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Jede Bedrängnis der Natur ist eine Erinnerung höherer Heimat.
Novalis
Gesundheit ist für den Menschen das Natürliche, Krankheit das Unnatürliche. Gesundheit, sie nimmt der Körper als Selbstverständliches hin wie seine Lunge die Luft, wie sein Auge das Licht; stumm lebt und wächst sie mit im allgemeinen Gefühle des Lebens. Krankheit aber, sie drängt plötzlich als Fremdes herein, von ungefähr stürzt sie über die erschrockene Seele und rüttelt in ihr eine Fülle von Fragen wach. Denn da er von anderswo kommt, der schlimme Feind, wer hat ihn gesendet? Wird er bleiben, wird er weichen? Kann man ihn beschwören, erbitten oder bemeistern? Mit harten Krallen preßt die Krankheit dem Herzen die gegensätzlichsten Gefühle ab: Furcht, Glauben, Hoffnung, Verzagen, Fluch, Demut und Verzweiflung. Sie lehrt den Kranken fragen, denken und beten, seinen verschreckten Blick ins Leere aufheben und ein Wesen erfinden, dem er seine Angst entgegenträgt. Erst das Leiden hat der Menschheit das Gefühl der Religion, den Gedanken eines Gottes erschaffen.
Weil Gesundheit dem Menschen naturhaft zugehört, erklärt sie sich nicht und will nicht erklärt sein. Seinem Leiden aber sucht jeder Gequälte jedesmal einen Sinn. Denn daß die Krankheit sinnlos über sie falle, daß unverschuldet, ohne Ziel und Zweck plötzlich der Leib im Fieber brenne und bis in die Eingeweide hinab glühende Schmerzmesser wühlen – diesen ungeheuren Gedanken einer völligen Sinnlosigkeit des Leidens, der allein schon die moralische Weltordnung vernichtete, hat die Menschheit niemals zu Ende zu denken gewagt. Krankheit erscheint ihr allemal von jemandem gesendet, und der Unfaßbare, der sie schickt, muß ihrer Meinung nach einen Grund haben, sie gerade in diesen einen irdischen Leib zu jagen. Irgend jemand muß dem Menschen böse sein, ihm zürnen, ihn hassen. Irgend jemand will ihn strafen für irgendeine Schuld, für einen Frevel, für ein übertretenes Gebot. Und das kann nur derselbe sein, der alles kann, derselbe, der die Blitze vom Himmel wirft, der Frost und Hitze über die Felder gießt und die Sterne entzündet oder verhüllt, ER, der alle Macht hat, der Allmächtige: Gott. Vom ersten Ursprung an ist darum das Geschehnis der Krankheit unlösbar dem Gefühl des Religiösen verbunden.
Die Götter senden die Krankheit, die Götter allein können sie wieder nehmen: dieser Gedanke steht unverrückbar am Eingang aller Heilkunde. Seines eigenen Wissens noch völlig unbewußt, hilflos, arm, einsam und schwach steht der Mensch der Urzeit im Feuerbrand seines Gebrests und weiß keine Hilfe, als seine Seele im Schrei zu dem Zaubergott zu erheben, daß er von ihm ablasse. Nur den Schrei, das Gebet, die Opfertat weiß der primitive Mensch als Heilmittel. Man kann sich nicht wehren gegen Ihn, den Übergewaltigen, den Unbekämpfbaren im Dunkel: also muß man sich demütigen, seine Verzeihung erlangen, ihn anflehen, ihn erbitten, daß er den Schmerzensbrand wieder aus dem Fleische nehme. Aber wie ihn erreichen, den Unsichtbaren? Wie zu ihm sprechen, dessen Hausung man nicht kennt? Wie ihm Zeichen geben der Reue, der Unterwürfigkeit, des Gelobens und der Opferwilligkeit, Zeichen, die ihm verständlich sind? Das weiß es nicht, das arme, unbelehrte dumpfe Herz der Menschheitsfrühe. Ihm, dem Unwissenden tut sich Gott nicht auf, in sein niederes Tagwerk beugt er sich nicht hinab, ihn würdigt er nicht seiner Antwort, ihm leiht er nicht sein Ohr. So muß in seiner Not der ratlose, machtlose Mensch sich einen andern Menschen als Mittler zu Gott suchen, einen weisen und erfahrenen, der Spruch und Zauber kennt, um die dunklen Mächte zu versöhnen, die zürnenden zu begütigen. Und dieser Mittler ist in der Zeit der primitiven Kulturen einzig der Priester.
