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Die letzte Krise

Jede religiöse Bewegung wird unter Krisen und Spannungen geboren, immer umfiebert gewittrige Atmosphäre ihre Niederkunft in die Welt. Auch Mary Baker bringen jene schöpferischen Stunden der ersten Glaubensgestaltung gefährliche, ja sogar lebensgefährliche Erschütterung der Nerven. Denn zu jäh hat sich der phantastische Umschwung vom Nichts zur Allmacht vollzogen, – gestern noch eine hoffnungslose Kranke, eine Almosenbettlerin, von Mansarde zu Mansarde gejagt, sieht sie sich plötzlich im Brennpunkt überschwenglicher Bewunderung, eine Heilbringerin, eine Heilige fast. Bestürzt, verwirrt, mit brennenden Nerven erfährt jetzt Mary Baker jenes merkwürdige Phänomen, von dem alle Nervenärzte und Psychologen zu berichten wissen, nämlich, daß bei jeder psychischen Behandlung die Patienten zunächst ihre eigene Unruhe, ihre Neurosen und Psychosen zurück auf den Arzt werfen und er die äußerste Gegenkraft aufbieten muß, um nicht selbst seelisch von diesen fremden Hysterieen überflutet zu werden. Mary Baker wird beinahe weggeschwemmt von diesem plötzlichen Erregungszudrang. Erschrocken, überrascht von dem zu großen, zu stürmischen Erfolg, sieht die Frau ihre Nerven so hohem Anspruch nicht gewachsen. Eine Atempause fordert sie darum, einen Augenblick Selbstbesinnens. Inbrünstig beschwört sie ihre Studenten, sie möchten von ihren unaufhörlichen Bekenntnissen, ihren Bitten und Fragen ablassen, sie ertrüge nicht dieses drückend nahe Herandrängen, dieses verzweifelte Sichanklammern. Sie möchten doch Mitleid haben, fleht sie – sie ginge sonst selbst zugrunde: »Those, who call on me mentally, are killing me.« Aber der geistige Überschwang, den sie erweckt, kennt keinen Halt mehr. Mit heißem, brennendem Mund saugen ihre Schüler sich an ihr fest und trinken ihr die Kraft aus dem Leibe. Vergebens wehrt sie ab, flüchtet sogar einmal aus Lynn, »driven into wilderness«, vor dieser unerwarteten, ungewohnten Liebe und schreibt dann von ihrem Zufluchtsort: »Wenn die Schüler weiter an mich denken und mich um Hilfe bitten, werde ich schließlich mich schützen müssen, und zwar so, daß ich mich im geistigen Sinne durch eine Brücke, die sie nicht werden überschreiten können, vollständig von ihnen trenne.« Wie ein Verhungernder plötzlich gebotene Nahrung, statt sie gierig zu schlingen, angewidert erbricht, weil sein Magen durch überlange Entbehrung gereizt und unaufnahmsfähig geworden ist, so antwortet hier ein jahrzehntelang an Einsamkeit gewöhntes Gefühl gegen so plötzliche Bewunderung zunächst mit verzweifeltem Schrecken, mit zuckender Abwehr. Noch hat sie selbst das Wunder ihrer Wirkung nicht verstanden, und schon verlangt man Wunder von ihr. Noch fühlt sie sich kaum heil, und schon will man, daß sie Heilige und Allheilhelferin sei. Diesem wilden Bedrängtsein halten ihre Nerven nicht stand: mit fiebrigen Augen blickt sie nach allen Seiten nach einem, der ihr selber helfen könnte.

