Johanna Zürcher-Siebel
Das Freudengärtlein
Johanna Zürcher-Siebel

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6. Das Freudengärtlein

Der Rudi war heute wirklich sehr brav gewesen. Als die Mutter ihn am Abend zu Bett brachte, konnte sie ihm zu ihrer grossen Freude sagen: «Heute hast du mich ganz glücklich gemacht, und wenn du nun schnell einschläfst und nicht mehr rufst, so kommt diese Nacht gewiss das Freudenelflein zu dir.»

Rudi sah die Mutter mit leuchtenden Augen an, schlang noch einmal die Ärmchen um ihren Hals und drehte sich auf die Seite. Es dauerte nicht lange, so war er eingeschlafen. Da näherte sich auch schon ein feines Wesen seinem Bett, hob sich auf die Zehen, tippte mit zarten Fingerlein an Rudis Wange und sagte: «Komm, ich führe dich heute zu den Freudengärtlein, ich bin der Freudenelf!» Rudi rieb sich die Augen und sprang mit beiden Füsschen zugleich aus dem Bett: «Aber ich habe nur mein Nachthöschen an», sagte er. «So zieh rasch dein Kittelchen darüber», entgegnete der Elf, «ich sehe, du hast deine Kleider alle nett und ordentlich dahingelegt, und auch deine Pantöffelchen stehen unter dem Bett; so ist es recht, Rudi, und wie flink du dich alleine anziehen kannst!» Rudi betrachtete beglückt das Elflein. «Was hängt dir denn da für ein Trücklein mit Blumen über die Schulter?», fragte er. «Das sind deine Freuden vom heutigen Tage», lachte der Elf, «aber nun komm!» Er streckte sich und fasste Rudis Hand.

Lautlos schritten sie die Treppen hinunter; alle Türen öffneten sich von selber, das Elflein brauchte sie nur zu berühren. Draussen war ein weicher Sommerabend, und die Sonne stand in goldroten Streifen am Himmel. «Gell, es ist schön auf der Welt!», sagte das Elflein. «Ja, wunderschön!», jubelte Rudi. Sie schritten an Feldern und Wäldern entlang und kamen an ein breites Gittertor. Als sie in den Garten traten, weiteten sich Rudis Augen vor Entzücken. In unübersehbarer Herrlichkeit dehnte sich Beet an Beet, und es sah aus wie ein buntwogendes Meer von lauter Blumen. Rudi wagte vor Staunen und Freude kaum vorwärts zu gehen.

«Komm», sagte der Elf, «dass ich dir dein Gärtlein zeige inmitten des grossen Gartens. Dies ist das Kinder- und Jugendland. Jedes Kind auf der weiten Welt hat sein Gärtlein hier, und jedes Kind hat einen Freudenelf und einen Trauerelf, die es bewachen. Ich sammle deine Freuden in diesem Kästchen, und dein Trauerelf sammelt in einem Krüglein deine Tränen. Zum Glück gehörst du nicht zu den Kindern, die bei jeder Gelegenheit losheulen. In jedem Gärtlein ist ein Tränenweiherlein, und es ist traurig, wenn ein Kind soviel weint, dass sein Weiherlein überfliesst, denn dann müssen am Ende die Freudenblumen welken und sterben. Aber bei einem so fröhlichen Buben wie du einer bist, braucht man dafür wirklich keine Angst zu haben. Jetzt darfst du zusehen, wie ich deine Freudenblumen einpflanze vom heutigen Tage; sieh, dort ist dein Gärtlein!» Mit glückseligem Aufatmen blieb Rudi stehen und schaute auf das Gärtlein, das ihm gehörte. Gespannt beugte er sich vor und sah, dass sein Tränenweiherlein kaum feucht war.

Nun nahm der Elf ein rosarotes Blümlein aus dem Kästchen, zog ein silbernes Schäufelchen aus dem Gürtel, und wie er behutsam die zarten Würzlein in die Erde senkte, sagte er: «Diese Blume pflanze ich dir ein, weil du heute immer folgsam gewesen bist und dich ganz alleine angezogen hast, weil du deine Kleider nicht beschmutzt und zerrissen hast, weil du so nett aufgeräumt und den Tisch gedeckt und deine Mutter nicht geplagt und ihr geholfen hast, wo du konntest!»

Dann hob er ein blaues Blümlein aus dem Trücklein: «Diese pflanze ich ein, weil du nie gestritten hast mit deinen Geschwistern und gar nicht zornig wurdest, als dir dein Bruder das schöne Haus umgeworfen, das du gebaut!» Wieder wählte das Elflein unter den Blumen und nahm einen weissen Stern heraus: «Diese Sternenblume pflanze ich ein, weil du dem armen blassen Kind, das an eurer Türe Fegsand verkaufte, ganz von selber dein Brot und deinen Apfel gegeben und einen Zwanziger ihm geschenkt aus deiner Sparbüchse. Und diese allerschönste goldene Blume, Rudi, pflanze ich ein, weil du dem müden alten Fraueli geholfen hast, den schweren Korb den Berg hinauf tragen. Dass du mit deinen Kinderkräften so liebreich andere stützen und führen willst, sieh, dafür pflanze ich dir die leuchtendsten Blumen in dein Gärtlein; denn nichts bereitet grössere Freuden, als anderen Freude zu machen. – Und nun will ich dich zurückgeleiten in dein Bettlein und da kannst du warm und süss weiterschlafen!»

Als der kleine Rudi am andern Morgen erwachte, schlang er seine Ärmchen um der Mutter Hals und sagte glückselig: «Mutter, mein Freudenelf hat mir mein Freudengärtlein gezeigt; es ist ganz voller Blumen, und man weiss nicht, welches die schönste ist. Und Mutter, das verspreche ich dir, das Trücklein von meinem Freudenelf soll an keinem Tage leer bleiben, und an jedem Tag soll er Blumen einpflanzen können in mein Gärtlein!»


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