Kampf um die Gesundheit bedeutet also in der Urzeit der Menschheit nicht Kämpfen gegen die einzelne Krankheit, sondern ein Ringen um Gott. Alle Medizin der Erde beginnt als Theologie, als Kult, Ritual und Magie, als seelische Gegenspannung des Menschen gegen die von Gott gesandte Prüfung. Dem körperlichen Leiden wird nicht eine technische Handreichung, sondern ein religiöser Akt dawidergesetzt. Man untersucht die Krankheit nicht, sondern man sucht Gott. Man behandelt nicht ihre Schmerzerscheinungen, sondern sucht sie wegzubeten, wegzusühnen, sie dem Gott mit Gelöbnissen, Opfern und Zeremonieen abzukaufen, denn nur auf übersinnlichem Wege, wie sie gekommen, kann sie wieder weichen. So tritt noch eine volle Einheit des Gefühls der Einheit der Erscheinung entgegen. Es gibt nur eine Gesundheit und eine Krankheit und für diese wiederum nur eine Ursache und eine Heilung: Gott. Und zwischen Gott und dem Leiden gibt es nur ein und denselben Mittler: den Priester, diesen Behüter zugleich des Leibes und der Seele. Die Welt ist noch nicht zersplittert, noch nicht zweigeteilt, Glaube und Wissen bilden in der heiligen Stätte des Tempels noch eine einzige Instanz: Erlösung vom Leiden kann nicht vollbracht werden ohne gleichzeitigen Einsatz der seelischen Kräfte, ohne Ritus, Beschwörung und Gebet. Darum üben, kundig des geheimnisvollen Ganges der Sterne, Belauscher und Deuter der Träume, Meister der Dämonen, die Priester ihre ärztliche Kunst nicht als praktische Wissenschaft, sondern ausschließlich als Geheimnis. Unerlernbar, nur dem Geweihten überlieferbar, vererbt sie sich bei ihnen von Geschlecht zu Geschlecht, und obwohl sie medizinisch viel aus Erfahrung wissen, erteilen die Priester niemals einen bloß sachlichen Rat; immer fordern sie Heilgeschehen als Wunder und darum geweihte Stätte, Erhobenheit des Herzens und die Gegenwart der Götter. Nur gereinigt und geweiht an Leib und Seele darf der Kranke den Heilspruch empfangen: die Pilger, die zum Tempel in Epidaurus ziehen, weiten mühseligen Weg, müssen den Vorabend im Gebet verbringen, den Leib baden, jeder ein Opfertier schlachten, im Vorhof auf dem Fell des geopferten Widders schlafen und die Träume dieser Nacht zur Deutung dem Priester berichten: dann erst erteilt er ihnen gleichzeitig priesterliche Weihe und ärztliche Heilhilfe. Immer aber wird als erstes, unumgängliches Unterpfand alles Heilens die gläubige Annäherung der Seele an Gott gesetzt; wer das Wunder der Genesung will, muß sich dem Wunderbaren bereiten. Heillehre bleibt in ihrem Ursprung unlösbar von Gotteslehre, Medizin und Theologie sind anfangs ein Leib und eine Seele.
Diese Einheit des Anfangs wird bald gebrochen. Denn um selbständig zu werden und zwischen der Krankheit und dem Kranken praktischen Mittlerdienst zu übernehmen, muß die Wissenschaft die Krankheit ihres göttlichen Ursprungs entkleiden und die religiöse Einstellung – Opfer, Kult, Gebet – als völlig überflüssig ausschalten. Der Arzt stellt sich neben den Priester und bald gegen ihn – die Tragödie des Empedokles –, und indem er das Leiden aus dem Übersinnlichen in das allgemeine Naturgeschehen zurückführt, sucht er auch mit diesseitigen Mitteln, mit den Elementen der äußern Natur, ihren Kräutern, Säften und Erzen die Störung der inneren zu beheben. Der Priester beschränkt sich auf den Gottesdienst und läßt von der Krankenheilung, der Arzt verzichtet auf jede seelische Einwirkung, auf Kult und Magie: gesondert fließen fortab diese beiden Ströme jeder seinen eigenen Weg. Mit diesem großen Bruch der einstmaligen Einheit erhalten alle Elemente der Heilkunde sofort einen völlig neuen und umfärbenden Sinn. Vor allem zerfällt das seelische Gesamtphänomen »Krankheit« in unzählige einzelne genau katalogisierte Krankheiten. Und damit löst sich ihr Dasein gewissermaßen von der seelischen Persönlichkeit des Menschen los. Krankheit bedeutet jetzt nicht mehr etwas, was dem ganzen Menschen, sondern was einem seiner Organe zustößt. – (Virchow auf dem Kongreß zu Rom: »Es gibt keine Allgemeinkrankheiten, sondern nur mehr Organ- und Zellenkrankheiten.