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Die Mutter wollte am Bahnhof einer Freundin adieu sagen. Unweit vom Hause sah sie ihren kleinen vierjährigen Hansi am Strassenrande sitzen. Er spielte mit Erde und liess sich Sand durch die Händchen und auf die blonden Locken rieseln. Er war ganz schmutzig und sein Schürzchen war zerrissen. Als Hansi seine Mutter sah, sprang er auf und rief: «Wohin willst du, ich will mit dir gehen!» Die Mutter sagte: «Das ist unmöglich, Hansi, sieh nur, wie du ausschaust; du bist ja ganz voll Erde und Wagenschmiere!» Um Hansis Mündchen fing es an zu zucken. «Aber wenn ich doch so gerne mit dir möchte», sagte er flehentlich und wollte sich an die Mutter klammern. Die Mutter wich zurück; sie hatte ein helles Kleid an, und sagte: «Du darfst mich nicht anfassen, sonst verdirbst du mir den Rock; und nun sei Mutters braver Bubi, geh lieb nach Haus und lass dich sauber machen; es steht auch Milch und Brot und Rhabarbermus für dich bereit; das hast du doch so gerne!» «Ich will aber erst mit dir kommen!», beharrte Hansi. «Ich kann dich unmöglich mit nehmen; ich bin sehr, sehr eilig! Wenn du dich nur nicht so fürchterlich eingeschmiert hättest!» Die Mutter wollte schnell davonspringen; doch da fing Hansi schrecklich an zu weinen und stiess unter Schluchzen hervor: «Und wenn du der Hansi wärst und ich die Mutter, und dann nähme ich dich doch mit, und wenn du auch noch so schmutzig wärst; buhu-bu, buhu-bu!» Hansi weinte so laut, dass die Leute auf der Strasse stehen blieben. «Du bist jetzt ein wüster Grüsel», sagte eine Frau, «weisst, Bürschli, wenn einer seine Mutter so plagt, dann sollte man ihm tüchtig Tätsch geben!» Hansi weinte indessen nur noch lauter. Die Mutter warf einen verzweifelten
Blick auf das schreiende Kind und dann auf die nahe Turmuhr. Sie sah, dass es ausgeschlossen war, zur rechten Zeit zur Bahn zu kommen. So packte sie Hansi am Arm, hielt ihn in vorsichtiger Entfernung von ihrem guten Kleid und ging mit ihm nach Hause. «Du bist doch ein fürchterlicher Heulpeter!», sagte sie, «und ein schrecklicher Zwänger; jetzt wirst du zur Strafe heute nachmittag überhaupt nicht mehr hinaus dürfen und kannst im Zimmer bleiben, während draussen die Sonne scheint.» Hansi weinte nach diesen Worten in durchdringender Stärke fort und sperrte sich aus Leibeskräften gegen das Heimgehen.
Zu Hause schloss die Mutter Hansi in das Schlafzimmer ein. Zuerst rüttelte Hansi zornig am Riegel und ballerte mit den Fäustchen gegen die Türe und stampfte mit den Füssen. Am Ende wurde er von dem Toben müde und setzte sich auf den Boden, und dann dauerte es nicht lange und Hansi schlief ein. Noch zogen seine Atemzüge, von Schluchzen unterbrochen, durch den Raum, als ein winzig kleines Wesen mit einem Krüglein im Arme sich Hansi nahte, bekümmert sich über ihn neigte und die letzte Träne, die noch an Hansis Wimpern hing, in das Krüglein tropfen liess.
«Jetzt ist dieser Krug auch wieder voll», seufzte der Elf; «es ist wirklich sehr traurig, dass Hansi so ein böser Bub ist und soviel weint; immer seltener ist er froh und lieb. Und wie er wieder ausschaut! Ganz schämen muss man sich für ihn!» Der Elf zupfte Hansi an seinem zerrissenen Kittel. «Komm mit mir, ich will dir etwas zeigen!» Hansi rieb sich verwundert die Augen und fragte verdutzt: «Wer bist du?» «Ich bin der Trauerelf», sagte das kleine Wesen; «jedes Kind hat zwei Elfen, die es umgeben, den Freudenelf und den Trauerelf; du gibst mir wirklich viel zu schaffen, folge mir!» Der Elf fasste das Tränenkrüglein mit der einen Hand und mit der andern umklammerte er Hansis kleinen Finger; und so führte er ihn die Treppe hinunter aus dem Hause und durch die Strassen der Stadt hinaus ins freie Land. Und wie sie so zusammen wanderten, zählte der Elf Hansis Unarten auf: «Bei der geringsten Gelegenheit fängst du an zu heulen; kaum anzutippen braucht man dich und du brüllst los: buhu-u, buhu-u! Wenn man dich wäscht, schreist du, und wenn man dich kämmt, schreist du auch. Wenn dir deine kleine Schwester ein Bauklötzchen umwirft, brüllst du. Wenn man dich bei Tisch ermahnt, still zu sitzen, nicht alles anzufassen, nicht zu schaukeln, brüllst du, wenn man dich vom Spielen heimruft, brüllst du; wenn man dich zu Bett bringen will, brüllst du; wenn du aufwachst, und es ist gerade nicht alles so, wie es dir passt und genehm ist, brüllst du, und so plagst du deine gute Mutter vom Morgen bis zum Abend. Seit einiger Zeit muss ich jeden Tag ein Krüglein füllen mit deinen Tränen! Aber nun will ich dir einmal zeigen, wohin das führt, wenn du dich nicht besserst!»
