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Sechstes Kapitel

Mutter Liszt war gestorben. Zuerst kam ein Brief von Ollivier, daß die alte Frau ernstlich erkrankt und eine Lungenentzündung zu befürchten sei. Und fast gleichzeitig mit dem Brief traf auch schon das traurige Telegramm ein, das die Nachricht von ihrem Hinscheiden brachte. Dann ein Brief, der die Einzelheiten ihres Todes schilderte. Sie war insgesamt nur eine Woche lang krank gewesen. In den letzten Tagen war sie bereits gar nicht mehr bei Bewußtsein. Still ging sie heim, den Übergang von ihrem kaum noch flackernden Leben zu dem ewigen Schlummer hatte man kaum bemerken können. »Ich habe die Arme zweimal geküßt«, schrieb Ollivier, »einmal in Papas Namen und einmal im Gedenken an Blandine.«

Der Abbé verspürte weder Schmerz noch Trauer, als er die Nachricht bekam. Seine erste Regung war Empörung. Es war ihm, als hätte jemand, seine Abwesenheit ausnützend, seiner alten wehrlosen Mutter weh getan. Er wäre am liebsten aufgesprungen, um diesen Unbekannten mit wilder Kraft am Halse zu packen und zu erwürgen. Nur langsam besann er sich darauf, daß er am Tode selbst keine Rache nehmen konnte. Und erst dann ergriff ihn mit Allgewalt der Schmerz um die heimgegangene alte Frau, der er Fleisch von ihrem Fleisch und Seele von ihrer Seele gewesen war. Er empfand eine große und gähnende Leere, er hatte das Gefühl, als ob er eins seiner Glieder verloren hätte.

Zum Begräbnis konnte er nicht mehr rechtzeitig hinkommen, aber in einigen Wochen wollte er sowieso nach Paris reisen, weil er dabei sein wollte, wenn seine Graner Messe in der Kirche Saint-Eustache aufgeführt wurde. Solange blieb er in Rom, wartete auf die amtliche Bestellung der Krönungsmesse und arbeitete an dem Christus-Oratorium. Er verkehrte in der Gesellschaft, verbrachte abends einige Stunden bei Carolyne, lebte ebenso wie ein Jahr zuvor, nur mit dem Unterschied, daß er jetzt das Priestergewand trug. Die Damen der Gesellschaft und die Amerikanerinnen schwärmten jetzt eben für den Abbé, der nun noch interessanter und romantischer war als zuvor. Sein Zauber wuchs von Tag zu Tag und verbreitete sich wie eine Epidemie, man wußte gar nicht warum, er trat ja offiziell nicht mehr auf. Jetzt konnte es aber vorkommen, daß eine Amerikanerin den Stoff vom Polsterstuhl abtrennte, auf dem der Abbé gesessen hatte, und ihn einrahmen ließ. Wer das Heim dieser Amerikanerin besuchte, mußte sofort die stolze Prahlerei anhören, daß der erlauchte Körper des Abbé Liszt dieses eingerahmte Brokatstück berührt hätte. Bei der Einweihung des neuen Konzertsaales, der Sala Dante, dirigierte Sgambati seine Dante-Symphonie. Es war ein großer Erfolg, Handschuhe und Taschentuch des Komponisten waren verschwunden. Die Schwärmer hatten diese Sachen in Stücke zerrissen und unter sich verteilt. Endlich kam die Zeit der Pariser Reise heran. Er nahm bei Ollivier in der Rue Saint-Guillaume Wohnung und bezog dieselben Zimmer, in denen noch vor kurzem seine Mutter gewohnt hatte. Er kramte fortwährend zwischen den altmodischen Sachen herum, vieles hatte er ihr zu ihren Namens- und Geburtstagen geschenkt. Er fand auch alte Bilder, unter anderem die Aufnahme der Großmutter im Kreise ihrer drei Enkel. Die Großmutter, Blandine und Daniel waren gestorben, nur Cosima war noch geblieben.