«) – Und so verändert sich naturgemäß die anfängliche Mission des Arztes, bezwingend der Krankheit als einer Ganzheit entgegenzutreten, zu der eigentlich geringeren Aufgabe, jedes Leiden ursächlich zu lokalisieren und einer systematisch längst gegliederten und beschriebenen Krankheitsgruppe zuzuweisen. Sobald der Arzt das Leiden diagnostisch richtig erkennt und beim Namen nennt, hat er das Eigentliche seiner Leistung schon meist zu Ende getan, und die Behandlung erledigt sich dann von selbst durch die für diesen »Fall« vorausbefohlene Therapie. Vollkommen abgelöst vom Religiösen, vom Magischen, ein erstudiertes Erkenntniswissen, arbeitet die moderne Medizin statt mit individuellen Ahnungen mit sachlichen Sicherheiten, und wenn sie sich auch noch gern poetisch als »ärztliche Kunst« bezeichnet, so darf dies hohe Wort nur noch im gemengten Sinn von Kunsthandwerk gelten. Denn längst fordert die Heilkunde von ihren Jüngern kein priesterliches Auserwähltsein mehr wie einst, keine geheimnisvoll visionären Kräfte, keinen übergewöhnlichen Einklang mit den universalen Mächten der Natur: Berufung ist Beruf geworden, Magie zum System, das Heilgeheimnis zu Arzneikunde und Organwissenschaft. Nicht mehr als seelischer Akt, als jedesmal wunderbares Ereignis vollzieht sich eine Heilung, sondern als reine und beinahe rechnerische Vernunfthandlung von Seiten des Arztes; das Erlernte ersetzt das Spontane, das Schulbuch den Logos, den geheimnisvoll schöpferischen Priesterspruch. Wo das alte magische Heilverfahren höchste Seelenspannung forderte, erheischt die neue, die klinisch-diagnostische Methode vom Arzte das Gegenteil, nämlich nervenlose Helligkeit des Geistes bei vollkommenster sachlichster Seelenruhe.
Diese unvermeidliche Versachlichung und Verfachlichung des Heilprozesses mußte im neunzehnten Jahrhundert zu noch übertriebenerer Steigerung gelangen: denn zwischen den behandelten und behandelnden Menschen schiebt sich ein drittes, ein vollkommen seelenloses Wesen ein: der Apparat. Immer entbehrlicher wird der durchschauende und die Symptome schöpferisch zusammenfassende Blick des geborenen Arztes für die Diagnose: das Mikroskop entdeckt für ihn den bakteriologischen Keim, das Meßinstrument überprüft statt seiner den Schlag und Rhythmus des Bluts, das Röntgenbild erspart ihm die intuitive Schau. Mehr und mehr nimmt das Laboratorium dem Arzt in der Diagnostik ab, was an seinem Berufe noch Persönlichkeitserkenntnis war, und für die Behandlung wieder stellt ihm die chemische Fabrik schon fertig, dosiert und verschachtelt die Arznei bereit, die der Medikus des Mittelalters von Fall zu Fall sich eigenhändig mischen, bemessen und errechnen mußte. Die Übermacht der Technik, die in die Medizin zwar später als überallhin, aber schließlich doch sieghaft eindringt, versachlicht den Heilprozeß zu einem – großartig nuancierten und tabellierten – Schema: allmählich wird Krankheit, einstmals Einbruch des Außerordentlichen in die Persönlichkeitswelt, gerade das Gegenteil dessen, was sie in ihrem Urbeginn der Menschheit gewesen, sie wird meist ein »gewöhnlicher«, ein »typischer« Fall mit vorausberechneter Dauer und mechanisiertem Ablauf, ein vernunftmäßig errechenbares Exempel. Zu dieser Rationalisierung von innen heraus tritt als mächtige Ergänzung die äußere durch Organisation; in den Kliniken, diesen Riesenwarenhäusern des menschlichen Elends, werden die Krankheiten genau wie in jenen geschäftlichen Betrieben nach Spezialabteilungen mit eigenen Betriebsleitern gesondert und ebenso die Ärzte aufgeteilt, laufende Bänder, die, von Bett zu Bett sausend, die einzelnen »Fälle«, immer nur das kranke Organ untersuchen, meist ohne Zeit, dabei einen Blick in das Antlitz des Menschen zu tun, aus dem das Leiden wächst. Die Mammutorganisationen der Krankenkassen, der Ambulatorien tragen ihr weiteres Teil zu dieser Entseelung und Entpersönlichung bei: ein überheizter Massenbetrieb entsteht, wo nicht ein einziger Funke innerlichen Kontakts zwischen Arzt und Patienten Zeit hat, zu zünden, wo auch nur ein Aufzucken jener magnetischen Geheimniskraft zwischen Seele und Seele bei bestem Willen immer unmöglicher wird. Als fossiles, vorweltliches Wesen stirbt dagegen der Hausarzt aus, dieser einzige, der noch den Menschen im Kranken kannte, nicht nur seinen körperlichen Zustand, seine Anlage und ihre Veränderungen, sondern auch seine Familie und damit manche seiner biologischen Bedingtheiten – er, der letzte, in dem noch etwas von der alten Dualität des Priesters mit dem Heilhelfer war. Aber die Zeit stößt ihn vom rollenden Band. Er widerspricht dem Gesetz der Spezialisierung, der Systematisierung wie die Pferdedroschke dem Automobil. Er paßt, als zu menschlich, nicht mehr in die fortgeschrittene Mechanik der Medizin.
