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Die Mutter hatte den kleinen siebenjährigen Robert in das benachbarte Dorf geschickt, um beim Bäcker ein grosses weisses Brot zu holen. Sie erwartete Besuch zum Kaffee, Tante Frida wollte mit dem vierjährigen Anneli kommen. Robert war nach dem Mittagessen fortgegangen, hatte vor dem Einkauf des Brotes noch etwas mit den Dorfjungen am Brunnen gespielt, auf der Brunnenröhre gesessen und gespritzt, oder sich anspritzen lassen. Nun befand er sich mit dem schönen braunglänzenden Brot auf dem Heimweg und hielt es unter dem Arm an sein blauleinenes Kittelchen gepresst. Der Tag war voller Sonne, der Frühlingswind fächelte; auf den Wiesen blühte und sprühte der gelbe Löwenzahn in tausend und aber tausend runden strahlenden Sternen, in den zartbelaubten Bäumen zwitscherten und sangen die Vögel, und den kleinen Robert dünkte das Beben wunderschön. Er pfiff und jubelte mit den Sängern in den Zweigen um die Wette: «Fideri, fideri, fiderallala, fideri, fideri, fidera!»
Dabei roch er von Zeit zu Zeit an das köstlich duftende frische Brot. Wie der Weg nun bergan ging, stieg dem Jungen der Brotgeruch besonders gut und verlockend in die Nase. Gar zu gerne hätte er sich von der knusperigen Kruste ein bisschen abgeklaubt. Um der Versuchung zu widerstehen, sang er noch lauter und kräftiger. Dabei fühlten seine Finger immer wieder über die Stellen, wo die Brotkruste in schönen braunglänzenden Blasen sich emporwölbte. Einmal blieb ihm über dem Fühlen wie zufällig ein Stückchen zwischen den Fingern hängen. Mit aufseufzendem Wohlbehagen schob sich Robert dieses Stückchen in den Mund. Während ihm der ersehnte Genuss langsam auf der Zunge zerging, wohlschmeckend wie ein allerfeinstes Gutzi, schielte der Bub mit lüsternem Auge an dem Brot entlang, ob nicht an einer weiteren Stelle die Kruste so locker und knusperig sei, so dass sie wieder ganz zufällig, wenn man nur ein bisschen derber dran drückte, sich loslöste. Als sich ihm keine günstige Angriffsgelegenheit zeigte, drängte Robert geschickt die kleinen dicken Bubenfinger unter die aufgeplatzte Blase und hob säuberlich und mit Bedacht ein ansehnliches Stück der Kruste ab. Wieder lief dem Buben das Wasser im Munde zusammen, als er sich den duftenden Bissen zwischen die Lippen steckte. Der kleine Robert war jetzt ganz ehrlich vor sich selbst und sagte sich nicht mehr zur eigenen Entschuldigung, dass sich die Brotrinde allein und nur zufällig löse. Er hätte das ganze Brot essen können, so über die Massen gut dünkte es ihn. In seinem Eifer, der vor lauter Geniessen keinerlei Bedenken aufkommen liess, merkte er gar nicht, wieviel er schon von der braunen Kruste abgesprengt hatte, und dass von der zartgelben appetitlichen inneren Hülle ein grosses Stück hervorkam.
Auf einmal indessen entdeckte Robertli doch den angerichteten Schaden und wurde förmlich betroffen davon. Er konnte es gar nicht begreifen, dass die Versuchung ihn derart überwältigt hatte und war plötzlich voller Angst und Sorge. Was würde auch die Mutter sagen, wenn sie das verunstaltete Brot sah? Es erinnerte den kleinen Buben jetzt in der Tat an das gefleckte Fell des Tigers in seinem Bilderbuch. Roberts Gewissen wurde mit jedem Schritt schwerer und unruhiger; was war er doch für ein böser Junge, dass er seiner Mutter immer wieder Leid und Ärger verursachte. Was hatte er schon alles an Kümmernissen und Versuchungen ausstehen müssen auf diesen Rückwegen vom Dorfe, wo er für die Mutter und den Haushalt die Besorgungen machen musste, bis hin zum Elternhause, dem kleinen Sägewerk oben im Tal am Bach. Es war wirklich bei aller Freude manchmal zum Verzweifeln, wie es Robert in den Fingern zwickte und zwackte, bis sie trotz aller guten Vorsätze ans Naschen und Stibitzen gerieten.
