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«Mutter, wie sieht auch das Christkind aus?», fragte der kleine Hansli, «du musst es doch wissen, du bist ja schon oft mit ihm zusammen gewesen; sage, hat es goldene Flügel und ein Krönlein aus Sternen?»
Die Mutter machte ein liebes, geheimnisvolles Gesicht. «Nein, Hansli», sagte sie, «es hat nicht immer sein Himmelskleid an, manchmal ist es auch in einem dunkeln Röckchen, verbirgt die Flügel unter einem Tuch oder einem Jäcklein und das goldene Krönlein unter einem Mützchen. So kann es dann ganz still und unerkannt durch die Strassen eilen und nachschauen, ob die Kinder brav und folgsam sind, ohne gleich von ihnen angestaunt zu werden.»
«Hat es denn nie goldene Flügel?», fragte Hansli.
«Doch ja, hin und wieder doch?», entgegnete die Mutter.
«Ich möchte es so schrecklich gerne einmal sehen!», sagte Hansli sehnsüchtig, «gell Mutter, vielleicht kommt es morgen; morgen ist ja Weihnachten. Ach, Mutter, wie ist doch der letzte Tag vor Weihnachten so lang! Er will überhaupt nicht vorbeigehen! Darf ich noch ein Weilchen draussen herumspringen mit dem Fritzli, dass die Zeit ein klein wenig schneller vergeht?»
Die Mutter nickte; sie zog Hansli sein Mäntelchen an und setzte ihm das Mützchen auf: «Wenn es vier Uhr schlägt, musst du aber wieder heimkommen.»
Vergnügt sprang Hansli davon. Aber sein Freund Fritzli war nicht draussen, und obgleich Hansli gewohntermassen schrillend pfiff wie ein Zugführer, und auch laut und dröhnend hustete wie eine Dampflokomotive und alle Autohupen nachmachte, so kam der Fritzli nicht.
Einen Augenblick stand der kleine Hansli ratlos. Dann dachte er wieder an Weihnachten und das Christkindchen, und er überlegte, ob er in dem Tannenwald oben am Berge nachschauen solle; vielleicht war das Christkind heute dort, um sich Tannenbäumchen zu holen. Vielleicht auch hatte es den Nikolaus und eine ganze Schar Englein mitgebracht!
Nachdem Hansli diesen Gedanken in allen seinen wunderbaren Möglichkeiten recht durchgedacht hatte, wurde das Verlangen nach dem Tannenwald so übermächtig in ihm, dass er nicht mehr widerstehen konnte. Tapfer machte er sich auf den Weg. Er war noch nie allein im Walde gewesen; und ohne die Mutter war es immerhin ein Wagnis für einen kleinen Buben von fünf Jahren. Aber Hansli getraute sich schon, den Weg allein zu finden. – Nun hatte er die letzten Häuser der Stadt hinter sich und oben am Berge grüsste der Tannenwald. Ein leichter Schnee lag auf dem Boden, und Hansli machte ganz schnell am Wegesabhang den Versuch, ob man schon die «Photographie» in den Schnee drucken könnte. Doch der Schnee war noch zu dünn und locker dazu. So sprang er denn leichtfüssig weiter, und es dauerte nicht lange, so befand er sich oben am Waldrand.
Wie schön war es da! Mächtige Tannen strebten mit ihren Zweigen in die Breite und in die Höhe. Und neben dem dunklen Walde der grossen Tannen waren eine ganze Menge kleiner; eine weite Fläche voll. Die sahen aus wie eine Schar herziger Kinder, hold und zart mit Schnee geschmückt, als warteten sie auf etwas Wunderschönes und seien bereit, ein Fest zu begehen. Hansli sperrte die braunen, jubelnden Augen weit auf. Jetzt musste doch das Christkind kommen, und dann wollte er ihm unerschrocken vor all den kleinen, festlichen Tannen das Weihnachtssprüchlein sagen, das ihn die Mutter gelehrt; er konnte es so gut; er getraute sich schon. Wenn das Christkind doch käme! Hansli schaute und spähte ganz angestrengt. Aber er sah nichts. Der Himmel färbte sich abendrot. Purpurfarben durchglühte die Sonne die Wolken, und tausend rosige Wölkchen segelten durch die Luft. Hansli nickte glückselig und meinte, die Englein durch die himmlische Klarheit auf die Erde niederlächeln zu sehen. Morgen war ja Weihnachten! Gewiss mussten sich jetzt die Englein unendlich sputen, um noch alle die guten, süssen Gutzeli fertig zu backen. Vielleicht auch musste das Christkind selber die Oberaufsicht führen bei dieser grossen und wichtigen Arbeit.