Gegen diese Entpersönlichung und vollkommene Entseelung der Heilkunde hat sich die breite, zwar unwissende, aber doch ahnungsvolle Masse des eigentlichen Volkes seit je gewehrt. Genau wie vor Tausenden von Jahren blickt heute der primitive, der noch nicht genug »gebildete« Mensch die Krankheit als etwas Übernatürliches ehrfürchtig an, noch immer setzt er ihr den seelischen Akt des Hoffens, Fürchtens, des Betens und Gelobens entgegen, noch immer ist sein erster verbindender Gedanke nicht Infektion oder Arterienverkalkung, sondern Gott. Kein Lesebuch und kein Schullehrer wird ihn jemals überreden können, daß Krankheit auf »natürlichem« Wege, also völlig sinnlos und unverschuldet entstehe; und darum mißtraut er von vornherein jeder Praxis, die auf nüchternem, technischem, auf kaltem – das ist: seelenlosem – Wege Krankheit zu beseitigen verspricht. Die Ablehnung des gelernten Hochschularztes durch das Volk entspringt zutiefst dem Verlangen – einem Erbmasseninstinkt – nach dem universal verbundenen, Tier und Pflanzen verschwisterten, geheimniskundigen »Naturarzt«, der aus seiner Natur heraus, nicht durch Staatsexamina Arzt und Autorität geworden ist; das Volk will noch immer statt des Fachmannes, der ein Wissen von den Krankheiten, den »medizinischen Menschen«, der »Macht« hat über die Krankheit. Mag auch längst der Hexen- und Teufelswahn sich im elektrischen Licht verflüchtigt haben, der Glaube an diesen wunderhältigen, zaubermächtigen Menschen ist viel weiter, als man sich öffentlich zugibt, lebendig geblieben. Und dieselbe erschütterte Ehrfurcht, die wir dem Genie, dem unbegreiflich schaffenden Menschen in einem Beethoven, einem Balzac, einem Van Gogh entgegenbringen, sie konzentriert noch heute das Volk auf jeden, in dem es höhere Heilkräfte als die normalen zu fühlen vermeint – noch immer begehrt es statt des kalten Mittels den warmblütigen lebenden Menschen, von dem »Macht ausgeht«, als Mittler. Kräuterfrau, Schäfer, Besprecher und Magnetiseur, eben weil sie nicht als Wissenschaft, sondern als Kunst und überdies als verbotene Schwarzkunst ihr Heilamt ausüben, reizen stärker sein Vertrauen als der pensionsberechtigte wohlstudierte Gemeindearzt im Dorfe. Im gleichen Grade wie die Medizin technischer, vernunfthafter, lokalisierender wird, wehrt sich um so heftiger gegen sie der Instinkt der breiten Masse: dunkel und unterirdisch geht in den Tiefen des Volks seit Jahrhunderten diese Strömung gegen die akademische Medizin trotz aller Volksschulbildung weiter und weiter.
