Heinrich Zschokke
Meister Jordan
Heinrich Zschokke

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21. Die Sonntagsschule.

Seit dieser Unterredung verflossen Jahr und Tag. Weder der regierende Fürst, noch der Graf Salm ließen den Hofgürtler wieder in das Schloß rufen. Jonas war dessen sehr zufrieden. »Weiß man doch nie,« sagte er: »ob man da Donnerwetter oder Sonnenschein trifft? Herrengunst, flüchtiger Dunst! In der Ferne leuchten uns Fürsten schön entgegen; tritt man ihnen aber zu nahe, verbrennt man sich leicht. Besser zu Hause eigner Herr sein, als Knecht mit Stern und Ordensband anderswo Und wer Herr seiner selbst ist, der ist mehr als ein König, welcher Herr von Allem, nur keiner von sich ist.«

Mit diesen Grundsätzen lebte er glücklich, stets genügsam; bei Arbeit fröhlich; fromm zwischen Gesellen und Lehrknaben; ehrlich gegen Kunden; friedlich und freundlich mit Bürgern und Handwerksgenossen. Martha und Christiane wetteiferten, ihm Stille und Einförmigkeit des häuslichen Lebens zu versüßen und zu vermannigfaltigen. Er hinwieder kannte keine größere Lust, als den herzliebenden Geschöpfen Freude mit Freuden zu vergelten. Den tiefgebeugten Gideon Kürbis erheiterte er, wie er konnte, und alle Hausgenossen folgten seinem Beispiele. Auch ließ er ihn nicht unbeschäftigt, weil, wie er zu sagen pflegte, Müßiggang seelenkrank mache, und den Leuten seltsame Gedanken in den Kopf bringe.

Nur eins ließ ihn nicht ganz ohne Sorg' und Unmuth; das war das immer noch ungewisse Schicksal seines bescheidenen Vermögens. Unfruchtbar und zinslos mußte es da liegen, bis Gideons großes Haus einmal einen reichen Käufer fand. Allein es fand sich keiner. Es ward wiederholt und umsonst feil geboten. Die Gläubiger besprachen sich oft zusammen. Einer ermunterte den Andern zur Uebernahme des Ganzen. Jeder wollte sich dafür Abzug von seiner Schuldforderung gefallen lassen. Es war umsonst. Der öde, palastartige Prachtbau verschlechterte sich inzwischen und verlor an Werth, je länger er unbewohnt und verwahrlost dastand.

Am meisten drängten die Antheilhaber den Meister Jordan, den riesigen Leichnam eines schönen Wohnhauses an sich zu ziehen, weil er doch Nachbar desselben, und sein altes Eckhaus daneben kaum noch für sein Gewerbe geräumig genug sei. Um der Sache endlich abzukommen, ergaben sie sich darein, die Hälfte ihrer Forderung fahren zu lassen und für Auszahlung, oder Verzinsung des Uebrigen, die billigsten Bedingungen zu gewähren. Da rieth selbst Veit, welchem Jonas seine Noth nach Frankreich geschrieben, zu dem guten Wagstück, und sandte, als Beitrag dazu, den gesammten Erwerb, welchen er, aus der Handels-Gemeinschaft mit der Wittwe Bellarme, erübrigt hatte.

»Mir wenigstens scheint diese Spekulation keine übelberechnete,« schrieb Veit: »denke daran, lieber Vater, daß auch ich eines Platzes bedarf, wenn ich einmal nach Altenheim zurückkehren müßte. Und wer weiß, ob ich nicht bald genug dazu gezwungen sein werde? Denn meine hiesigen Verhältnisse gestalten sich täglich zweifelhafter und unangenehmer. Ich sehne mich hinweg von hier aus triftigen Gründen, die ich verhehlen will und muß. Wo würd' ich aber einen schönern Wohnsitz finden, als dicht bei Vater und Mutter!«

So schlug Jonas ein und der Kauf ward geschlossen. Zwar konnten sich weder er noch Martha entschließen, ihre kleinen heimathlichen Stuben und Kämmerlein zu verlassen, in welchen jede Stelle, jeder Winkel sie mit theuern Erinnerungen festhielt. Doch gefiel es ihnen, sich's darin bequemer zu schaffen, und ins neue Gebäude Werkstatt, Waarenvorräthe, Handelsladen und Schlafstellen der Gesellen zu verlegen. Auch der alte Gideon mußte dort wieder Wohnung nehmen in einem seiner ehemaligen, freilich nun alles Prunkes entbehrenden Zimmer.