Ollivier führte ihn gleich am ersten Tage auf den Friedhof Montparnasse an das frische Grab. Barhäuptig beteten sie dort lange. Zwischen den Gräbern gingen vereinzelt Menschen; ihretwegen nahm er eine gefällige Pose an. Er neigte den Kopf tief, reckte seine Gestalt im schlanken Priestergewand gerade wie ein Schilfrohr, und als der Märzwind sich in seinen langen Haaren verfing, strich er die ihm ins Gesicht hängenden Strähnen nicht nach hinten. Während er betete, ging es ihm durch den Sinn, daß es vielleicht doch nicht vornehm sei, am Grabe seiner Mutter zu posieren. Aber er wußte sofort eine Antwort: wenn wir unter Menschen gehen, machen wir uns ja auch zurecht. Es ist nur schicklich, auf das Äußere zu achten, und gebührt besonders dem, der weltberühmt ist und den die ganze Welt beobachtet. Dann kehrte er andächtig wieder zurück zu seinem trauerndem Gebet; zwei heiße Tränen rollten seine Wangen entlang und gaben Zeugnis von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle.

In der Kirche Saint-Eustache wurde die Messe auf eine sehr sonderbare Art aufgeführt. Die Kirchenbehörde hatte die Teilnahme von Frauen im Chor untersagt, deshalb mußten die Alt- und Sopranstimmen von Kindern gesungen werden. Von den Besuchern der Kirche verlangte man zugunsten des Fonds der Pariser Schulen einen gepfefferten Eintrittspreis, die Einnahme betrug fünfzigtausend Franken. Zu dieser prunkvollen Messe war auch Militär beordert, die Ehrenkompanie zog mit Militärmusik in die Kirche ein. Die schreienden Clairons verdarben die Stimmung der Zuhörer von vornherein. Bei der Wandlung präsentierte das Militär vorschriftsmäßig und rührte die Trommeln, obwohl gleichzeitig auf der Empore eine auf eine ganz andere Wirkung bemessene Kirchenmusik gespielt und gesungen wurde.

Die Presse nahm die Messe sehr ungnädig auf. Man nannte sie eine musiklose Musik, unverständlich und barbarisch. Mit bitterer Enttäuschung mußte Franzi lesen, daß D'Artigue, seit dreißig Jahren sein innigster Freund und bedenkenloser Anhänger seiner Musik, ihn im Stich gelassen hatte. D'Artigue schrieb, daß er das nicht mehr als Musik betrachten könne. Mit düsterem Hohn zitierte er in seiner Kritik die Worte der Bibel: »Laßt diesen Kelch an mir vorübergehen.« Auch Berlioz war in der Messe anwesend und erklärte vor verschiedenen Leuten, die seine Äußerung alsbald dem Komponisten weitergaben, daß das keine Musik sei und daß er von dem Ganzen nichts verstünde. Sehr bezeichnend war auch die ablehnende Kritik der »Liberté«. Die hatte niemand anders geschrieben als der Marquis Guy de Charnacé, der Schwiegersohn Maries. Man erzählte sich in Paris, daß die Musikkritiken des Marquis von seiner Schwiegermutter entworfen würden.

Marie war also immer noch sein Gegner. Es stellte sich auch alsbald heraus, daß sie ein noch heftigerer Feind war als je zuvor. Als er sie höflichkeitshalber besuchte, beglückwünschte ihn Marie kühl zum Pfarrock, zu der Erfüllung seiner alten Sehnsucht, sprach von ihren literarischen Plänen und teilte ihrem einstigen Geliebten mit, daß sie gerade eine zweite Auflage der »Nélida« vorbereite.