Dazu kommt bei dieser Frau klimakterischen Alters noch eine persönliche Unsicherheit. Mehr als ein Jahrzehnt abseits von Männern lebend, immer Witwe oder verlassen, war schon der erste junge Mensch, der räumlich an sie nahekam, Kennedy, ihr trotz seiner Gleichgültigkeit Bedrängnis geworden. Nun steht sie plötzlich von morgens bis nachts in loderndem Kreis von Männern, jungen Männern, und alle diese Männer verwöhnen sie mit Ergebenheit, mit Hingabe, mit Bewunderung. Erschütterten Herzens, leuchtenden Blicks schauen und schauern sie alle auf, kaum daß ihr Kleid die Schwelle streift; jedes Wort, das sie sagt, nehmen sie als Wahrheit, jeden Wunsch als Befehl. Aber gilt – vielleicht nur im Unbewußten gestellte Frage! – gilt diese männliche Verehrung ihr bloß als der geistigen Führerin, gilt sie vielleicht nicht auch der fleischlichen Frau? Unlösbarer Konflikt für ihre harte puritanische Natur, die seit Jahrzehnten sich selbst die Wünsche ihres Körpers verschwieg! Noch scheint, aufgestört durch Kennedy, das Blut der mehr als Fünfzigjährigen nicht völlig zur Ruhe gekommen: jedenfalls, ihr Verhalten zu den Studenten wird völlig gleichgewichtslos, ihr Benehmen wechselt, kalt und heiß, in einem fortwährenden Auf und Ab zwischen intimer Kameradschaft und hart abweisender Despotie. Etwas in ihrem sexuellen Leben ist bei Mary Baker nie ganz geradlinig gewesen: die Gleichgültigkeit, fast möchte man sagen, der Abscheu vor dem eigenen Kinde und der immer erneute Versuch, dieses fehlende Mütterlichkeitsgefühl durch Heirat oder Adoption von jüngern Männern auszugleichen, machen ihre Gefühlswelt sehr rätselhaft. Ihr ganzes Leben lang hat sie immer junge Männer um sich gebraucht, diese Nähe beruhigt und beunruhigt sie zugleich. Immer deutlicher von Woche zu Woche offenbart sich die unterirdische Verstörung in solchen geheim wünschenden Geboten, sich von ihr »abzuwenden«. Schließlich schreibt sie ihrem Lieblingsschüler Spofford, dem einzigen, den sie zärtlicher als die andern beim Vornamen »Harry« nennt, einen explosiven und sehr konfusen, einen in seiner verzweifelten Abwehr völlig verräterischen Brief: »Wollen Sie mich leben lassen, oder wollen Sie mich töten?« schreibt sie dem gänzlich Ahnungslosen, »nur Sie haben meinen Rückfall verschuldet, und ich werde nie davon genesen, wenn Sie sich nicht beherrschen und Ihre Gedanken von mir gänzlich abwenden. Kommen Sie nicht mehr zu mir zurück, ich werde nie einem Mann mehr glauben.«

»Ich werde nie einem Mann mehr glauben« – so schreibt die Überreizte am 30. Dezember 1876 an Spofford. Aber bereits vierundzwanzig Stunden später, am 31. Dezember, wird eben derselbe Spofford durch ein neues Billett überrascht, in dem Mrs. Baker ihm mitteilt, sie habe ihre Ansichten geändert. Sie werde sich morgen mit Asa Gilbert Eddy, einem anderen Schüler, vermählen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hat sich Mary Baker in einen wilden Entschluß geworfen: vor dem völligen Zusammenbruch ihrer Nerven schauernd, klammert sie sich verzweifelt an einen Menschen, an irgendeinen, der ihr gerade zur Hand ist, nur um nicht in Irrsinn zu stürzen, und fordert sein Jawort heraus. An einen, an irgendeinen zufälligen unter ihren Schülern kettet sie sich fest, denn bisher hatte keiner in der Gemeinde das geringste Anzeichen einer besondern Neigung für den um elf Jahre jüngeren Studenten und vormaligen Nähmaschinenagenten, Asa Gilbert Eddy, diesen braven, etwas kranken Kerl mit klaren leeren Augen und einem hübschen Gesicht, bei ihr wahrgenommen und wahrscheinlich auch sie selber nicht. Jetzt aber, knapp vor dem Abgrund, reißt sie mit einem jähen Ruck diesen bescheidenen, unbedeutenden Mann an sich, einen Mann, der selbst bestürzt über die unverständliche Plötzlichkeit ihrer Neigung, dem gleichfalls verblüfften Spofford ehrlich erklärt: » I didn't know a thing about it myself until last night.« Aber selbstverständlich: wie wird ein Student sich gegen eine solche Auszeichnung durch die göttliche Meisterin auflehnen? Aus blinder Hörigkeit gehorcht er sofort ihrem ehrenden Antrag und holt noch selben Tags bei den Behörden die Heiratsbewilligung. Und einen Tag später– man erkennt Mary Bakers Willensungestüm an dem tollen Tempo, sich wieder zu verheiraten! –, am Neujahrstage 1877, wird bereits diese ihre dritte Ehe geschlossen und während der Zeremonie noch rasch der Wahrheit ein kleiner Stoß versetzt, indem Braut und Bräutigam ihr Alter einhellig mit vierzig Jahren angeben, obwohl Eddy bereits fünfundvierzig und Mary Baker nicht weniger als sechsundfünfzig zählen. Jedoch, was bedeutet »chronology«, was eine kleine eitle Zahlenlüge bei einer Frau, die großzügig-verschwenderisch mit Ewigkeiten und Äonen rechnet, die unsere ganze irdische Wirklichkeit als eine törichte Sinnestäuschung verachtet? Zum drittenmal steht sie, die in ihrem Lehrbuch die Heirat theoretisch verworfen, vor dem Traualtar: diesmal aber gehört der neue Name, den sie in dieser Stunde erwirbt, nicht ihr allein, sondern der Geschichte. Als Mary Glover, als Mary Patterson hat niemand diese Farmerstochter aus Virginia geehrt und gekannt, ihre früheren Gatten sind spurlos der Zeitgeschichte entschwunden. Diesen neuen Namen aber, Mary Baker-Eddy, wirft sie über fünf Kontinente unserer Welt und schenkt als Brautgabe einem kleinen Nähmaschinenagenten, namens Eddy, die Hälfte ihres Ruhms.

