Heinrich Zschokke
Meister Jordan
Heinrich Zschokke

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24. Gespräch auf der Landstraße.

Vom schwersten Mißmuth gedrückt, befand er sich wieder im Gasthof. Er mochte keinen Augenblick länger in der Stadt verweilen, die für ihn ein Schauplatz des gräßlichsten Begegnisses in seinem jungen Leben geworden war. Hätte er die Tochter des Goldschmieds auf dem Sterbebett gefunden, der Anblick würde ihn nicht so qualvoll erschüttert haben.

Noch manche Tagreise von Altenheim entfernt, übergab er seine Koffer der Post; füllte seinen leichten Habersack mit dem Nöthigsten; warf ihn über den Nacken und setzte seinen Weg zum Thor hinaus, als rüstiger Fußgänger, fort. Er empfand das Bedürfniß, sich zu zerstreuen und zu vergessen. Darum wählte er, auf deutschem Boden, wieder die lang entbehrte Lust harmlosen Lebens eines wandernden Handwerksburschen. Der Morgen war frisch; die Gegend zwischen Saatfeldern, Hügeln und Eichenwaldungen anmuthig; – aber er konnte Ida, die Tiefgesunkene und Verwüstete, nicht vergessen.

»Und gleich ihr, wie manche dieser Unglückseligen hab' ich schon gefunden!« dachte er: »Das ist der sittliche Mord, welchen Aeltern an ihren Kindern begehen. Das künftige Loos einer Tochter ist schwerer vorauszusehen, als das eines Knaben; und doch wird, auf alle Fälle und Unfälle des Lebens, für eine Tochter weniger Bedacht genommen, als für einen Sohn! – Arme Ida! Deine Schönheit ward dir durch der Aeltern Affenliebe und Eitelkeit zum Fluch. Statt dich vorzubereiten, einen braven Mann dereinst und ein ganzes Hauswesen, durch Religiosität, Thätigkeit, Ersparnißkunst, Reinlichkeit und Ordnungsliebe glücklich zu machen, gutes Gesinde zu erziehen und der Kinder unschuldige Herzen zu behüten; lehrte man dich Hoffart treiben, dich zieren, verstellen, kokettiren, tanzen, musiziren, deklamiren, Romane spielen, über Andre witzeln und spötteln, um nachher selber Gegenstand des Spottes, oder Mitleids, nun des Abscheu's zu sein. Und Mütter selbst sind es, welche ihrer unerfahrenen Töchter Herz und Verstand vergiften. Arme Ida!«

Veit, der sich in der Niedergeschlagenheit des Gemüthes diesen und ähnlichen Gedanken überließ, ward darin durch eine, mit zierlicher Perlenstickerei glänzende Brieftasche gestört, die vor ihm im Staube der Landstraße lag. Er hob sie auf, säuberte sie und warf den Blick nach allen Seiten umher, vielleicht zu entdecken, wer sie verloren haben möge? Wirklich ward er vor sich, aber in ziemlicher Ferne, einen einzelnen Fußgänger gewahr, der bald stille stand, bald weiterging, bald umkehren zu wollen schien. Veit verdoppelte seinen Schritt, bis er den Reisenden erreichte. Es war ein wohlgewachsener Herr, von angenehmen Gesichtszügen, den Vierzigern nahe, im leichten grünen Ueberrock und Strohhut, ohne alles Gepäck, wie ein Spaziergänger.

»Sie suchen, scheint's, etwas?« fragte Veit grüßend: »Haben Sie vielleicht . . .«

»Ich verlor meine Brieftasche. Hätten Sie vielleicht . . .« fiel ihm der Fremde in die Rede mit erwartungsvoller Miene.

Der junge Jordan überreichte seinen Fund dem Fremden, der mit sichtlicher Freude dankte, dann aber, wie etwas verlegen, fragte: »Sahen Sie den Inhalt?« Auf Verneinung des glücklichen Finders hin, wiederholte der Andere seinen Dank noch lebhafter und beide setzten gesellschaftlich den Weg mit einander fort. Ihr Gespräch, das lange über Alltägliches umherschweifte, ward für sie bald Anziehender, als sich in Frag' und Antwort ergab, daß Einer wie der Andere Paris und London kannte, aber jeder von anderer Seite Leben und Werth dieser Städte aufgefaßt hatte.

»Doch ging's mir,« sagte der Fremde: »merkwürdig! fast nirgends auf der Reise so arg, als hier, in dem verwünschten Ländchen, dessen Boden wir jetzt bewandern. Heut also die Brieftasche verloren; vorgestern dank der elenden Fahrstraße den Reisewagen gebrochen! Im Marktflecken, hinter uns, kein Wagner, kein Schmied, weil gestern, ich weiß nicht welcher Festtag war. Ich verlor einen ganzen Tag dabei, Prozessionen von allen Orten her zu sehen, und Schwärme von Bettlern und Bettlerinnen. Demungeachtet soll die prächtige Abtei neben dem Marktflecken sehr reich sein.«