»Was?« sagte Franzi erstarrt, »diesen schmachvollen Schlüsselroman wollen Sie jetzt nach zwanzig Jahren wieder aufleben lassen? Was hat das für einen Zweck?«

»Ich lasse ihn nicht als Schlüsselroman erscheinen«, erwiderte die weißhaarige Marie kalt, »der Verleger will ihn veröffentlichen. Ich bin ja schließlich auch Schriftstellerin und der Name Daniel Stern hat keinen schlechten Ruf. Ich sehe nicht ein, warum ich mein altes Werk für ewig begraben soll.«

»Behaupten Sie im Ernst, daß Ihr Verleger das gewünscht hat? Und Sie wollen, daß ich das auch noch glaube? In diesem Buche haben Sie mich vor zwanzig Jahren als gewissenlosen, höherer Gefühle und Gedanken unfähigen, niederträchtigen Plebejer geschildert. Seit dieser Zeit ist das längst vergessen. Finden Sie es angebracht, das Ganze nochmals aufzuwärmen, jetzt, wo ich das Priestergewand trage?«

»Hier ist von Ihnen gar keine Rede, Franzi. Das Buch handelt nicht von uns, und es mag ruhig erscheinen. Ich will auch noch eins schreiben, das von uns handelt. Ich gedenke meine Memoiren zu schreiben. Das soll keine Anklageschrift werden. Ich habe meine Notizen schon zusammengestellt. Sie brauchen keine Angst zu haben: ich werde sachlich und aufrichtig sein. Könnten Sie mir nicht einen Titel für meine Memoiren sagen? Sie haben doch immer gute Einfälle.«

Franzi erhob sich.

»Ich habe auch jetzt einen. Nehmen Sie als Titel für Ihre Lebensgeschichte: ›Lügen und Heuchelei‹. Gott mit Ihnen, Marie.«

Er ging mit dem Entschluß fort, die Mutter seiner Kinder jetzt zum letzten Male gesehen zu haben.

Er war auch wieder bei Napoleon III. Der Kaiser unterhielt sich über eine halbe Stunde lang mit ihm. Die Audienz begann sehr heiter:

Franzi zeigte dem Kaiser seine Einladung in die Tuilerien, die die Kabinettskanzlei auf den Namen Abbé Laity ausgestellt hatte.

»In Paris hat man meinen Namen vergessen, Majestät.«

»Davon kann doch gar keine Rede sein. Aber man wird doch einem Abbé nicht zumuten, mit jenem berühmten Schürzenjäger identisch zu sein.«

Dann sprachen sie von Rom. Von jenem Bonaparte, dem Enkel Luciens, der als Geistlicher im Vatikan lebte und ungeduldig den Kardinalshut erwartete. Weiter kam das Gespräch auf Franzis Familie. Auf die unerhörte Klavierbegabung Bülows, auf die Enkel, auf das Münchner Opernleben und auf die Vorliebe König Ludwigs für Wagner.

»Ein gekrönter Mäzen ist ganz schön und gut«, sagte der Kaiser, »die Kleinbürger freuen sich aber meistens nicht darüber. Man meldete mir bereits aus München, daß die öffentliche Meinung die Aufwendungen für die Kunst zu hoch finde. Glauben Sie mir, lieber Litz, es ist zweckmäßiger, politische Günstlinge zu haben als Künstler. Sie kosten weniger.«

»Zu diesem Zwecke kann ich Eurer Majestät meinen zweiten Schwiegersohn, Ollivier, empfehlen, der ein hervorragendes Mitglied des Parlaments Eurer Majestät ist.«

»Sie brauchen ihn mir nicht zu empfehlen. Ich halte ihn für einen sehr begabten Menschen. Er gehört nicht auf die Seite der Opposition. Im übrigen beginnt er sich jetzt ein wenig zu orientieren, was ich mit Freuden feststelle. Erzählen Sie mal einiges von ihm.«

Dem Abbé brauchte man nicht zuzureden. Mit überschwenglichen Worten pries Franzi die großartigen Eigenschaften seines Schwiegersohnes und entfernte sich vom Kaiser mit dem Gefühl, daß es ihm gelungen war, einen kleinen Dank dem Manne gegenüber abzutragen, der die arme Blandine für eine kurze Zeit so glücklich gemacht hatte.