Das frische Brot vom Bäcker dünkte Robertli einfach besser als das oft wochenalte, welches die Mutter daheim selber buk, und die Bauernwurst vom Metzger Zünd im Dorf kam ihm auch eingestandenermassen saftiger vor als der geräucherte Speck zu Hause. In seiner Reue und Verzweiflung über den dem Brot zugefügten sichtbaren Schaden kam Robert ein Erlebnis in den Sinn, welches er als fünfjähriger Bub gehabt. Damals hatte die Mutter ihn geschickt, eine Wurst zu holen. Der kleine Junge hatte zuerst wie unbewusst mit dem Fingerchen oben an der Wurst gebohrt, bis ein schmales Loch entstanden war. Durch dieses Loch hatte er sich auf jenem Heimweg unter der Wursthaut immer wieder einen winzigen rosigen Leckerbissen hervorgeholt und in den Mund gesteckt. Weil Robert damals noch so dumm war, hatte er wahrhaftig gemeint, seine gescheite Mutter werde unter der unbeschädigten Wursthaut den Schaden nicht entdecken. Aber als er dann den unverhüllten Kummer der Mutter gesehen, war Robert eigentlich fest entschlossen, nie mehr in seinem ganzen Leben etwas so Böses und Unrechtes zu tun. Die Mutter war über seine Schlauheit und Naschhaftigkeit ganz unglücklich geworden und hatte gesagt: «Ich gebe dir doch von allem, Robertli, und du hast ein so schönes ungesorgtes Leben, warum musst du dir denn so listig Sachen nehmen, die für andere bestimmt sind? Wer sich als Kind nicht beherrschen lernt, aus dem wird, wenn er grösser wird, einmal etwas ganz Schlimmes, ein Dieb oder noch etwas Ärgeres. Jetzt kannst du dich bei der Taglöhnerin entschuldigen, ihr hast du die Wurst weggenascht. Sieh, Robertli, jetzt müssen wir uns beide vor der guten rechtschaffenen Frau schämen!» Der Mutter war das Schluchzen in die Kehle gestiegen, und sie hatte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen abgeputzt.
Als Robertli in völliger Zerknirschung dagestanden und nahe daran gewesen war, mit der Mutter gemeinsam zu weinen, war der Vater aus der Säge gekommen. Als er den Sachverhalt gehört, hatte er der Mutter begütigend auf die Schulter geklopft und mit seiner guten Stimme tröstend gesagt: «Das musst du nicht so schwer nehmen, Mutti, dergleichen kann auch einem braven und lieben Kind einmal passieren; es muss sich solche Sachen nur nicht zur Gewohnheit machen. Deshalb wird aus unserem Robertli doch ein aufrechter Bursche, an dem alle Menschen Freude haben sollen.» Er hatte seinem Buben die Hand unter das Kinn gelegt und ihm den gesenkten Kopf emporgerichtet zu seinen klaren Augen: «Immer die Stirne hoch, Robert», hatte der Vater gesagt, «und kein Duckmäuser sein; und wenn einer bedacht oder unbedacht einmal ein Unrecht begangen und sich und andern dadurch einen Kummer bereitet hat, dann sorgt er, dass er seinen Fehler bei nächster Gelegenheit durch eine brave und rechte Tat wieder gut macht. Nun spring und trage der Mutter Holz in die Küche. Zeig ihr, dass du helfen und nützen kannst, und dass auf dich ein Verlass ist!» –
In seiner Herzensnot musste Robert an diesen Vorfall denken, als er mit seinem so böse zugerichteten, abgeknusperten Brot heute heimwärts trottete. Wie schmählich hatte er von neuem das Vertrauen von Vater und Mutter getäuscht! Warum musste die Reue stets zu spät kommen? Warum konnte er das Brot nicht wieder säuberlich ganz machen? Immer von neuem betrachtete er bekümmert den angerichteten Schaden, besah das Brot von allen Seiten und dachte an die Mutter und die zu erwartenden Vorwürfe.