Diesen Widerstand spürt die Wissenschaft seit langem und bekämpft ihn, aber vergeblich. Es hat nichts geholfen, daß sie sich sogar der Staatsmacht verbündete und ein Gesetz gegen Kurpfuscher und Naturheiler erzwang: Bewegungen, die im untersten Grunde religiös sind, lassen sich niemals durch Paragraphen gänzlich ersticken. Im Schatten des Gesetzes wirken heute wie in mittelalterlichen Zeiten unzählige ungraduierte, im staatlichen Sinne also unrechtsmäßige Heilhelfer weiter, unablässig plänkelt der Guerillakrieg zwischen Naturheilverfahren, religiösen Heilungen und der wissenschaftlichen Therapie. Ihre eigentlich gefährlichen Gegner aber sind der akademischen Wissenschaft nicht aus den Bauernstuben und Zigeunerlagern erwachsen, sondern aus ihren eigenen Reihen; wie die Französische Revolution und jede andere ihre Führer nicht aus dem Volke nahm, sondern die Herrschaft des Adels eigentlich erschüttert wurde durch die Adeligen, die gegen ihn Partei nahmen, so sind auch in der großen Revolte gegen den übersteigerten Spezialismus der Schulmedizin immer einzelne unabhängige Ärzte die entscheidenden Wortführer gewesen. Der erste, der gegen die Entseelung, gegen die Entschleierung des Heilwunders kämpft, ist Paracelsus. Mit dem Morgenstern seiner bäurischen Grobheit geht er gegen die »Doctores« los und schuldigt ihr papierenes Buchwissen an, den Mikrokosmos im Menschen wie eine künstliche Uhr zerlegen und wieder zusammenstückeln zu wollen. Er bekämpft den Hochmut, das dogmatisch Autoritative einer Wissenschaft, die jeden Zusammenhang mit der hohen Magie der natura naturans verloren habe, die Elementarkräfte weder ahne noch achte und das Strömende nicht spüre, das von der Einzelseele wie von der Weltseele ausgehe. Und so dubios auch seine eigenen Rezepturen heute anmuten, der geistige Einfluß dieses Mannes wächst gleichsam unter der Haut der Zeit weiter und bricht dann zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der sogenannten »romantischen« Medizin vor, die, eine Seitengruppe der philosophisch-dichterischen Bewegung, wieder einer höheren Vereinheitlichung des Körperlich-Seelischen zustrebt. In ihrem unbedingten Glauben an das Universal-Beseelte der Natur verficht sie die Überzeugung, die Natur selbst sei die weiseste Heilerin und benötige den Menschen höchstens als Beihelfer. Wie das Blut gegen jedes Gift, von keinem Chemikus belehrt, sich Antitoxine schaffe, so wisse der sich selbst erhaltende und sich selbst umgestaltende Organismus meist völlig allein mit seiner Krankheit fertig zu werden. Hauptsinn aller Menschenmedizin müsse darum werden, den Gang der Natur nicht eigenwillig zu überkreuzen, sondern nur den innen allezeit bereitliegenden Gesundheitswillen im Krankheitsfalle zu verstärken. Dieser Impuls könne aber auf seelischem, auf geistigem, auf religiösem Wege oftmals ebenso eindringlich bewirkt werden wie durch grobe Apparatur und das chemische Mittel; die eigentliche Leistung geschehe in Wahrheit doch immer nur von innen, nie von außen. Die Natur selbst sei der »innere Arzt«, den jeder seit seiner Geburt in sich trage und der darum mehr von den Krankheiten wisse als der Spezialist, der nur von außen den Symptomen nachtastet – zum erstenmal ist Krankheit, der Organismus und das Heilproblem durch die romantische Medizin wieder als Einheit gesehen. Eine ganze Reihe von Systemen entwächst im neunzehnten Jahrhundert dieser Uridee vom Selbstwiderstand des Organismus gegen die Krankheit. Mesmer gründet seine magnetische Lehre auf den »Gesundheitswillen« im Menschen, die Christian Science auf die produktive Glaubenskraft der Selbsterkenntnis, und wie diese Heilmeister die innere, so verwenden andere die äußere Kraft der Natur: die Homöopathen die unvermengten Stoffe, Kneipp und die andern Naturheillehrer die erneuernden Elemente Wasser, Sonne, Licht; alle aber verzichten sie einhelligermaßen auf jede chemische Medikamentierung, auf alle Apparatur und damit auf die entscheidenden neuzeitlichen Errungenschaften der Wissenschaft. Der gemeinsame Gegensatz aller dieser Naturheilungen, Wunderkuren und »Heilungen durch den Geist« gegen die