Bevor er Paris verließ, bat er Kreutzer, den Geiger, er möge ihn mit D'Artigue, Berlioz und anderen zusammenbringen, denen gegenüber er seit Vorführung seiner Messe in eine etwas heikle Lage geraten war. Es fiel ihm zwar schwer, sie nach ihrer Kriegserklärung aufzusuchen, aber es lag ihm daran, ihnen den musikalischen Standpunkt seiner Messe zu erklären. Im Grunde genommen war er ihnen auch nicht böse und hatte die Hoffnung, daß er sie überzeugen würde. Kreutzer selbst war auch neugierig auf die Auslegung der neuen Musik. Er erinnerte sich, daß es bereits früher einmal eine solche musikalische Krise gegeben hatte. Beethoven hatte seinem Vater einst die Kreutzer-Sonate gewidmet, und dieser Vater verleumdete in heftigem Zorn denselben Beethoven als Revolutionär. Seit dieser Zeit hatte das Erbe Beethovens die ganze Welt überwunden. Und jetzt waren diese neuen Revolutionäre da: Liszt und Wagner. Er kannte sie als fähige Menschen und hegte den Verdacht, daß vielleicht doch etwas wahr sei an dem, was diese Neuen verkündeten. Er lud die gewünschte Gesellschaft zusammen. Der Abbé begrüßte seine neuen Gegner und alten Freunde liebenswürdig und ohne jede Steifheit. In Verlegenheit gerieten die Gäste, nicht er. Er legte die Partitur der Messe auf das Klavier und suchte klarzulegen, daß das, was er mache, durchaus mit dem Rhythmus, der Harmonie und den ewigen Gesetzen der Melodie zu vereinbaren sei. Er nahm die ganze Messe durch. Er spielte volle vier Stunden lang, erklärte und antwortete auf die immer schwächer werdenden Einwendungen. Endlich sagte er:

»Bitte, ich bin fertig. Jetzt bitte ich um eine aufrichtige Meinung.«

»Ich bin überzeugt«, erwiderte D'Ortigue ohne zu zögern.

»Ich leugne es nicht, ich bin es auch«, bestätigte Kreutzer.

Aber Berlioz schwieg.

»Und du, Hector?«

»Weiß Gott«, erwiderte Berlioz zögernd und achselzuckend, »auch ich sehe ein, daß du in vielem recht hast. Ich kann mich darüber bloß nicht recht freuen.«

Franzi wußte, warum sich Berlioz nicht freuen konnte, – wegen Wagner. Von München aus breitete sich das Wagner-Fieber bereits weiter aus. Vorerst nur unter einigen wenigen Auserwählten. Aber in jeder Stadt Europas fanden sich schon ein paar Musiker, die Wagner für ein Genie hielten. Und überall gab es mutige Musikfreunde oder auch Scharlatane, die ohne Verständnis dem Interessanten der neuen Mode nachliefen und für das neue Wunder Partei ergriffen. Die Saat, die Franzi, der weltberühmte Musiker, in Weimar gesät hatte, begann in ganz Europa aufzugehen.

Überall wuchs Wagners Beliebtheit, nur in München war etwas nicht in Ordnung. Schon vor seiner Reise nach Paris hatte Franzi unangenehme Nachrichten über die Stimmung in München erhalten. Die Meldungen aus München, von denen der Kaiser Napoleon geredet hatte, entsprachen vollauf den Tatsachen. Der sinnlose Luxus und die Verschwendungssucht Wagners waren in Bayern Landesgespräch geworden. Die Zeitungen begannen an der teuren Passion des Königs Kritik zu üben. Franzi konnte kaum erwarten, mit Hans zusammenzutreffen. Sie gaben sich in Holland ein Stelldichein, denn die Graner Messe wurde in Amsterdam um dieselbe Zeit angesetzt, als Hans dort konzertieren mußte.

Sie trafen sich also in Amsterdam. Cosima sah prächtig aus, sie war jünger geworden, und Gesundheit, scharfer Verstand und Tatkraft strömten förmlich aus ihr. Um so mehr hatten die Münchner Aufregungen Hans mitgenommen. Er sah viel älter aus, seine Hand zitterte nervös, die Sorgen hatten tiefe Furchen unter seine Augen gezogen.