»Ich auf meinen Wanderschaften,« entgegnen der Sohn des Gürtlers: »sah nirgends hungrige Klöster in reichen Dörfern. Fromme Einfalt gibt überall Gut und Land in todte Hand, um dafür Klostersuppen, Bettelstäbe und Anweisungen auf die Freude der Ewigkeit anzunehmen.«

Der Fremde lächelte schälkisch, setzte aber hinzu: »Nicht bloß hier, allenthalben in dieser Gegend, scheint ein träges, unwissendes Volk zu wohnen. Nur die Hauptstadt ist schön; sonst sieht man nichts, als gewerblose Städtchen, schmutzige Dörfer, und, beim besten Boden, schlechtbestellte Aecker und Wiesen. Es ist merkwürdig! Ich gestehe, ich bin erstaunt.«

»Ich gar nicht, mein Herr,« versetzte Veit: »Wo der dritte Theil des Jahres von Sonn-, Fest- und Feiertagen verschlungen wird, pflegen volle Kirchen, volle Wirthshäuser neben leeren Feldern und leeren Werkstätten selten zu fehlen. Die Regierungen sehen nur zu oft, vor aller Pracht in ihrer Residenz, das Elend der Dörfer nicht.«

Der Reisegefährte warf einen sonderbaren Seitenblick auf seinen Nebenmann und äußerte: »Es ist heutiges Tages Mode, ich weiß es, die Regierungen anzuklagen, wenn auch die eifrigste nicht im Stande ist, in einer unbeholfenen, schwerfälligen Volksmasse das Bessere zu befördern.«

»Es kömmt wohl immer darauf an, was man unter dem Bessern versteht? Ob verminderte und gleichmäßiger vertheilte Auflagen, neben vergrößerter Freiheit des Verkehrs und Gewerbs; oder ob glänzendere Besoldungen für Höflinge, Ordensträger, Titelherren und Diener des Luxus, auf Kosten des Volks gefüttert? Ob Ballsäle, Opernhäuser und Pracht- und Lustgebäude für reiche Müßiggänger; oder ob Zwangsarbeitstätten für arbeitsscheue Lungerer, zweckmäßigere Besserungsanstalten und Strafhäuser für Sünder? Ob Gestattung von Lotterien, Schlupfwinkel der Unzucht, Liqueurbuden, die das Volk mit Lastern, die Staatskasse aber mit Geld bereichern; oder ob Stadtschulen zur Bildung tüchtiger Gewerbsmänner, Dorfschulen zur Bildung verständigerer Landwirthe. Unsere Staatsmänner und Finanzkünstler sind noch nicht im Reinen über das, was das Bessere sei.«

Von diesen Worten etwas befremdet, blieb Veits Begleiter auf seiner Stelle stehen, sah den jungen Mann etwas ernster an und fragte: »Mit wem hab' ich das Vergnügen zu sprechen?«

»Ich heiße Jordan; bin aus dem Fürstentum Altenheim; meiner Profession Gürtlergesell, doch auch Stück- und Bildgießer.«

»Was?« rief Jener mit einer Stimme des Unglaubens: »Gürtlergesell, Stückgießer, Bildgießer? Merkwürdig!«

»Und mit wem,« hob Veit an: »wenn ich wagen darf zu fragen, hab' ich die Ehre zu . . .«

Eh' er vollenden konnte, ward ihm die Antwort: »Ich bin Graf Königsfelden. Aber, junger Mann, – also Jordan? aus Altenheim? Gürtlergesell? – Merkwürdig! Sie verrathen mehr Kenntniß und Bildung, als sonst bei Handwerksburschen einheimisch sein mag. Waren Sie vielleicht früher zu höhern Studien bestimmt?«

»Das wohl nicht,« entgegnete Veit, und erzählte ohne Bedenken von der Armuth seines Vaters und Großvaters; von den Grundsätzen seiner braven Aeltern; von seinen Schul- und Wanderjahren, und wie er, bei nöthiger Vorbereitung in mathematischen und chemischen Vorkenntnissen, die Museen, Naturalienkabinette, Fabriken und großen Werkstätten im Auslande nicht ohne Nutzen besucht habe. Sein vornehmer Zuhörer, dessen Gesicht ein mit Verwunderung gemischtes Wohlgefallen aussprach, unterbrach die Erzählung häufig mit Fragen, bis hinter ihnen ein zierlicher Reisewagen im starken Trabe daher rollte und das Gespräch endete. Denn der Wagen hielt. Zwei Jäger sprangen hinten vom Hochsitz herab, den Schlag der Chaise zu öffnen. Ein schwarzgekleideter Herr, im Innern des Wagens, entblößte ehrerbietig das Haupt.

»Nun, mein Freund,« sagte der Graf und klopfte vertraulich mit der Hand Veits Schulter: »ich bin Ihnen Dank schuldig. Wir sehen uns schon einmal wieder. Ich würde die angenehme Unterhaltung mit Ihnen noch gern fortsetzen. Aber ich habe Eile vonnöthen. Leben Sie wohl!«

Damit sprang er in den Wagen; winkte dem zurückbleibenden Fußgänger noch einmal freundlich zu, und der Wagen flog davon.


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