Wie das Elflein so redete, hätte Hansi am liebsten von neuem geweint; aber irgendwie getraute er sich nicht, und seufzte nur schwer beklommen auf. – So kamen sie an eine lange Mauer, über die sich Rosen rankten; das Elflein schlüpfte mit Hansi durch ein offenes Gittertor, und Hansi erblickte einen weiten blühenden Garten vor sich, der in unübersehbar viele kleine Beete eingeteilt war. Diese Beete oder besonderen Gärtlein waren von zahllosen wunderschönen Blumen überleuchtet. – Wenn man näher zusah, so hatten die Gärtlein freilich ein verschiedenes Aussehen, und einzelne machten geradezu einen dürftigen und unfreundlichen Eindruck, und in dem armseligen Erdreich staken nur einige harte Disteln und graue, dünne Blätter. In jedem Gärtlein war ein Weiher, dessen Wasser in den schönen Gärtlein leise blinkte, während es in den andern überschwemmend alle Blumen zu verdrängen und zu zerdrücken wollen schien.
Jetzt hielt der Elf vor einem Gärtlein, in dem der kleine Weiher schon fast bis zum Überlaufen gefüllt war. Wie sie stille standen, fragte der staunende Hansi: «Was ist dies für ein merkwürdiger riesengrosser Garten? Und was sollen alle die vielen vielen Gärtlein und in der Mitte von jedem die Weiherlein darin?» Der Elf stellte sein Krüglein zu Boden. «Dies ist der Garten, in dem jedes Kind sein besonderes Gärtlein hat, und wenn ein Kind glücklich und froh und gut ist, so pflanzt sein Freudenelf für jede Freude, die es empfindet oder anderen bereitet, eine Blume in sein Gärtlein, und schau nur, wieviel Freuden die Kinder haben müssen, weil soviel rote und blaue und gelbe Blumen in dem weiten Garten blühen. In die Weiherlein aber müssen wir Trauerelfen unsere Tränenkrüglein leeren. Alle Tränen, die das Kind weint, das wir behüten, müssen wir sammeln, und wenn sein Weiherlein überfliesst, so verderben seine Freudenblumen unter dem salzigen zerstörenden Nass der Tränen. Und auch die liebe Sonne, die besonders leuchtend über diesem Garten strahlt, hat am Ende nicht mehr die Kraft, die Blumen aufzurichten, und darum bleibt, wie du siehst, in einzelnen Gärtlein nur noch hässliches, missfarbenes Gewächs!»
«Wem gehört dieses Gärtlein?», fragte Hansi und deutete auf das Gärtlein, vor dem sie standen, «es ist so froh und bunt, es gefällt mir so gut; nur oben am Weiherrand stehen verwelkte Blümlein.» «Das ist dein Gärtlein», sagte der Elf, «und wenn ich dies Krüglein voll Tränen hineingeleert habe, dann braucht es nur noch ein Krüglein, um dein Weiherlein zum Überfliessen zu bringen. Und dann müssen die Blumen sterben, die in deinem Garten wachsen!» Hansi tat einen tiefen Seufzer, und wie der Elf jetzt mit dem Krüglein zum Weiher schritt und es entleerte, seufzte er noch einmal. Aber obgleich er ganz nahe daran war, zu weinen, so schluckte er die Tränen tapfer hinunter und machte sich ganz stark. Er wollte sich auf keinen Fall sein Gärtlein selber verderben. Der Elf warf einen Blick auf Hansi und sagte mit einem befriedigten Nicken wie zum Trost: «Ein bisschen trinkt immer die Sonne von den Tränenweiherlein fort; sie steht jeden Tag gleich klar und golden über diesem Garten und hat alle Kinder lieb; auch dich. Darum ist diesmal dein Weiherlein auch noch nicht übergelaufen!» Hansi sandte einen dankbaren Blick zur Sonne und schaute dann dem Elf in die Augen: «Ich will daran denken, was du mir gesagt hast, es ist gut, dass du mich in diesen Garten geführt und mir zur rechten Zeit mein Weiherlein gezeigt!» «So spring denn schnell zu deiner Mutter und sag ihr, dass du brav sein und in Zukunft kein Heul-Hansi mehr sein willst. Dann läuft dein Weiherlein nicht über!»
Hansi klatschte in die Händchen und jubelte; man sah, was er für ein herziger Bub sein konnte. Und flugs kam auch sein schimmerndes Freudenelfchen und pflanzte eine neue Blume in seinen Garten. Und wie Hansi lachte vor Glück, war er auf einmal wieder in seinem Zimmer daheim und seine Mutter stand vor ihm. Sie hatte gar kein strenges Gesicht mehr und sagte mit einer lieben Stimme: «Komm, ich will dich jetzt sauber machen!» Hansi sah sie mit strahlenden Augen an: «Mutter», sagte er, «ich bin bei den Tränenweiherlein gewesen, aber meines soll dann nie, nie überfliessen, das verspreche ich dir, Mutter!» Und während er sich, ohne ein Mückslein zu tun, waschen und bürsten liess, erzählte er seiner Mutter, wo er gewesen war.