Ach! wenn er ihr nur schnell durch eine gute Tat den Beweis geben könnte, dass er doch nicht ein so schwacher, schlechter Bub sei, wie es jetzt den Anschein hatte!
Nun erblickte er bei der nächsten Wegbiegung schon sein freundliches Elternhaus, das «Sägli» vor sich, und die Fenster mit den fröhlichen Blumen winkten ihm ein helles Willkommen zu. Dem kleinen Buben wurde das Herz immer schwerer. Was würden auch Tante Frida und das lustige vierjährige Anneli sagen, wenn sie das Brot erblickten, das er eigens für ihren Besuch hatte holen müssen?
Immer weniger konnte Robert seine Schwäche begreifen, und seine Füsse wollten ihn kaum noch vorwärts tragen. Der blaue Frühlingstag hatte für ihn sein Leuchten verloren und sein «Fideri, fidera fiderallala» war ihm gründlich vergangen. Am liebsten hätte er sich unten beim glitzernden Bach auf die Böschung gesetzt und wäre dort sitzen geblieben; er getraute sich nicht weiter zu gehen. Sicher, aus ihm würde sozusagen seiner Lebtag nie etwas Rechtes, ein unzuverlässiger, nach jedem Leckerbissen gieriger Bub, wie er war, der keine Selbstbeherrschung und keinen rechten Gehorsam kannte!
Als Robertli so trübselig hinausstarrte, sah er, wie das Anneli, das wohl inzwischen mit seiner Mutter zum Besuch eingetroffen war, am Wiesenrand in seligem Versunkensein sich einen Blumenstrauss pflückte, goldgelbe Sönnlein vom Löwenzahn, Margritli und Vergissmeinnicht. Anneli war so dem Pflücken hingegeben, dass es Robert gar nicht bemerkte. Mit seinen Blümlein bewegte es sich in der blühenden Wiese hin und her. Nun strebte es dem Bache zu, wo die blauesten und schönsten Vergissmeinnicht wuchsen.
Auf einmal riss der Robertli seine trüben Augen weit auf. Das Anneli musste auf dem abschüssigen Bord ausgeglitscht sein, es tat plötzlich einen durchdringenden, markerschütternden Schrei und rutschte die Böschung am Bachrand hinunter. Es wollte sich halten an den schwachen Gräsern; alle seine leuchtenden Blumen entfielen den angstvoll zuckenden Händen; aber nirgends vermochte das Kind Halt zu finden und nun lag es völlig verzweifelt, weinend und rufend im Wasser.
«Ich komme, Anneli, ich komme!», rief Robertli aus Leibeskräften, «musst nicht Angst haben, Anneli, ich helfe dir, ich ziehe dich heraus!» Er legte das Brot auf die Wiese, und während er mit raschen Schritten vorwärts sprang, entledigte er sich seines Kittelchens, um freier zu sein. Und nun stand er auch schon im Bach und griff nach dem Anneli, das von den eilig drängenden Wellen bereits zu Boden gerissen worden war und dessen Köpfchen mit dem angstverzerrten Gesicht sich nur mühsam noch gegen das gluckernde, rauschende Wasser wehrte.
Robertli umfasste das Kind mit seinen kleinen starken Armen ganz fest; er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Wellen, und obgleich ihm das Wasser bis an die Brust ging, so vermochte er doch mit einer schier übernatürlichen Willensanstrengung der Gewalt des treibenden Wassers standzuhalten. In dem kleinen siebenjährigen Buben war urplötzlich die Tatkraft und Überlegung eines Mannes. Robert wusste ganz genau, dass er mit Anneli in grosser Gefahr war. Wenn es ihm jetzt nicht gelang, aufrecht zu bleiben und standzuhalten, so konnten sie beide ertrinken. Wie ein Blitz durchzuckten ihn in diesem Augenblick des Vaters Worte: Durch eine rechte brave Tat macht man ein Unrecht wieder gut. Wenn er das Anneli rettete, würde die Mutter ihm wegen des verschandelten Brotes keine Vorwürfe machen; sicher, dies war die Tat, die ihm zur Sühne gereichte. Nun konnte seine Mutter sehen, dass das Gute stärker in ihm war als das Schwächliche.