schulmäßige Lokalpathologie, läßt sich in eine einzige knappe Formel fassen. Die wissenschaftliche Medizin betrachtet den Kranken und seine Krankheit als Objekt und weist ihm beinahe verächtlich die Rolle absoluter Passivität zu; er hat nichts zu fragen und nichts zu sagen, nichts zu tun als den Anordnungen des Arztes gehorsam und sogar gedankenlos zu folgen und sich selbst möglichst aus der Behandlung auszuschalten. In diesem Wort »Behandlung« liegt der Schlüssel. Denn während in der wissenschaftlichen Medizin der Kranke als Objekt » behandelt« wird, verlangt die seelische Heilkur vom Kranken vor allem, daß er selbst seelisch handle, daß er als Subjekt, als Träger und Hauptvollbringer der Kur, die höchste ihm mögliche Aktivität gegen die Krankheit entfalte. In diesem Aufruf an den Kranken, sich selbst seelisch aufzuraffen, sich zur Willenseinheit zusammenzufassen und diese Ganzheit seines Wesens der Ganzheit der Krankheit entgegenzuwerfen, besteht das eigentliche und einzige Medikament aller psychischen Kuren, und meist beschränkt sich der Hilfsakt ihrer Meister auf nichts anderes als auf das gesprochene Wort. Wer aber weiß, welche Wunder der Logos, das schöpferische Wort, zu wirken vermag, diese zauberische Schwingung der Lippe ins Leere, die doch unzählige Welten erbaut und unzählige Welten zerstört hat, den wird es nicht erstaunen, daß auch in der Heilkunst wie in allen andern Sphären einzig durch das Wort zahllose Male wahrhafte Wunder geschehen sind, daß bloß durch Zuspruch und Blick, diese Sendezeichen von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, manchmal in völlig niedergebrochenen Organen Gesundheit noch einmal nur durch den Geist auferbaut werden konnte. Durchaus wunderbar, sind solche Heilungen weder Wunder noch Einmaligkeiten, sondern sie spiegeln nur undeutlich ein uns noch geheimes Gesetz höherer Zusammenhänge zwischen Körper und Seele, die vielleicht kommende Zeiten deutlicher ergründen werden; genug schon dies für unsere Zeit, daß sie die Möglichkeit der Kuren auf rein seelischem Wege nicht länger leugnet und eine gewisse befangene Ehrfurcht Erscheinungen zollt, die rein wissenschaftlich nicht zu deuten sind.
Diese eigenwilligen Absonderungen einzelner Heilmeister von der akademischen Medizin gehören für mein Empfinden zu den interessantesten Episoden der Kulturgeschichte. Denn nichts innerhalb der Geschichte, der tatsachenhistorischen wie jener des Geistes, läßt sich an dramatischer Kraft der seelischen Leistung vergleichen, wenn ein einzelner, schwacher, isolierter Mensch sich allein gegen eine riesige, die ganze Welt umspannende Organisation auflehnt. Ob Spartakus, der geprügelte Sklave, gegen die Legionen und Kohorten des Römerreichs oder Pugatschew, der arme Kosak, gegen das gigantische Rußland oder Luther, der breitstirnige Augustinermönch, gegen die allmächtige fides catholica – immer wenn ein Mensch nichts als seine eigene innere Glaubenskraft gegen alle verbündeten Mächte der Welt einzusetzen hat und sich in einen Kampf wirft, der unsinnig scheint in seiner völligen Aussichtslosigkeit, gerade dann teilt sich seine Seelenspannung schöpferisch den Menschen mit und schafft aus dem Nichts unermeßliche Kräfte. Jeder unserer großen Fanatiker für die »Heilung durch den Geist« hat Hunderttausende um sich geschart, jeder mit seinen Taten und Heilungen das Bewußtsein der Zeit erregt und erschüttert, von jedem sind mächtige Strömungen in die Wissenschaft übergegangen. Phantastisch, sich die Situation auszudenken: in einem Zeitalter, da die Medizin dank einer märchenhaften Ausgestaltung ihrer Technik tatsächliche Wunder vollbringt, da sie die winzigsten Atome und Moleküle lebendiger Substanz zu zerteilen, beobachten, photographieren, messen, beeinflussen und zu verändern gelernt hat, da ihr alle andern exakten Naturwissenschaften hilfreich Gefolgschaft leisten und nichts Organisches mehr Geheimnis scheint – gerade in diesem Augenblick zeigt eine Reihe unabhängiger Forscher die Überflüssigkeit dieser ganzen Apparatur in vielen Fällen. Sie tun öffentlich und unwiderlegbar dar, daß auch heute mit nackten Händen nur auf seelischem