnung blickten nicht auf die Andrássy-Straße, sondern auf eine stille Nebenstraße. Spiridion nahm die neue Residenz gleich in Besitz und warf auch sogleich die Büste des Abtpfarrers Schwendtner um, zum Glück war ihr aber nichts geschehen.

Er sah sich auch vor dem Haus in Raiding. Eine große Menschenmenge. Gedenktafelenthüllung. Große Reden. Unter den Bauern nur ein oder zwei bekannte Gesichter. Neue Gesichter, neue Menschen. Vierzig Wagen voller Gäste. »Hier wurde Franz Liszt am 22. Oktober 1811 geboren. Als Zeichen der Huldigung der Ödenburger Verein für Literatur und Kunst.« Festessen. Rede des Vizegespan Edmund Simon. Ehrungen. Gézá Zichy umarmt ihn mit seinem einen gesunden Arm.

Florenz: Besuch bei Karoline, bei der allerersten, also Carlotta Ungher, die inzwischen den französischen Schriftsteller Sabatier geheiratet hatte. Eine zufriedene, stille, wohlhabende alte Frau. Dresden: man spielt die Faust-Symphonie. Wiesbaden: auch hier die Faust-Symphonie. Sondershausen: die Berg-Symphonie. Frankfurt: das Christus-Oratorium. Venedig, Hannover, Baden-Baden, Wien. Andauernd unterwegs, immer in der rüttelnden Eisenbahn, nächtliches Lesen beim Schein der am Sitz befestigten Kerze, abermals Weimar, dann wieder Rom. Und hin und wieder diese herrliche, gesegnete, große Villa d'Este, wo man bei dem ewigen, leisen Plätschern der Springbrunnen so wundervoll arbeiten konnte. Aber nicht einmal dort kam er zur Ruhe. Ab und zu ging er auf die Straße, unterhielt sich mit einem Ladeninhaber, einer bettelnden alten Frau oder mit einem Kutscher, irrte planlos umher, als ob ihn das Schicksal zu ruhelosem Wandern verdammt hätte …

Er klopfte an sein Glas. Der » quarto rosso« war inzwischen auch alle geworden. Angeli eilte persönlich herbei, um die Soldi entgegenzunehmen. Und sich tief verbeugend grüßte er den vornehmen Gast:

» Rivederlo, padre reverendissimo.«

Der Domherr trat aus den niedrigen Arkaden heraus, an denen eine ganze Reihe Marmortafeln die Namen der Herrscher verewigten, die dort schon verweilt hatten. Sie waren ihm alle bekannt. Unterwegs liefen Kinder auf ihn zu, um ihm die Hand zu küssen. Die Menschen grüßten ihn. Es wurde Abend. Aus der Ferne schimmerten die Lichter des jenseits der Campagna liegenden Rom durch den abendlichen Dunst.

Unter dem mit Steinfliesen aufgelegten Torbogen der Villa d'Este saß der Hausmeister, der gute Ercole Martini, neben ihm seine beiden Töchter Aldegonda und Ginevra. Sie erhoben sich beide sofort, als der Domherr näherkam. Der Hausmeister meldete, daß aus Rom eine Nachricht gekommen sei: Sua Eminenza der Kardinal Hohenlohe würde morgen herauskommen. Denn der Kardinal hatte sich mit Rom versöhnt. Als Preis des Friedens erhielt er das Bistum von Albano und kam ab und zu in diese prächtige Villa, um in einem der schönsten Gärten der Welt spazieren zu gehen und sich mit seinem Gast zu unterhalten.

Der Domherr stieg langsam die Treppen hinauf, schritt den Gang entlang und betrat seine Wohnräume. Im Speisezimmer erwartete ihn der gedeckte Tisch. Er wußte schon, was es zum Abendessen gab: Radici, ravanelli, pepperoni, Rotwein. Er hatte aber noch keine Lust zu essen. Er ließ sich auf der nach der Campagna zu liegenden großen Terrasse nieder und lauschte der unaufhörlich plätschernden, eintönigen, geheimnisvollen Musik der Springbrunnen im Garten. Dann leuchteten seine Augen mit einem Male auf, er ging zurück in sein Zimmer und setzte sich ans Klavier. Er spielte sich selbst jenes Stück vor, das er zu diesem Plätschern komponiert hatte: Jeux d'eaux á la Villa d'Este.

Unter seinen alten, immer noch verhexten Fingern perlten die Töne hervor und schwangen sich in die sommerliche Abenddämmerung hinaus. Er spielte sein Stück verzückt, weil er wußte, daß er mit dieser kleinen Klavierkomposition etwas Großes geschaffen hatte, etwas, das seinem Alter um fünfzig oder sogar hundert Jahre voraus war. Er war sich darüber im klaren, daß dieses Stück ein großer Könner geschrieben hatte. In seinem alten, verrunzelten Gesicht mit den vielen Warzen sprühten und funkelten die Augen. Er hatte jetzt kein Alter, nur eine große Seele.


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