»Sieh',« sagte Martha zu ihrem Manne, als er mit untere geschlagenen Armen dastand, und die Veränderungen betrachtete, welche sie geschäftig ausgeführt hatte: »so ist's nun doch erfüllt, was Dir, als Knaben, einst die graue Natchen geweissaget hat. Dein kleines Haus werde das große eines reichen Mannes verschlingen. Mein Vater hat mir einigemal davon erzählt. Doch, das Glück, was sie ihm und einigen Andern verhieß, ist leider nicht erschienen.«

Jonas nahm das Weibchen in den Arm, über diese Worte lachend, und versetzte: »Daß doch der gesundeste Menschenverstand, zumal bei euch Frauen, im Augenblick zum Narren werden kann, wenn von hundert Dingen ganz zufällig ein einziges dem prophezeiten halb und halb ähnlich sieht. Die alte Hexe hat wahrscheinlich dem Herrgott nicht in die Karte geschaut, als sie die ihrige anschielte. Gott führt die Seinen wunderlich; sagt's aber nicht voraus; sonst hätte alles Verwundern ein Ende, und wir wären so klug wie er. Nein, nein; laß den Aberglauben fahren! Umgekehrt, ich fürchte, das große Haus könne das kleine verschlucken. Man muß nicht jauchzen, bis man über den Graben ist. Große Noth und großes Glück haben beide große Tück.«

Wirklich verursachte das Besitzthum, wenn es auch Marthens Eitelkeit schmeicheln mochte, dem bedächtigen Hofgürtler mehr, denn eine sorgenschwere Stunde. Veit konnte noch lange Zeit in der Ferne wohnen; unterdessen sich keine Miethsleute für die vielen Säle, Zimmer und Nebengebäude meldeten. Die Zinsen waren lästig, und nicht weniger die Kosten, Alles in baulichem Stand zu erhalten.

Inzwischen trat ein Ereigniß ein, welches ihn wieder zerstreute. Es erschien nämlich die längst erwartete, oder gefürchtete, landesherrliche Verordnung in Handwerkssachen, welche, mit Abänderung des bisherigen Zunftwesens, ausgedehntere Gewerbsfreiheit aufstellte. Das gab im Lande fast eine Revolution. Jeder sprach darüber, als verstehe er die Sache am besten. Was dieser lobte und wünschte, tadelte und verwünschte jener. Man stritt und zankte, lachte und wehklagte, wie in solchen Fällen zu geschehen pflegt. Mancher von den Vorschlägen, welche Jonas vor dem Fürsten geäußert hatte, war in der Verordnung aufgenommen worden, besonders das Patentiren, weil es für die Staatskasse einträglich werden konnte. Aber nichts desto weniger gehörte Jonas zu denen, welche ebenfalls eine Umwälzung in Handwerkssachen, wie diese, mißbilligten. Auch verhehlte er seine Unzufriedenheit keineswegs, als ihn mehrere Zunftmeister beriethen, ob man nicht dem Fürsten abermals eine Bittschrift einreichen solle?

»Nein, Ihr Herren, das unterlasset!« sprach er: »Es ist einmal so der Welt Lauf; die Großen richten die Suppe an, die Kleinen müssen sie ausessen. Und haben sie einmal geirrt, so irren sie gern noch einmal darin, daß sie nicht wollen geirrt haben. Zwar unser bisheriges Zunft- und Handwerkswesen taugte weder für uns noch für das Land. Jetzt aber, um's zu bessern, hat die Regierung den Flicklappen neben das Loch gesetzt; dem Staat mit frischen Einkünften geholfen, aber dem Volke neue Wege gebahnt, durch Pfuschereien zu verarmen. Die Hauptsache fehlt, die lebendige Seele des Ganzen, Veranstaltung besserer Vorbildung und zweckmäßigern Unterrichts unserer Knaben! Da, Ihr Herren, da steckt der Wagen im Koth! – Doch muß man wohl fünf grade sein lassen. Also keine Bittschrift mehr. Zuviel Gewicht übertreibt die Uhr. Nehmen wir, was wir nicht abschlagen dürfen. Was dem Einen leidig ist, ist dem Andern freudig. Selah.«