Wege Heilungen genau so wie einst erzielt werden können, sogar in solchen Fällen, wo vor ihnen die großartige Präzisionsmaschinerie der Universitätsmedizin vergebens gearbeitet hatte. Von außen gesehen, ist ihr System unbegreiflich, beinahe lächerlich in seiner Unscheinbarkeit; Arzt und Patient sitzen friedlich beisammen und scheinen bloß zu plaudern. Keine Röntgenplatten, keine Meßinstrumente, keine elektrischen Ströme, keine Quarzlampen, nicht einmal ein Thermometer, nichts ist vorhanden von dem ganzen technischen Arsenal, das den berechtigten Stolz unseres Zeitalters bildet, und doch wirkt ihre uralte Methode oft mächtiger als die fortgeschrittene Therapie. Daß Eisenbahnzüge fahren, hat an der seelischen Konstitution der Menschheit nichts geändert – bringen sie nicht alljährlich zur Grotte von Lourdes Hunderttausende von Pilgern, die dort einzig durch das Wunder genesen wollen? Und daß Hochfrequenzströme erfunden sind, ändert ebensowenig die Seeleneinstellung zum Geheimnis, denn sie zaubern, in den magischen Stab einer seelenfängerischen Persönlichkeit versteckt, 1930 in Gallspach eine ganze Stadt mit Hotels, Sanatorien und Vergnügungsstätten aus dem Nichts um einen einzigen Menschen herum. Keine Tatsache hat so sichtlich wie der tausendfältige Erfolg der Suggestionskuren und sogenannten Wunderheilungen bewiesen, welche ungeheuren Glaubensenergieen noch im zwanzigsten Jahrhundert bereitliegen und wie viel an praktischer Heilungsmöglichkeit von der bakteriologisch und zellular orientierten Medizin durch lange Jahre bewußt vernachlässigt worden ist, weil sie hartnäckig jede Möglichkeit des Irrationalen leugnete und die seelische Selbsthilfe eigenwillig aus ihren exakten Berechnungen ausschloß.
Selbstverständlich hat kein einziges dieser neu-alten Gesundheitssysteme die herrliche, die in ihrer Durchdachtheit und Allfältigkeit unübertreffliche Organisation der modernen Medizin nur einen Augenblick ins Wanken gebracht; der Triumph einzelner seelischer Kuren und Systeme beweist durchaus nicht, daß die wissenschaftliche Medizin an sich unrecht hatte, sondern bloß jener Dogmatismus, der sich immer ausschließlich auf die letztgefundene als die allgültige und einzig mögliche Heilmethode versteifte und jede andere frech als unmodern, unrichtig und unmöglich verhöhnte. Dieser Autoritätsdünkel allein hat einen harten Stoß erlitten. Nicht zuletzt durch die nicht mehr abzuleugnenden Einzelerfolge der hier darzustellenden psychischen Heilmethoden ist eine sehr heilsame Nachdenklichkeit gerade bei den geistigen Führern der Medizin eingetreten. Ein leises, aber selbst für uns Laien schon vernehmbares Zweifeln hat in ihren Reihen begonnen, ob (wie ein Mann vom Range Sauerbruchs öffentlich zugibt) »die rein bakteriologische und serologische Auffassung der Krankheiten nicht die Medizin in eine Sackgasse geführt habe«, ob nicht tatsächlich durch den Spezialismus einerseits und anderseits durch die Vorherrschaft der quantitativen Berechnung statt der Persönlichkeitsdiagnose die Heilkunst sich aus dem Dienst am Menschen langsam in etwas Selbstzweckhaftes und Menschenfremdes umzuwandeln beginne, ob nicht schon – um eine ausgezeichnete Formel zu wiederholen – »der Arzt zu sehr Mediziner geworden sei«. Was man heute als »Gewissenskrise der Medizin« bezeichnet, bedeutet aber durchaus keine enge Fachangelegenheit; sie ist eingebettet in das Gesamtphänomen der europäischen Unsicherheit, in den allgemeinen Relativismus, der, nach Jahrzehnten diktatorischen Behauptens und unbedingten Verwerfens in allen Kategorien der Wissenschaft, die Fachmenschen sich endlich wieder einmal zurückwenden und fragen lehrt. Eine gewisse Weitherzigkeit, sonst den Akademischen bedauerlich fremd, hebt an, sich erfreulich abzuzeichnen: so bringt das ausgezeichnete Buch von Aschner über die »Krise in der Medizin« eine ganze Fülle überraschender Beispiele, wie Kuren, die gestern und vorgestern als mittelalterlich verlacht und angeprangert wurden (etwa der Aderlaß und das Brennen), heute wieder die neuesten und alleraktuellsten geworden sind. Gerechter und endlich neugierig auf ihre Gesetzmäßigkeiten