Derlei schußhafte, derlei stoßhafte Entschlüsse in wahrhaften Schicksalsaugenblicken sind charakterologisch unendlich kennzeichnend für Mary Baker-Eddy. Die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens entstehen bei ihr nie aus bewußt logischer Überlegung, sondern aus vulkanischen Energieausbrüchen, aus gleichsam krampfartigen Entladungen vom Unbewußten her. Geniehaft bald und bald wieder völlig wahnwitzig, entlädt sich ihre überreizte Nervenenergie immer in so jähen Entschlüssen, daß sie ihr waches Ich gar nicht dafür verantwortlich machen kann. Was natürlicher darum, als daß sie sich von einem Oben her inspiriert dünkt, daß sie ihre Nervenentladungen als Zündungen überirdischen Funkens ansieht und sich selbst als eine Auserwählte prophetischen Worts? Unablässig erlebt sie ja das Wunder, ihre schmerzhaftesten Unentschlossenheiten sich in einem plötzlichen Erkenntnisblitz lösen zu sehen, und zwar meist auf glücklichste Art. Denn fast immer trifft sie mit ihren Impulsivtaten und Improvisationen ins Schwarze: Mary Bakers Instinkt ist hundertmal klüger als ihre Vernunft, ihr Genie tausendmal größer als ihr Verstand. Auch in dieser entscheidenden Krise ihrer Weiblichkeit hätte sie bei sorgfältigster Vorausüberlegung keine therapeutisch klügere Nervenentlastung finden können als durch den Pistolenschuß und -entschluß, sich gerade einen so unselbständigen und stillen Menschen zum Lebensbegleiter zu wählen, einen Menschen, zwar dürr, aber gerade darum verläßlich wie ein fester Stock, auf den man sich beruhigt stützen kann. Ohne diesen ruhigen und beruhigenden Asa Gilbert Eddy, ohne diese sichere Rückendeckung hätte sie wahrscheinlich den Sturm der kritischen Jahre nicht überstanden.