»Also nun mal los«, sagte der Vater, als sie ihr Zimmer abgeschlossen hatten, »nun erzählt mir alles von A bis Z.«

Hans begann mit müder und wehleidiger Stimme, aber schon in wenigen Minuten hatte ihn die nervöse Erregung mit sich fortgerissen. In seinen tiefliegenden, stumpfen Augen flammte plötzlich ein gefährliches Feuer auf, sein Gesicht wurde noch blasser. Der Schwiegervater stellte mit tiefer Anteilnahme fest, daß dieser erst sechsunddreißigjährige Mann schon viel müder und mitgenommener war als er, der Fünfziger.

Die Mißstimmung in München war schon früher aufgekommen. Anfänglich beschränkte sie sich auf unbedeutende Sticheleien am Hofe. Die Beamten des Hofstaates, die noch aus der sparsamen Zeit des Königs Max stammten, sahen scheelen Auges auf jeden Betrag, den sie auf Geheiß des Königs an Wagner auszahlen mußten. Und als diese Anweisungen immer häufiger wurden und die Beträge zusehends wuchsen, entsetzte sich der ganze Hof über die ungeheure Verschwendung. Die allgemeine Entrüstung war so schnell und unvermutet aufgekommen wie ein Sturm im Sommer. Wagner mußte nach dem ersten in München verbrachten Jahr erleben, daß er der bestgehaßte Mann in der ganzen Stadt war. Dieser Haß dehnte sich natürlich auch auf seine Vertrauten, das Ehepaar Bülow, aus. Hans hatte in München bereits den Spitznamen »der Günstling des Günstlings«. Als der König abermals einen größeren Betrag für Wagner angewiesen hatte, holte Cosima das Geld. Die Beamten des Hofes nahmen offen gegen sie Stellung. Man fragte sie, ob sie Herr Wagner sei. Cosima erwiderte, sie sei nicht Wagner, sondern Frau Bülow und die Sekretärin Wagners. Der Kassierer verweigerte die Auszahlung. Er verlangte eine schriftliche Vollmacht, obwohl er schon zehnmal Cosima derartige Beträge ausgezahlt hatte. Cosima erschien also am anderen Tage mit der schriftlichen Vollmacht. »Bitte«, sagte der Kassierer und zeigte auf einen Tisch. Dort lag das Geld bereit, aber in lauter Kupferstücken, eine ganze Wagenladung Geld. Cosima schluckte, ging fort, holte einen Mietwagen und zwei Arbeiter mit Säcken. Das Kupfergeld füllte vier Säcke, und sie fuhr es im Wagen nach Hause. Auf solche Art und Weise störte und quälte man sie überall und dauernd. Und hinterlistig machte sich auch ein Klatsch breit, der höchstens in einen Schauerroman gepaßt hätte. Man begann zu munkeln, daß den König eine krankhafte Neigung an Wagner binde.

»So ein Unsinn«, unterbrach Franzi den Bericht seines Schwiegersohnes, »wie kann man so etwas überhaupt bloß sagen?«

»Sehr richtig«, pflichtete Hans bei. »Aber hör' dir erst mal den anderen Klatsch an: Richard soll der Geliebte von Cosima sein.«

Franzi blickte blitzschnell seine Tochter an. Was sein Schwiegersohn sagte, traf ihn wie ein Faustschlag. Derselbe Gedanke lebte als unausgesprochener Verdacht schon seit langem in ihm, aber erst jetzt nahm er Form an. Mit scharfen, forschenden Augen sah er Cosima ins Gesicht. Er hatte aber keine Zeit, sie zu beobachten, denn unerwartet brach in diesem Augenblick Hans in Tränen aus.

»Diese zwei Menschen sind das ganze Glück meines Lebens«, sagte er weinend, »Cosima und Richard. Ich liebe sie mehr als mich selbst. Ich liebe sie aus ganzem Herzen. Und die Niederträchtigkeit der Menschen läßt uns nicht ruhig leben. Ist das nicht fürchterlich? Ich bin manchmal so verzweifelt, daß, wenn die Kinder nicht wären, ich gar nicht wüßte, was ich täte …«

Beide trösteten den von heftigem Schluchzen geschüttelten Mann. Cosima faßte seine Hand und mahnte ihn zur Ruhe. Franzi umarmte ihn und strich ihm über den Kopf, wie man es bei kleinen Kindern tut. Hans aber hörte nicht auf zu weinen.