Roberts Gesicht wurde dunkelrot vor Anstrengung. Alle seine Muskeln strafften sich, und so zog er das schwere blasse Anneli ans Ufer und auf die Wiese.
Da kamen auch die beiden Mütter über die Matte gerannt, die der Kinder Hilfeschreie gehört. «Um Gotteswillen!», riefen sie, als sie die nassen zitternden Kinder erblickten, «was ist geschehen?»
Robert berichtete; jetzt, nachdem die Tat vollbracht, übermannte ihn die Aufregung, und er konnte nur unter Schluchzen, stossweise, den Hergang erzählen. Annelis Mutter hatte ihr tropfendes bebendes Kind auf den Arm genommen und streichelte Roberts glühende, tränenfeuchte Wangen: «Bist ein Tapferer, Robertli; wie ein Grosser hast du gehandelt; recht ein Schutzenglein bist du dem Anneli gewesen!»
Roberts Schluchzen wurde sanfter; er deutete aus das unweit in der Wiese liegende Brot und schmiegte sich dichter an seine Mutter: «Ich habe die Brotrinde wieder abgeklaubt, Mutter», bekannte er; «aber das verspreche ich dir, von jetzt an kommt so etwas nicht mehr vor. Gell, Mutter, du wirst diesmal nicht böse und traurig sein; ich habe das Unrecht nach des Vaters Rat gut machen wollen, indem ich das Anneli rettete. Gell, Mutter, aus mir kann doch noch etwas Rechtes werden!»
Der Mutter wurde es merkwürdig eng im Hals bei Roberts Worten. «Bist mein lieber Bub», sagte sie innig, «bist mein Schatz und meine Hoffnung!» Sie nahm das Brot und Roberts Kittel. «Nun kommt nur schnell ins Haus, wir wollen euch schleunigst trockene Sachen anziehen. Und dann wollen wir Kaffee trinken; er steht schon auf dem Tisch, wir haben nur auf dich und das weisse Brot gewartet, Robertli!» Tante Frida hatte Roberts Bekenntnis gehört, und weil das Anneli schon wieder lächelte in ihren Armen wie ein verregnetes Blümlein, das die warme Sonne zu neuer Lebensfreude streichelt, so lächelte Tante Frida auch ihr sonnenfrohes Lächeln und sagte gutmütig: «Weisst du, Robertli, ich habe das als Kind ebenfalls so gehabt, dass mich die frische Brotrinde so über die Massen gelustig machte. Das geht noch manchmal Erwachsenen so. Darum quäle und gräme dich nicht weiter. Geschäh' nichts Böseres! Dein Brot soll uns heute ohne die tadellose Kruste dennoch prächtig schmecken. Mir wird jedenfalls nie ein Brot besser gemundet haben. Ich habe eine frische Honigwabe mitgebracht und Maibutter! Ein rechtes Dankesmahl wollen wir halten, Robertli. Ein Bub wie du wird nach einem solchen Heimweg einen währschaften Hunger verspüren. Für die Rettung vom Anneli aber verdientest du eine Rettungsmedaille. Ja, Robertli, ich bin völlig sicher, dass aus dir ganz bestimmt etwas Tüchtiges wird. Da braucht niemand Angst zu haben. An dir wird man Freude erleben!»
Robertli bekam mit einem Male wieder seine hellen glänzenden Bubenaugen; er tat einen Freudensprung und jauchzte: «Hast du es gehört, Mutter, Honigwabe, Maibutter und Rettungsmedaille! Und aus mir wird ganz bestimmt etwas! Tante Frida hat es gesagt! Juhu! Was Tante Frida sagt, muss gelten! Mein ganzes Leben will ich an diesen Heimweg denken! Fideri, fideri, fidera!»