Die neue Ordnung der Dinge ward unter Murren und Seufzen der Handwerker eingeführt. Inzwischen fanden dennoch viele von ihnen großen Trost, als bei Auflösung der bisherigen Gilden und Zünfte, deren seit Jahrhunderten gesammeltes Gut unter die gegenwärtigen Genossen vertheilt werden durfte. Umsonst eiferte Meister Jordan aus allen Kräften gegen die Versplitterung des Vermögens; umsonst schrie er: »Reißet den Pfeiler nicht ein, der noch Wohlstand und Ehre der Handwerkerschaft stützen kann. Baut lieber Schulen daraus! Baut Gewerbschulen für Eure Söhne, daß sie tüchtiger und geschickter, denn wir Alle, den fremden Ellenreitern und englischen Waarenkrämern Spitze bieten können. Macht das Handwerk zum Kopfwerk, sag' ich hunderttausendmal, oder Ihr findet den goldnen Boden der Alten nicht wieder.«

Man lachte ihn aus. Jeder strich sein Geld ein, und dachte: »Was will der Narr mit Schulen? Baarschaft in der Hand ist besser, als gelehrter Kram im Kopf. Den lassen wir den Gelehrten. Ich behalte das Meinige. Selber essen macht feist!«

Seit langer Zeit hatte nichts so sehr den gewohnten Frohsinn und Gleichmuth des gutherzigen Jordan niedergeschlagen, als dieser Unverstand und Eigennutz, diese gemüthstodte Gleichgültigkeit seiner Mitbürger, gegen das Eine, was Allen noth that. Noch hoffte er auf ein volksfreundliches, weises Einwirken der Landesregierung zur Gründung von Lehranstalten für junge Handwerker; er hoffte vergebens. Man konnte ja kaum die erforderlichen Ausgaben alle für Schloßverschönerungen, Bildergalerien, Monumente, Hoffeste, reisende Virtuosen und andre dergleichen dringende Bedürfnisse bestreiten.

»Sage mir, Herzens-Jonas, was kränkt Dich? Warum doch so still und finster?« fragte ihn an einem Feierabend Martha und streichelte seine Wange.

»Ich war's, und bin's nicht mehr!« antwortete er; und indem er Marthen zu sich auf den Schoos zog, fuhr er fort: »Höre, Lieb-Mütterchen, ich bin mit mir im Reinen; habe im Hausbuch zusammengerechnet, was sich erübrigen läßt. Und es geht, sag' ich! Nicht wahr, du, ich, Christiane, haben für ein paar Jahre keine neuen Kleider vonnöthen? Auch, denk' ich, dreimal Fleisch in der Woche, statt täglich, sind für uns genug. Veit, will ich hoffen, wird auch ein gutes Werk thun. So kömmt's auf ein paar Hundert Gulden, und die sollen uns nicht schmerzen. Ich hab's schon mit Veits altem Lehrer besprochen. Der ist dir ein Mann nach dem Herzen Gottes! Ich gebe den großen Tanzsaal in Gideons Hause dazu, und Zimmer so viel, als zur Bequemlichkeit dienen.«

Martha starrte ihm lachend in die Augen und rieb mit der Fingerspitze auf seiner Stirn herum: »Ist's auch hier im Oberstübchen ganz richtig? Willst Du Bälle, Soireen, Kränzchen, Pikeniks geben? Was hat der alte Professor dabei zu schaffen? Er kann ja nicht tanzen. Was hast du vor?

»Was? Eine Sonntagsschule für Lehrlinge und Gesellen will ich anlegen. Vielleicht gibt der Stadtrath Bänke, Tische und Tafeln dazu. Die Entschädigung der Lehrer für einige Unterrichtsstunden in der Woche wird mich nicht erdrücken. Lineale, Rechentafeln, Dintefässer kauf' ich, oder bettl' ich zusammen. Ja, betteln,« rief Jonas wie begeistert: »betteln will ich gehen, Martha, für die Söhne unserer Spießbürger, daß sie nicht selber einst den Bettelstab ergreifen müssen. Und wie unwerth es immerhin mache, Brosamen unter Tischen der Reichen zusammenzulesen; ich will mich stolz dabei fühlen, wie ein König. Die Bettlerthat ist eine Königsthat.«

»Und Gott wird,« sagte Martha, indem sie jetzt voller Rührung ihren Arm fester um den Hals des Mannes schlang und einen Kuß auf seine Stirn drückte: »Gott wird die Krone seines Segens auflegen.«