Denn diese nächsten Jahre der Christian Science werden kritisch sein. Einen Augenblick hat es sogar den Anschein, als wollte die mühsam geschaffene Gemeinde sich auflösen, der Turm des Glaubens mitten im Bau noch einstürzen. Als Antwort auf ihre Heirat verläßt der in seinem Stolz getroffene Spofford, der Getreueste der Getreuen, der Mitarbeiter an »Science and Health«, den Kreis der Frommen und eröffnet wie Kennedy seinen eigenen Laden mit Christian Science in Lynn. Selbstverständlich schleudert die Meisterin – ihre herrische Natur vermag keinen Abfall zu ertragen – abermals die grimmigsten Bannflüche, auch ihm hängt sie Prozesse an den Hals. Auch gegen Spofford genau wie gegen Kennedy verbreitet sie die manische Anschuldigung, er übe telepathisch-böswilligen Ferneinfluß, er vergifte mit seinem M. a. M., seinem »malicious animal magnetism«, unschuldigen und ahnungslosen Menschen die Gesundheit. Mit allen Hunden des Hasses hetzt Mary Baker ja immer gerade am grimmigsten ihren entlaufenen Schülern nach, denn sie weiß, wie alle Kirchengründer – man erinnere sich an den Haß Luthers gegen den »säuischen« Zwingli, an die Verbrennung Servets durch Kalvin wegen einer einzigen theologischen Meinungsabweichung –, daß eben in der ersten Aufbaustunde einer Kirche jedes Schisma, jede Absplitterung von der Lehre das ganze Gebäude erschüttert. Aber alle diese historischen Überreiztheiten der ersten Kirchenkonzile muten noch gutmütig an gegen die Tollwut, gegen den rasenden Verfolgungsfanatismus einer Mary Baker-Eddy, dieser ewig Maßlosen. Unüberbietbar und unberechenbar in ihrer Passioniertheit, schreckt diese im Gefühl allezeit überdimensionale Frau auch vor offenen Irrwitzigkeiten nicht zurück, wenn sie einen Gegner vernichten will. Etwas Unglaubliches geschieht, eine Absurdität, wie sie seit hundert Jahren sich nicht in Amerika ereignet: ein regelrechter Hexenprozeß beschäftigt ein modernes Gericht. Denn so stark betäubt Mary Bakers Seelenübermacht den Verstand ihrer Anhänger, daß am 14. Mai 1878, mitten im neunzehnten Jahrhundert, eine der ihr mit Haut und Haar verfallenen und ihren Haß mithassenden Schülerinnen, daß die Szientistin Miß Lucretia Brown gegen Daniel H. Spofford öffentliche Klage einreicht, er habe ihr seit einem Jahre »durch seine Kraft und seine Kunst in unrechter und boshafter Weise und in der Absicht, ihr zu schaden, großes Leiden an Leib und Seele, heftige Rückgrat- und Nervenschmerzen und zeitweilige Geistesgestörtheit zugefügt«. Obwohl nun erwiesenermaßen Spofford die gute Jungfer Lucretia nie gesehen, nie gesprochen, nie ärztlich untersucht hat und es sich demnach einzig um den mittelalterlichen Zauberwahn telepathischer Verhexung des Malocchio hätte handeln können, wird dieser kurioseste Prozeß der Neuzeit doch bis vor den Richter gebracht. Der erklärt sich selbstverständlich in derlei kabbalistischen Dingen als unzuständig und schiebt lachend die Hexereianklage unter den Tisch. Nach dieser katastrophalen Blamage sollte, glaubt man, grenzenlose Heiterkeit die von »mentalem« Theologengezänk überhitzte Atmosphäre von Lynn entlüften. Aber Mary Baker-Eddy fehlt jeder Nerv für Lächerlichkeit, ihr ist es mit ihrem Glauben wie mit ihrem Haß verzweifelt ernst. Sie gibt nicht nach: Spofford und Kennedy müssen vernichtet werden. Plötzlich werden ihr Mann und ihr zweiter Lieblingsschüler Arens (gegen den sie übrigens später gleichfalls prozessierte) verhaftet unter der Anschuldigung, zwei Arbeitslose zu einem Attentat auf Spofford angestiftet zu haben. Vollkommen ist diese dunkle Angelegenheit niemals geklärt worden: jedenfalls beweist aber schon die bloße Tatsache einer gerichtlichen Mordanklage unmittelbar nach dem Hexereiprozeß, bis zu welcher tödlichen Erbitterung sich jene Glaubenszwistigkeiten hinaufsteigerten. Eine Klage jagt die andere, jeden Monat erscheint Mary Baker-Eddy in neuer Sache vor Gericht. Schließlich lächelt schon der Richter, sobald die hagere grauhaarige Frau erregt, mit verbissenen Lippen eine neue Beschwerde vorbringt: bald will ein Schüler nicht die rückständigen Dollars und Prozente zahlen, bald fordert ein Enttäuschter sein Lehrgeld zurück, bald hat man ihr einen Lehrsatz »entwendet«. Heute erklärt eine Schülerin, man habe sie nur blanken Unsinn gelehrt, und sie verlange Entschädigung, morgen klagt wieder Mary Baker einen abtrünnigen Szientisten auf Erlag der »inition« – kurzum: in der Enge dieser Kleinstadtwelt zerstößt sich die übermächtige Gefühlsenergie dieses Dämons der Seelenkraft an den lächerlichsten Geldquengeleien und Krähwinkeleien. Und schon droht eines der merkwürdigsten geistigen Schauspiele der Neuzeit zur simplen Kurpfuscherposse herabzusinken.