»Was soll ich machen? Wo soll ich Ruhe finden? In dieser Hetzjagd muß man verrückt werden. Ich werde erst dann ruhiger sein, wenn ich irgendwo Konzerte gebe und Cosima zu Richard schicke. Der ist ja so allein, dieser große Mann, dieser wunderbare Feuergeist, seit er aus München weg ist. Wenn Cosima bei ihm ist, bin ich wenigstens in dem unaussprechlichen, unermeßlichen Vertrauen, das ich den beiden entgegenbringe, glücklich.«

Endlich gelang es ihnen, ihn zu beruhigen. Mit zitternder Hand drückte er das Taschentuch an die rotgeschwollenen Augen und sprach dann mit verweinter Stimme weiter. Die allgemeine Stimmung habe sich dermaßen verschlechtert, daß Richard es vorgezogen habe, nach der Schweiz zu fahren. In der Nähe von Luzern habe er einen kleinen Ort namens Triebschen gefunden. Jetzt sei er auch dort und arbeite. Die Instrumentation der »Meistersinger« habe er schon beendet, das Finale habe Cosima mitgebracht, als sie ihn besucht hätte. Jetzt habe er einen ungeheuerlichen Plan, unter seinen unerhörten Werken das Unerhörteste. Parsifal. Die Apotheose des Glaubens und der christlichen Reinheit mit dem erschütternden Wunder des das Blut Christi bewahrenden Gras-Kelches.

Franzi ließ sich noch berichten, wie demnach die augenblickliche Lage in München wäre. Sie erzählten ihm, daß der König unter dem Druck der allgemeinen Stimmung gezwungen sei, Wagner aufzugeben. Wenigstens vorübergehend. Und er würde ihn wohl überhaupt aufgeben, da sie sich selbst über künstlerische Fragen entzweit hätten. Der Darsteller des »Tristan«, der großartige Schnorr von Carolsfeld, war nämlich gestorben. Sie drei wollten Tichatschek als seinen Nachfolger sehen, aber der König hatte gesagt, daß er den Tichatschek nicht möge. Den altgewordenen Tenor könne er höchstens zur Fußwaschung am Karfreitag anstellen. Jetzt trotzten sie deshalb beide, sowohl Wagner als auch der König. Diese Situation gestaltete wiederum auch Hans' Lage kritisch. Was sollte er in München ohne Wagner machen?

Franzi hörte kaum noch hin. Er sehnte sich danach, mit seinen Gedanken allein bleiben zu können. Als er sich niederlegte, versäumte er sogar, das alltägliche Brevier zu lesen, zu dem ihn sein niedriger Kirchengrad zwar nicht verpflichtete, das er trotzdem aber jeden Tag fleißig las, um auch vor sich selber kirchlicher zu erscheinen. Jetzt öffnete er das schwarze Buch nicht einmal, das mit seinem roten Schnitt im Nachttischkasten liegenblieb. Er mußte jetzt über die erschütternden Mitteilungen nachdenken, die ihm in das bisher unbegreiflich gewesene Dunkel einen Lichtstrahl geworfen hatten. Was ist das mit den »Meistersingern«? Wer ist diese Eva, die Walther Stolzing den väterlichen Gefühlen des alten Hans Sachs entreißt? Er richtete sich plötzlich mit einem Ruck im Bette auf. Diese Frau ist niemand anderes als Cosima. Walther Stolzing, der neue Künstler von Gottes Gnaden, nimmt Eva dem Hans Sachs weg, dem wahren Dichter und Sänger, dem einzigen, der seine Kunst versteht. Wagner wußte, daß er, Franzi, von seinen Kindern Cosima stets am liebsten gehabt hatte. Jetzt nimmt er sie ihm. Und unter Beckmesser ist nicht mehr Hanslick zu verstehen, sondern der linkische, weinerliche arme Hans, den dieser Tyrann in seiner tiefsten Seele verachtet.