Ihr Wort ward erfüllt. Denn in kurzer Zeit hatte er für sein jugendfreundliches Unternehmen unerwartet eine so reiche Aernte von Beiträgen beisammen, daß auf sechs Jahre hinaus der Bestand desselben vollkommen gesichert ward. Absichtlich war er vor den Thüren seiner meisten Handwerksgenossen vorübergegangen; eben so vor den Thüren der andächtigen Frömmler, welche Steuern zur Beförderung des Christenthums nach Ost- und Westindien schickten, und in Altenheim verarmte Christenfamilien ohne Rath und Hülfe ließen; desgleichen vor den Thüren reicher Prasser und vornehmer Großthuer. Als er aber den Umgang vollbracht hatte, und er zur Ausführung des Werkes schritt: siehe, da meldeten sich beschämt auch die übrigen Handwerker mit ihrer Gabe; und die Andächtler und die großthuerischen Herren kamen, weil sie gern den Ruhm der Gemeinnützigkeit hatten und ihre Namen dabei genannt hören wollten. Selbst der Fürst sandte endlich ungebeten einige Hundert Gulden, und, zur Belohnung oder Belobung des löblichen Hofgürtlers, ihm dazu noch die Ernennung zum Obermeister von der Großzunft der Provinz. Jonas nahm das fürstliche Almosen mit dankbarer Demuth an; aber nicht die ihn ehren sollende Ernennung. Er lehnte sie ab; man weiß nicht, warum?

Die Schule für künftige, oder wirkliche, Handwerkslehrlinge und für in- und ausländische Gesellen ward ohne Feierlichkeiten eröffnet. Jonas war kein Freund davon. Nicht nur an Sonntags-Nachmittagen, sondern auch zweimal in der Woche, während einiger Abendstunden, wurde unentgeltlicher Unterricht ertheilt und zahlreich besucht. Herr Gideon Kürbis freute sich dabei durch ein Ehrenamt in seinem ehemaligen Hause neu bethätigt zu erscheinen. Er mußte nämlich Aufsicht über Reinlichkeit und Ordnung der Zimmer, über die materiellen Bedürfnisse, und über Anzeichnung anwesender und abwesender Schüler führen.

Mehrere Lehrer, einige gegen Bezahlung, einige freiwillig, ertheilten den lernbegierigen Jünglingen, wie es der Mangel ihrer Kenntniß, oder ihr Beruf erheischte, Unterricht in der Schreib-, Rechnen- und Zeichnungskunst; in der Lehre von der Macht der Naturkräfte, von Luftarten und Säuren, von Eigenschaften der Holzarten, Steine, Metalle und Salze; von Messung der Flächen und Körper; doch von Allem durchaus nur, was für den Gewerbsmann in der Anwendung brauchbar sein konnte und Alles sogleich in Anwendung und Wirklichkeit dargestellt. Auch zum vierstimmigen Männergesang ward Anleitung gegeben. So verminderten und verloren sich allmälig, in Wirthshäusern und Herbergen, Saufgelage und Schlägereien der Handwerksbursche. Diese fingen bald an sich ihrer selbst würdiger zu betragen. Statt sonstiger roher Zoten- und Zechlieder, erhoben Männerchöre ihre Stimmen zum Preise des höchsten Wesens, der Natur und des Vaterlandes.

Das war aber noch nicht Alles. Es ward durch Geschenke aus Privatbibliotheken nach und nach eine schöne Sammlung von nützlichen und leichtverständlichen Büchern über Gewerbs- und Naturkunde, von lehrreichen Lebens- und Reisebeschreibungen veranstaltet. Davon nahmen die fleißigern Schulgenossen nach Hause, um sich in arbeitlosen Stunden darin zu unterhalten. Zuletzt schaffte Jonas nicht nur eine ganze Reihe von Modellen und Gestellen aller Gattung herbei, sondern – durch Uebung war er Meister im Betteln geworden – auch eine große Menge Musterstücke von den verschiedensten Waaren und Stoffen.

Der alte Gideon stieg solchergestalt noch zur Würde eines Bibliothekars und Inspektors technologischer Sammlungen empor. Es that ihm im Herzen wohl. An einem Abend, da ihn der Gesang des jugendlichen Männerchors ungewöhnlich tief bewegt hatte, trat er mit thränenfeuchten Augen zum fröhlichen Jonas, drückte ihm die Hand und sprach: »Ja, ja, Herr Jordan, auf diese Weise gewinnt, wie Ihr immer sagt, das Handwerk wieder goldenen Boden, et cetera. Ihr habt Recht, ja, ja! vollständig Recht! Notabene! Wär's mir in der Jugend so geboten, ach, aus mir würde ein andrer Mann geworden sein!«


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