Das spüren jetzt endlich auch die Schüler. Sie wittern die Lächerlichkeit in diesen Hexenbeschuldigungen, in dieser pathologischen »Daemonophobia« ihrer Führerin. Allmählich beginnt bei den lange Betäubten der Nerv des common sense wieder zu erwachen. Heimlich tun sich acht ihrer bisher treuesten Anhänger zusammen und beschließen, diesem ganzen dummen Haßwahn »malicious animal magnetism« innerhalb der Lehre nicht mehr zuzustimmen. Sie seien in die Science eingetreten, stellen sie gemeinsam fest, weil sie ihnen als Botschaft von der Allgüte und Alleingegenwart Gottes erschienen sei; nun habe – wie jede Religion – Mary Baker nachträglich noch den Teufel zu dem Gott in das Weltall hineinpraktiziert. Und diesen lächerlichen Teufel malicious animal magnetism, verkörpert durch solche Jammergestalten wie Spofford und Kennedy, in der allgöttlichen Welt Gottes anzuerkennen, weigern sie sich. So veröffentlichen die acht Veteranen der »Science« am 21. Oktober folgende Erklärung:

»Während wir, die Unterzeichneten, das Verständnis der Wahrheit, zu dem unsere Lehrerin, Mrs. Mary Baker-Glover-Eddy, uns verholfen hat, anerkennen und schätzen, sind wir durch göttliche Intelligenz dazu geführt worden, ihre Abweichung vom geraden und schmalen Wege (der allein zum Wachstum in den christusähnlichen Tugenden führt) mit Bedauern zu erkennen, was sich in häufigen Entrüstungen, in Liebe zum Geld und in der Neigung zu Heuchelei kundtut; wir können uns daher einer solchen Führerschaft nicht mehr unterordnen. Aus diesem Grunde erklären wir ohne die geringste Spur von Haß, Rache oder kleinlichem Groll im Herzen, sondern nur aus dem Gefühl der Pflicht gegen sie, gegen die Sache und gegen uns selber, ehrerbietigst unsern Austritt aus dem Schülerverein und aus der Kirche christlicher Wissenschaftler.«

Diese Erklärung fällt auf Mary Baker-Eddy wie ein Genickschlag. Sofort stürzt sie zu jedem der Abtrünnigen und fordert Rücknahme des Austritts. Da alle acht aber unbeugsam bleiben, will sie wenigstens vor ihrem eigenen rasenden Stolz recht behalten. Flink dreht sie den Spieß um und trifft (wie die rosenrote Biographie schweifwedelnd schreibt) »eine meisterliche Entscheidung«, indem sie den Ausgetretenen das Recht, eigenmächtig die Gemeinschaft zu kündigen, abstreitet, also den acht Schülern, die die Tür hinter sich zugeschlagen haben, gewissermaßen noch über die Gasse nachschreit, sie befehle ihnen, das Haus zu verlassen. Aber solche kleine Triumphe ihrer Rechthaberei können die entscheidende Tatsache nicht mehr ändern – Mary Baker-Eddy hat in Lynn verspielt. Die Gemeinde zerfällt durch die ewigen Zänkereien, die Zeitungen reservieren der Christian Science bereits eine ständige Amüsierrubrik. Ihr Werk liegt in Trümmern. Als einzige Möglichkeit bleibt, es noch einmal aufzubauen an anderem Ort und auf festeren, breiteren Fundamenten. So wendet die verkannte Prophetin dem undankbaren Bethlehem den Rücken und siedelt nach Boston über, in das Jerusalem der amerikanisch-religiösen Geistigkeit.

Wieder einmal – zum wievielten Male? – hat Mary Baker-Eddy ihre Partie verloren. Aber gerade diese letzte Niederlage wird ihr größter Sieg, denn erst die erzwungene Übersiedlung bricht ihr freie Bahn. Von Lynn aus konnte ihre Lehre nicht ins Weite wachsen. Zu absurd in diesem engen Zirkel war das Mißverhältnis ihres Größenwahns und der Zwergigkeit des Widerstands. Ein Wille von der Größe Mary Bakers braucht Weite, um zu wirken, ein Glaube wie der ihre keinen Klüngel als Ackerboden, sondern eine ganze Nation: kein Heiland, erkennt sie, kann Wunder tun, wenn ihm tagtäglich die Nachbarn in die Werkstatt blicken, niemand Prophet bleiben im Eingewöhnten und Täglich-Vertrauten. Geheimnis muß das Wunderbare umschatten, immer kann Nimbus darum nur entstehen im Dämmerlicht der Abseitigkeit. Erst in einer Großstadt kann Mary Baker sich zu ihrer Wesensgröße entfalten.

