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Es fordert immer besondere Anstrengung, etwas vergessen zu wollen, was man weiß, von einer höhern Stufe der Anschauung noch einmal sich künstlich zur naiveren zurückzuschrauben – so auch heute schon, sich zurückzuversetzen in die Vorstellungsart, mit der die wissenschaftliche Welt von 1900 den Begriff des Unbewußten handhabte. Daß unsere seelische Leistung mit der bewußten Vernunfttätigkeit keineswegs gänzlich erschöpft sei, daß dahinter noch eine andere Macht gleichsam im Schatten unseres Seins und Denkens wirke, dies hat selbstverständlich auch die frühere, die vorfreudische Seelenkunde schon gewußt. Nur verstand sie mit diesem Wissen nichts anzufangen, denn nie versucht sie, jenen Begriff wirklich in Wissenschaft und Forschung umzusetzen. Die Philosophie jener Zeit befaßt sich mit seelischen Erscheinungen nur insofern, als sie in den Lichtkreis des Bewußtseins treten. Aber es erscheint ihr widersinnig – eine contradictio in adjecto –, etwas Unbewußtes zum Gegenstand des Bewußtseins machen zu wollen. Gefühl gilt ihr erst als Gefühl, sobald es deutlich fühlbar wird, Wille erst, sobald er tätig will; solange seelische Äußerungen sich aber nicht über die Oberfläche des bewußten Lebens erheben, schaltet die Psychologie sie als nicht wägbar aus der Geisteswissenschaft aus.
Freud nimmt den Terminus technicus »unbewußt« in die Psychoanalyse hinüber, aber er gibt ihm einen völlig andern Sinn als die Schulphilosophie. Für Freud ist nicht einzig das Bewußte ein seelischer Akt und demzufolge das Unbewußte eine völlig andere oder gar untergeordnete Kategorie, sondern er betont entschlossen: alle seelischen Akte sind zunächst unbewußte Geschehnisse; diejenigen, die bewußt werden, stellen keine andersgeartete noch übergeordnete Gattung dar, sondern ihr Ins-Bewußtsein-Treten ist nur eine Eigenschaft, die von außen dazukommt wie das Licht auf einen Gegenstand. Ein Tisch bleibt ebenso ein Tisch, ob er in einem dunklen Raum unsichtbar steht oder die eingeschaltete elektrische Kerze ihn wahrnehmbar macht. Das Licht macht sein Vorhandensein nur sinnlich erkennbarer, aber es erzeugt nicht sein Vorhandensein. Zweifellos: man kann ihn in diesem Zustand erhöhter Wahrnehmbarkeit genauer messen als im Dunkel, obwohl auch dort mit einer anderen Methode, jener des Tastens und Befühlens, eine gewisse abgrenzende Wesensfeststellung möglich gewesen wäre. Aber logisch gehört der im Dunkel unsichtbare Tisch ebenso zur Körperwelt wie der sichtbare und in der Psychologie daher das Unbewußte ebenso in den Seelenraum wie das Bewußte. »Unbewußt« heißt demnach bei Freud zum erstenmal nicht mehr unwißbar und tritt in diesem neuen Sinn in den Kreis der Wissenschaft. Durch diese überraschende Forderung Freuds, mit einer neuen Aufmerksamkeit und einer andern methodologischen Apparatur, der Taucherglocke seiner Tiefenpsychologie, unter den Bewußtseinsspiegel hinabzutasten und nicht nur die Oberfläche der seelischen Erscheinungen, sondern auch ihren untersten Grund zu erleuchten, wird die Schulpsychologie endlich wieder wahrhafte Seelenkunde, praktisch anwendbare und sogar heiltätige Lebenswissenschaft.