Franzi empfand einen brennenden Schmerz. Der Gedanke, daß dieser Mensch Cosima begehrte, erfüllte ihn mit wahnsinnigem Zorn. Und er fühlte auch einen mächtigen Zorn gegen Cosima in sich hochsteigen bei dem Gedanken, daß der Münchner Klatsch vielleicht doch nicht jeden Grundes entbehrte. Dieser unglückliche Hans sperrte die beiden in seiner blinden Begeisterung ja förmlich zusammen. Er selbst schickte seine Frau ja allein nach Triebschen zu Wagner. Fürchterlich. Wenn das wahr war, was sollte dann mit dem seelischen Gleichgewicht Bülows werden?

Über den auf ihn einstürmenden Gedanken konnte er bis zum Morgengrauen nicht einschlafen. Und er beschoß, sich am anderen Tage über diese Angelegenheit unbedingt Klarheit zu verschaffen. Er mußte aus Cosima unter allen Umständen die Wahrheit herausholen. Er brauchte ja nur unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Dazu bot sich aber keine Gelegenheit. Er drängte nicht darauf. Er dachte, die passende Stunde werde schon von selbst kommen.

Im Grunde genommen wußte er aber, daß diese Verschleppung nur eine Ausrede vor ihm selber war. Er hatte Angst vor seiner Tochter. Vor dem stolzen, kalten und harten Blick Cosimas wich sogar er zurück. Und ebenso wie in der Liebe, so ist auch im Verhältnis der Eltern zu den Kindern derjenige der schwächere, der den anderen mehr liebt. Er fürchtete, von Cosima eine barsche und zurückweisende Antwort zu erhalten, wenn er sie auszufragen begänne. Und das hätte ihm noch viel mehr weh getan, als dieser quälende Verdacht. Die Liebe Cosimas war ihm wichtiger als alles andere auf dieser Welt. Und er fand auch tatsächlich keine Gelegenheit, mit seiner Tochter vertraulich zu reden. Die Aufführung der Messe, sein Verkehr mit der Gesellschaft in Amsterdam, der Hof der Königin von Holland, nahmen ihn viel zu sehr in Anspruch. Hier mußte er seinen Dank besonders stark betonen, denn seine Messe hatte in dem protestantischen Lande den größten Erfolg. Die Amsterdamer Aufführung war die neunte Aufführung der Messe. Dann mußte er zur Königin zur Audienz. Auch Bülows hatten tausenderlei zu erledigen, und auf die Bitte der Königin mußte er dann noch nach dem Haag fahren. Mit Cosima konnte er nicht sprechen. Nur als sie sich verabschiedeten, sah er ihr tief und forschend in ihre klugen, blauen Augen. Cosima erwiderte diesen Blick standhaft. In ihrer Seele wohnte der Hochmut ihres Vaters.

Über Paris fuhr er nach Rom. Die Zeitungen waren voll mit Nachrichten über die preußisch-österreichische Spannung. Im Juni brach der Krieg aus. Auch Bayern nahm an ihm auf Seite Österreichs teil, desgleichen Italien auf Seiten Preußens. In Rom herrschte außerordentliche Erregung. Franzis Einstellung zum päpstlichen Staat hätte ihm eigentlich eingeben müssen, dem machtgierigen weltlichen Italien eine Niederlage zu wünschen, die Mehrzahl der Einwohner sehnte sich aber danach, Venedig von der Knechtschaft der Habsburger frei zu sehen. Die diplomatischen Salons, in denen sich Franzi bewegte, erhielten jeden Tag genaue Nachrichten. Und er geriet in eine sonderbare Verfassung: seinen Herrscher, Franz Josef, wollte er geschlagen sehen, denn eine österreichische Niederlage hätte der ungarischen Einigung nur genützt. Er wünschte also jenem einen Mißerfolg, den er mit seiner Krönungsmesse zu verherrlichen beabsichtigte. Aber auch während dieser aufregenden Tage dachte er immerzu an Cosima.