Aber noch entschlossener will sie das Schicksal für diese entscheidende Aufgabe. Noch einmal, zum letztenmal, hämmert die alte harte Faust auf die Sechzigjährige los. Kaum wohnt sie sich in Boston ein, kaum legt sie das neue Fundament der Christian Science nun auf breiterem, tragkräftigerem Grunde, da trifft sie mörderischer Schlag. Von je war Asa Gilbert Eddy, ihr junger Gatte, brustleidend gewesen, einzig diese Gesundheitsschwäche hatte ihn erst Spofford und der Science zugetrieben; nun verschlechtert sich das Herzleiden rasch. Vergebens, daß Mary Baker-Eddy inbrünstiger als je ihre »Wissenschaft« an dem ihr wichtigsten Menschen anwendet, vergebens, daß sie die bei so viel Gleichgültigen erprobte »mentale« Kur gerade an diesem allernächsten versucht – das ermattende Herz, die verkalkten Gefäße wollen sich nicht gesundbeten lassen. Und vor den Augen der angeblichen Wunderwirkerin lischt er allmählich dahin. Die Tausenden und Zehntausenden Gesundheit gebracht und verkündet, sieht – tragisches Schicksal – sich ohnmächtig vor der Krankheit des eigenen Gatten.

In diesem dramatischen Augenblick begeht Mary Baker-Eddy – es ist für mich die menschlichste Sekunde ihres Lebens – Verrat an ihrer Wissenschaft. Denn in ihrer Seelennot tut sie, was sie sonst allen andern tyrannisch verbietet: sie versucht nicht länger, ihren Mann »by mind« zu retten, sondern ruft einen wirklichen Arzt, Dr. Rufus Neyes, einen jener »confectioners of decease«, an des Sterbenden Bett. Einmal, ein einziges Mal kapituliert diese unbändige Seele vor ihrem ewigen Feind, vor der Wirklichkeit. Dr. Neyes stellt ein vorgeschrittenes Herzleiden fest, verordnet Digitalis und Strychnin. Aber es ist zu spät. Mächtiger als die Wissenschaft, mächtiger als der Glaube ist das ewige Gesetz. Am 3. Juni 1882 stirbt Asa Gilbert Eddy in Gegenwart derselben Frau, die vor Millionen von Menschen Krankheit und Tod für unmöglich erklärt hat.

Dieses eine und einzige Mal, am Sterbebett ihres eigenen Mannes, hat Mary Baker-Eddy ihren Glauben verleugnet: sie hat, statt ihrer eigenen Christian Science zu vertrauen, einen Arzt gerufen. Einmal hat vor dem gewaltigsten Gegner, vor dem Tod, auch diese Riesin des Willens die Waffe gesenkt. Aber nur eine knappe Sekunde lang. Kaum ist Asa Gilbert Eddy der letzte Atem von der Lippe geflossen, richtet die Witwe sich wieder auf, unbeugsamer, starrsinniger als je. Falsch nennt sie die durch Sezierung bestätigte Diagnose; nein, nicht durch eine Herzentartung sei Asa Gilbert Eddy gestorben, sondern durch »metaphysical arsenic«, durch ein »mental poison« vergiftet worden, und sie selber hätte ihn mit Hilfe der »Science« nur deshalb nicht retten können, weil damals durch mesmeristisch-telepathischen Einfluß Kennedys und Spoffords ihre eigenen Kräfte gelähmt gewesen seien. Wörtlich schreibt sie (um den peinlichen Effekt dieses Todes auf die Gläubigen abzuschwächen): »My husband's death was caused by malicious mesmerism ... I know it was poison that killed him, but not material poison, but mesmeric poison ... after a certain amount of mesmeric poison has been administered, it can not be averted. No power of mind can resist it.« Selbst auf dem Grabe ihres Gatten pflanzt sie noch die Fahne dieses fürchterlichen Unsinns vom magnetischen Ferngift auf, lächerlich und großartig absurd wie immer in ihren entscheidendsten Augenblicken.

Dies aber war ihre letzte Erschütterung. Den ersten Mann hat sie begraben, der zweite hat sie verlassen, nun liegt der dritte unter der Erde. Niemandem von nun ab mehr durch Liebe verbunden, keinem Ding der Welt durch Leidenschaft verschwistert, lebt sie seit dieser Stunde nur noch einer einzigen Sache: ihrem Werk. Nichts ist ihr geblieben aus sechzigjährigem Mühsal als dieser unerschütterliche, unbeugsame, dieser fanatische und phantastische Glaube an ihren Glauben. Und mit dieser ihrer unvergleichlichen Kraft erobert sie jetzt, eine Greisin, die Welt.


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