Suchend ging Hansli ein wenig tiefer in den Wald; er hoffte zuversichtlich, heute schon etwas von Weihnachten und vom Christkind zu erspähen. Da wanderte nun der kleine Bub zwischen den herzigen Tannenbäumchen und es sah fast so aus, als habe sich eines der Bäumchen in ein kleines, suchendes Menschenkind verwandelt. Zuweilen rührte Hansli mit zagenden Fingerchen an ein Tannenzweiglein; dann stäubte der weisse Schnee silberig hernieder. Einmal sprang ein Häschen unter einem Bäumchen vor. Da schrie Hansli erschrocken und entzückt zugleich auf. Wie seltsam und geheimnisvoll war dies alles. Hansli vermeinte wirklich, im Weihnachtswalde zu sein. Er merkte gar nicht, dass der Himmel sich tiefer und tiefer färbte. Aber wie er dann mit einem Male sah, dass es Abend geworden und durch die hohen, dunkeln Tannenbäume schon die Nacht lauschte, wurde er bange und wollte heim zu seiner Mutter. Er sprang zwischen den kleinen Bäumen hin und her und suchte den Waldrand und – fand ihn nicht. Sein Herzchen fing ängstlich und immer ängstlicher an zu pochen, und auf einmal begann der kleine Hansli ganz jämmerlich zu weinen; laut, langgezogen, und dazwischen rief und schluchzte er: «Mutter! Mutter!»
Horch! Da tönte eine Stimme: «Ja, wo bist du denn, Kind? Was hast du? Sei ruhig, ich komme!» Hansli lauschte empor; er kannte die Stimme nicht; aber während er schon ein wenig leiser weinte, sah er aus dem Walde ein Mädchen auf sich zuschreiten, dem quollen die Locken in goldener Fülle unter dem Mützchen hervor, so dass es aussah wie ein Glorienschein. Hansli, in masslosem Staunen, glaubte nicht anders, als dass dieses Mädchen nun das Christkind sei. Wie das Mädchen näher kam, sah Hansli, dass es eine mächtige Reisigwelle hinter sich herzog, und dass es ein dunkles Röckchen und grosse, viel zu weite Schuhe trug. Indessen war es sicherlich doch das Christkindchen; denn es sah den kleinen Buben so liebreich und mitleidig an, und fragte mit einer warmen, gütigen Stimme: «Hast du dich verirrt? Willst du heim zur Mutter?» Und es nahm den Zipfel von seinem Schürzchen und wischte Hansli die Tränen ab. «Musst nicht mehr schluchzen», sagte es tröstend, «sieh, ich bin ja bei dir. Erzähle mir, wo du wohnst, ich führe dich heim.» Zutraulich, von allem Grauen erlöst, legte Hansli sein Händchen in die Hand des Mädchens und beantwortete seine Fragen. Und nachdem er auch gesagt, warum er gerade heute zum ersten Male allein und ohne Vorwissen der Mutter in den Wald gegangen, fragte er mit selig-beklommenem Aufseufzen: «Bist du das Christkind? Hast du dich vielleicht nur verkleidet und deine goldenen Flügel unter dem Tuche verborgen?» Da lachte das Mädchen ein glockenhelles Lachen: «Nein, du lieber Bub, ich bin die Lisi Fröhlich; meine Eltern sind arme Leute; aber vielleicht hat mich dein Schutzengel heute in deine Nähe geführt, um dich heim zu deiner Mutter zu bringen; so komm denn, Hansli!» Und während Lisi mit der einen Hand die Reisigwelle am starken Strick nach sich zog, fasste sie mit der andern die kleine Bubenhand. – So gelangten sie an das Waldende. «Jetzt will ich zuerst das Holz nach Hause schaffen!», sagte Lisi; «noch eine Viertelstunde und wir sind bei unserm Häuschen; siehst du dort hinten das einsame Licht? Das ist es. Und bei diesem Licht will ich dir noch rasch etwas Wunderschönes zeigen, Hansli, etwas vom Lieblichsten auf der Welt, und dann bringe ich dich zu deiner Mutter; etwa in einer halben Stunde bist du bei ihr.» Hansli war in einer ganz merkwürdigen Stimmung; er erlebte dieses alles wie in einem Traume; er musste immerzu wieder ein bisschen nach dem Tuche schielen, ob nicht bei Lisi unter den Tuchzipfeln vielleicht doch die goldenen Flügel vorblinkten. Und was mochte es nur sein, was ihm dieses liebe Mädchen bei sich daheim noch zeigen wollte? Vielleicht war sie nur eine Abgesandte vom richtigen Christkind. Und was sie daheim zeigen wollte, war das Christkind selber! Voll Spannung setzte Hansli die Füsschen vorwärts.