Durch seine diplomatischen Freunde bekam er Münchener Zeitungen. Die fielen jetzt einmütig über das Ehepaar Bülow her. Franzi las in Rom den »Neuen Bayrischen Kurier«, der in einem starken Artikel Hans und Cosima angriff. Andere Zeitungen gleichfalls, allesamt wegen Wagner. Der frechste Artikel war im »Volksboten« erschienen. Schonungslos beleidigte diese Zeitung das Ehepaar und schrieb ganz unzweideutig, daß Wagner ein Liebesverhältnis mit Cosima habe.

Als dieser Artikel erschien, was nur Hans in München. Cosima hielt sich in Triebschen bei Wagner auf. Der zu Tode gehetzte Gatte forderte den Redakteur der Zeitung zum Zweikampf; der war aber nicht geneigt, sich zu schlagen. Da wollte er ihn wenigstens zu einer Berichtigung zwingen und bat den ungarischen Musiker Mihalovics zu vermitteln, der sich auf Franzis Anraten Cornelius angeschlossen hatte, um bei ihm weiter zu lernen. Mihalovics übernahm den Auftrag, vermochte aber nichts zu erreichen. Ganz auf sich selbst gestellt, hilflos, rang Hans allein in diesem Skandal und floh schließlich, alles in Stich lassend, wie ein gehetztes Wild zu seiner Frau und seinem Freund. Von dort schrieb er an König Ludwig, er gebe seine Münchner Stellung auf. Mit Richard und Cosima beriet er dann über die Zukunft und beschloß, sich in Basel niederzulassen.

Das alles erfuhr Franzi zusammenhanglos aus Briefen, die auf großen Umwegen eintrafen, und durch unter der Hand besorgte Zeitungen. Er sah noch immer nicht klar. Wie stand es nun in Wahrheit zwischen seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und Wagner? Langsam gewöhnte er sich jedoch an den Gedanken, daß ein Liebesverhältnis zwischen Cosima und Wagner nicht unmöglich wäre. Dieser Gedanke tat ihm noch immer sehr weh, und nach der Art hingebungsvoller Väter empfand er eine quälende Eifersucht gegen Wagner, wie er sie gegen Bülow nie gefühlt hatte. Er verstand das selbst nicht. Er beruhigte sich aber damit, daß es kein größeres Geheimnis gebe, als unsere eigene Seele. Wenn ihn auch der Verdacht unverändert mit lodernder Empörung erfüllte, so konnte er jetzt immerhin schon etwas menschlicher darüber denken. Ganz gleichgültig, wie es sein mochte, nur Cosima sollte glücklich werden.

Inzwischen beendete er die Christus-Symphonie, an der er schon seit Jahren gearbeitet hatte. Er gönnte sich nicht einen einzigen Tag Ruhepause und begann sofort mit der Krönungsmesse, obgleich er die offizielle Aufforderung noch immer nicht erhalten hatte. Wiederum konnte er sein ganzes Vertrauen nur in den Baron Augusz setzen, und obwohl er schon lange hatte warten müssen, irrte er sich auch diesmal nicht. Die verlorene Schlacht bei Königgrätz hatte Franz Josef veranlaßt, die ungarische Angelegenheit nunmehr so schnell als möglich und so gründlich als möglich in Ordnung zu bringen. Die Krönungsfeierlichkeit wurde aktuell, und eines schönen Tages kam ein Brief, in dem Baron Augusz im offiziellen Auftrage bei Franz Liszt die Krönungsmesse bestellte. Und zwar dringend: es war schon März, und die Krönung sollte im Juni stattfinden.

Cosima bekam inzwischen ihr viertes Kind. Auch das war ein Mädchen, und der Großvater in Rom, dessen Gedanken andauernd bei Wagner waren, fragte sich in gequältem und düsterem Nachsinnen, wer wohl der Vater dieses Kindes sei.


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