Diese Entdeckung eines neuen Forschungsraumes, diese fundamentale Umstellung und ungeheure Erweiterung des seelischen Kräftefeldes bedeutet die eigentliche Genietat Freuds. Mit einem Schlage ist die erkennbare Seelensphäre auf ein Vielfaches ihres bisherigen Inhalts ausgeweitet und zu der Oberflächendimension für die Forschung auch eine Welt der Tiefe freigelegt. Durch diese eine, scheinbar geringfügige Umschaltung – immer erscheinen die entscheidenden Ideen nachträglich als einfache und selbstverständliche – verändern sich innerhalb der seelischen Dynamik alle Maße. Und wahrscheinlich wird eine künftige Geistesgeschichte diesen schöpferischen Augenblick der Psychologie jenen großen und weltwendenden zuordnen, wie sie bei Kant und Kopernikus mit einer einzigen Verschiebung des geistigen Blickwinkels die ganze Denkanschauung der Zeit veränderten. Denn schon heute empfinden wir das Seelenbild der Universitäten zu Anfang des Jahrhunderts so holzschnitthaft plump, so falsch und eng wie eine ptolemäische Landkarte, die einen armen Bruchteil des geographischen Weltalls schon unsern ganzen Kosmos nennt. Ganz wie jene naiven Kartographen bezeichnen die vorfreudischen Psychologen jene unerforschten Kontinente einfach als Terra incognita, »unbewußt« gilt ihnen als Ersatzwort für unwißbar und unerkennbar. Irgendein dunkles, dumpfes Reservoir des Seelischen muß irgendwo sein, so vermuten sie, in das unsere ungenutzten Erinnerungen abfließen, um dort zu verschlammen, ein Lagerraum, in dem das Vergessene und Ungenützte eigentlich zwecklos herumliegt, ein Materialdepot, aus dem sich allenfalls ab und zu die Erinnerung irgendeinen Gegenstand ins Bewußtsein herüberholt. Die Grundanschauung der vorfreudischen Wissenschaft aber ist und bleibt: diese unbewußte Welt sei an sich völlig passiv, völlig untätig, nur abgelebtes, abgestorbenes Leben, eine abgetane Vergangenheit und somit ohne jeden Einfluß, ohne jede Kraft auf unsere geistige Gegenwart.
Gegen diese Auffassung setzt Freud die seine: das Unbewußte ist durchaus nicht Abfall des seelischen Lebens, sondern der Urstoff selbst, von dem nur ein winziger Teil die Lichtfläche des Bewußtseins erreicht. Aber der nicht in Erscheinung tretende Hauptteil, das sogenannte Unbewußte, ist darum keineswegs abgestorben oder undynamisch. Es wirkt in Wahrheit genau so aktiv und lebendig auf unser Denken und Fühlen, ja es stellt vielleicht sogar den lebensplastischeren Teil unserer seelischen Existenz dar. Wer deshalb das unbewußte Wollen nicht bei allen Entschließungen mit einrechnet, der sieht irrig, weil er damit den wesentlichsten Antrieb unserer inneren Spannungen aus der Berechnung läßt; so wie man die Stoßkraft eines Eisbergs nicht nach dem Bruchteil einschätzen darf, der von ihm oberhalb der Wasserfläche zutage tritt (die eigentliche Wucht bleibt unter dem Spiegel verdeckt), so narrt sich selbst, wer vermeint, unsere taghellen Gedanken, unsere wissenden Energieen bestimmten allein unser Fühlen und Tun. Unser ganzes Leben schwebt nicht frei im Element des Rationalen, sondern steht unter dem ständigen Druck des Unbewußten; jeder Augenblick schwemmt von scheinbar vergessenen Vergangenheiten eine Welle hinein in unseren lebendigen Tag. Nicht in dem allherrlichen Maße, wie wir es vermeinen, gehört unsere Oberwelt dem wachen Willen und der planenden Vernunft, sondern aus jener dunklen Wolke zucken die Blitze der eigentlichen Entscheidungen, aus der Tiefe jener Triebwelt kommen die jähen Erdstöße, die unser Schicksal erschüttern. Dort unten haust geballt nebeneinander, was in der bewußten Sphäre durch die gläsernen Grenzen der Kategorieen Raum und Zeit getrennt ist; Wünsche einer verschollenen Kinderzeit, die wir längst begraben meinen, gehen dort gierig um und brechen manchmal heiß und hungrig in unsern Tag hinein; Schreck und Angst, längst vergessen im wachen Sinn, schmettern ihre Schreie plötzlich unvermutet die