blickt die Medizin auf das Phänomen der »Heilungen durch den Geist«, die noch im neunzehnten Jahrhundert verächtlich von den Graduierten als Schwindel, Lüge und Humbug abgefertigt und verlacht wurden, und ernste Bemühungen sind im Gange, ihre außenseitigen, weil rein psychischen Errungenschaften den exakt klinischen langsam anzupassen. Unverkennbar fühlt man bei den klügsten und menschlichsten unter den Ärzten ein gewisses Heimweh nach dem alten Universalismus, eine Sehnsucht, von der ausschließlichen Lokalpathologie zu einer Konstitutionstherapie zurückzufinden, zum Wissen nicht nur von den Einzelkrankheiten, die den Menschen befallen, sondern von der Persönlichkeit, die dieser Mensch darstellt. Nachdem die schöpferische Wißbegier den Körper und die Zelle als allgemeine Substanz beinahe bis zum Molekül herab erforscht hat, wendet sie endlich wieder den Blick zur Ganzheit des jedesmal andern Krankheitswesens und sucht hinter den lokalen noch höhere Bedingtheiten. Neue Wissenschaften – die Typenlehre, die Physiognomik, die Erbmassenlehre, die Psychoanalyse, die Individualpsychologie – bemühen sich, gerade das Nichtgattungsmäßige jedes Menschen, die einmalige Einheit jeder Persönlichkeit wieder in den Vordergrund der Betrachtung zu drängen, und die Errungenschaften der außerakademischen Seelenkunde, die Phänomene der Suggestion, der Autosuggestion, die Erkenntnisse Freuds, Adlers, beschäftigen immer stärker die Aufmerksamkeit jedes nachdenkenden Arztes.
Seit Jahrhunderten getrennt, beginnen die Ströme der organischen und der seelischen Heilkunde sich einander wieder zu nähern, denn zwangsmäßig kehrt – Goethes Bild der Spirale! – alle Entwicklung auf immer höherer Ebene zum Punkte ihres Ausgangs zurück. Alle Mechanik fragt am Ende nach dem letzten Gesetz ihrer Bewegung, alle Vereinzelung strebt wieder zurück in die Einheit, alles Rationale mündet immer wieder ins Irrationale; und nachdem Jahrhunderte einseitig strenger Wissenschaft Stoff und Form des menschlichen Leibes bis hinab zu den Fundamenten ergründet haben, beginnt wieder die Frage nach »dem Geist, der sich den Körper baut«.
Dieses Buch will keineswegs eine systematische Geschichte sämtlicher seelischen Heilmethoden sein. Mir ist es nur gegeben, Ideen in Gestalten darzustellen. Wie ein Gedanke in einem Menschen Wachstum gewinnt und dann über diesen Menschen hinaus in die Welt, dieses geistig-seelische Geschehnis scheint mir immer eine Idee sinnlicher zu veranschaulichen als jedes historisch-kritische Referieren. Darum habe ich mich begnügt, nur drei Menschen zu wählen, die, jeder auf anderem und sogar gegensätzlichem Wege, das gleiche Prinzip der Heilung durch den Geist an Hunderttausenden verwirklichten: Mesmer durch suggestive Verstärkung des Gesundheitswillens, Mary Baker-Eddy durch die chloroformierende Ekstatik der Glaubenskraft, Freud durch Selbsterkennung und damit Selbstbeseitigung der unbewußt lastenden Seelenkonflikte. Persönlich habe ich keine dieser Heilmethoden weder als Arzt erproben können, noch ist sie an mir als Patienten erprobt worden; an keine bindet mich Fanatismus der Überzeugung oder private Dankbarkeit. So hoffe ich, indem ich ausschließlich aus psychologischer Gestaltungsfreude diese Gestalten darstelle, unabhängig geblieben und im Bilde Mesmers nicht Mesmerist, in jenem Baker-Eddys nicht Christian-Scientist, in jenem Freuds nicht restloser Psychoanalytiker geworden zu sein. Ich bin mir voll bewußt, daß jede dieser Lehren nur wirksam werden konnte durch Übersteigerung ihres Prinzips, daß jede eine überspitzte Form in anderer Überspitzung darstellt, doch getreu Hans Sachsen »sag ich nicht, daß dies ein Fehler sei«. Wie zum Wesen der Welle, daß sie über sich selbst hinaus will, gehört es zur Entwicklungskraft jedes Gedankens, daß er seine äußerste Form sucht. Entscheidend für den Wert einer Idee ist nie, wie sie sich verwirklicht, sondern was sie an Wirklichkeit enthält. Nicht was sie ist, sondern was sie bewirkt. »Nur durch das Extreme« – wunderbares Wort Paul Valérys – »hat die Welt ihren Wert, nur durch das Durchschnittliche ihren Bestand.«
Salzburg 1930