So kamen sie an das Häuschen, in welchem Lisi wohnte; traulich leuchtete das Licht aus dem Fenster in die Dunkelheit. Lisi versorgte das Holz schnell in einem kleinen, offenen Anbau, schüttelte ihr Röckchen aus, klopfte die Schuhe ab, nahm Hansli wiederum an der Hand, ging mit leisen, vorsichtigen Schritten durch einen finsteren Flur, öffnete mit sicherem Griffe eine Türe, und – da rieselte dem kleinen Hansli ein Schauer des Glückes über das Körperchen. Ja – war er denn im Stalle zu Bethlehem? Sass dort nicht die Gottesmutter Maria mit dem Jesulein auf dem Schosse? Und dort der Mann, war der nicht der heilige Josef?
Dem kleinen Hansli stockte fast der Atem vor Staunen und Freuden. Und auf einmal musste er an das Gedicht denken, das ihn die Mutter auf die Weihnacht gelehrt hatte und das er dem Christkind schon oben im Walde hatte sagen wollen, und er fand, dass er es ihm nun hier sagen müsse, und andächtig, mit süssem Stimmchen begann er:
«Die Weihnacht tut die Wunder auf.
Das Kind im dunklen Stalle
Legt mit den zarten Händelein
Ein Trösten in uns alle.
Die Weihnacht tut die Wunder auf.
Lasst uns die Liebe mehren
Und hilfsbereit im ärmsten Kind,
Das Kind im Stall verehren.»
«Du lieber Bub!», sagte Lisi zärtlich, «das ist aber schön, dass du meinem Brüderchen dein Weihnachtsgedicht sagst.» – «Ist es nicht das Christkind?», fragte Hansli ungläubig. Man merkte Lisi an, dass es ihr fast leid tat, dem kleinen Buben seinen Himmelstraum zu zerstören; aber sie sagte nochmals: «Nein, es ist mein Brüderchen, das unser aller Freude und Glück ist; und die Frau dort ist meine liebe Mutter, und der Mann ist mein Vater. Gib ihnen die Hand, und dann lass uns gehen, damit deine Mutter sich nicht zu lange um dich ängstigt.» Lisi erzählte noch rasch ihren Eltern, wo sie Hansli gefunden und dass er ausgezogen, das Christkind zu suchen. Die Eltern nickten Hansli freundlich zu und das Knäblein auf seiner Mutter Schoss lächelte und streckte die zarten Händlein nach ihm.
Hansi vermeinte im Himmel zu sein und noch nie im Leben so viel Glückseligkeit empfunden zu haben. Als sie wieder vor der Haustüre waren, sagte er mit tiefem Aufatmen: «Ich danke dir auch dafür, Lisi.»
Dann sprang er eilig an des Mädchens Hand den Berg hinunter.
Und Hanslis Mutter! Ach, wie war sie froh, als sie ihren Hansli wieder hatte. Wie hatte sie gesorgt und gebangt, als er nicht heimgekommen und alles Rufen und Suchen erfolglos geblieben.
Aber als sie dann von Hansli hörte, warum er so weit von Hause fortgelaufen und was alles er erlebt, da machte sie ihm keine Vorwürfe.
Der Hansli war eben ein Glückskind, dem alle Wirklichkeiten zu beseligenden Märchen wurden.
Dem guten Mädchen aber, das den Hansli heute in der bangsten Stunde seines Weihnachtserlebnisses aus den Ängsten erlöst hatte, füllte die Mutter mit flinken, liebreichen Händen einen grossen Korb mit guten und nützlichen Gaben, dass es dieselben heimbringe zu seinem lieben Brüderchen, von dem Hansli mit einer süssen Bestimmtheit behauptete, dass er in ihm das Christkind gesehen.
«Die Weihnacht tut die Wunder auf!», sagte die Mutter leise, «bist mein Schatzbub!», und sie schlang ihre Arme um Hansli.