Leitung der Nerven hinauf, Begierden und Wünsche nicht nur der eigenen Vergangenheit, sondern vermoderter Geschlechter und barbarischer Ahnen verstricken sich dort wurzelhaft in unserem Wesen. Aus der Tiefe kommen die eigentlichsten unserer Taten, aus dem uns selbst Geheimen die plötzlichen Erhellungen, das Übermächtige über unsere Macht. Unkund uns selbst, wohnt dort im Dämmer jenes uralte Ich, von dem unser zivilisiertes Ich nicht mehr weiß oder nicht wissen will; plötzlich aber reckt es sich auf und durchstößt die dünnen Schichten der Kultur, und seine Instinkte, die urtümlichen und unzähmbaren, strömen dann gefährlich ein in unser Blut, denn es ist der Urwille des Unbewußten, aufzusteigen gegen das Licht, bewußt zu werden und sich in Taten zu entladen: »Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein.« In jeder Sekunde, bei jedem Wort, das wir sprechen, bei jeder Tat, die wir tun, müssen wir unbewußte Regungen unterdrücken oder vielmehr zurückdrücken; unablässig hat sich unser ethisches oder zivilisatorisches Gefühl zu wehren gegen den barbarischen Lustwillen der Instinkte. Und so erscheint – großartige Vision, von Freud zum erstenmal beschworen – unser ganzes seelisches Leben als ein unablässiger und pathetischer, ein nie endender Kampf zwischen bewußtem und unbewußtem Wollen, zwischen verantwortlichem Tun und der Unverantwortlichkeit unserer Triebe. Aber auch das scheinbar Unbewußte hat in jeder seiner Äußerungen, selbst wenn sie uns unverständlich bleiben, einen bestimmten Sinn; diesen Sinn seiner unbewußten Regungen nun erkennbar zu machen für jedes Individuum, fordert Freud als die zukünftige Aufgabe einer neuen und notwendigen Seelenkunde. Erst wenn wir die unterweltlichen Bezirke eines Menschen erhellen können, wissen wir um seine Gefühlswelt: erst wenn wir bis zum Untergrund einer Seele hinabsteigen, können wir den eigentlichen Grund ihrer Störungen und Verstörungen ermitteln. Was der Mensch bewußt weiß, braucht ihn der Psychologe und der Psychotherapeut nicht zu lehren. Nur dort, wo er sein Unbewußtes nicht kennt, kann der Seelenarzt ihm wahrhaft Helfer werden.
Wie aber hinab in diese Dämmerreiche? Die zeitgenössische Wissenschaft weiß keinen Weg. Sie verneint schroff die Möglichkeit, Phänomene des Unterbewußtseins mit ihren auf mechanische Exaktheit eingestellten Apparaten erfassen zu können. Nur im Taglicht, nur in der Bewußtseinswelt konnte darum die alte Psychologie ihre Untersuchungen führen. Am Sprachlosen oder bloß traumhaft Sprechenden aber ging sie gleichgültig und ohne Blick vorbei. Freud nun bricht diese Auffassung wie ein morsches Holz und wirft sie in den Winkel. Nach seiner Überzeugung ist das Unbewußte nicht stumm. Es spricht, freilich in andern Zeichen und Symbolen als die Bewußtseinssprache. Darum muß, wer von seiner Oberfläche hinab will in seine eigene Tiefe, zunächst die Sprache jener neuen Welt erlernen. Wie die Ägyptologen an der Tafel von Rosette, beginnt Freud einzeln Zeichen um Zeichen zu übertragen, ein Vokabular und eine Grammatik jener Sprache des Unbewußten sich auszuarbeiten, um jene Stimmen verständlich zu machen, die hinter unsern Worten und unserm Wachsein mahnend oder verlockend mitschwingen und denen wir meistens verführter verfallen als unserm lauten Willen. Wer aber eine neue Sprache versteht, begreift auch einen neuen Sinn. So eröffnet Freuds neues Verfahren der Tiefenpsychologie eine unerkannte geistige Welt: erst durch ihn wird wissenschaftliche Psychologie aus bloßer erkenntnistheoretischer Beobachtung der Bewußtseinsvorgänge zu dem, was sie immer hätte sein müssen: zu Seelenkunde. Nicht länger liegt mehr die eine Hemisphäre des innern Kosmos unbeachtet im Mondschatten der Wissenschaft. Und in dem Grade, wie sich die ersten Umrisse des Unbewußten deutsam erhellen, offenbart sich immer untrüglicher ein neuer Einblick in die großartig sinnvolle Struktur unserer geistigen Welt.