Emile Zola
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Emile Zola

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III

Es vergingen noch zehn Jahre, und die Liebe, die die Paare vereinigt hatte, die sieghafte und fruchtbare Liebe, ließ in jedem Hause blühende Kinder aufwachsen, in denen die Zukunft heranreifte. Mit jeder neuen Generation verbreitete und befestigte sich die Herrschaft der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Friedens unter den Menschen.

Lucas, der nun schon fünfundsechzig Jahre zählte, fühlte sich mit dem zunehmenden Alter immer stärker und inniger zu den Kindern hingezogen. Nun, da der Städteerbauer und Völkerbegründer, der in ihm lebte, die Stadt seines Ideals aus dem Boden erstehen sah, befaßte er sich hauptsächlich mit der jungen Generation, wandte sich den Kindern zu, widmete ihnen alle seine Zeit, im Hinblick darauf, daß in ihnen die Zukunft lag. Sie und die Kinder ihrer Kinder und mehr noch deren Kinder würden eines Tages das hochentwickelte, weise Volk bilden, das seinen Traum einer nur von Gerechtigkeit und Güte beherrschten Menschheit verwirklichen sollte. Die reifen Menschen können nur zum geringen Teil von den Irrtümern und Gewohnheiten befreit werden, in deren Bande die Vererbung sie schlägt. Daher muß man auf die Kinder wirken, muß die falschen Ideen bei ihnen im Keime ersticken, damit sie dem ihnen innewohnenden Entwicklungstrieb ungehemmt folgen und sich zu vollkommenen Wesen umgestalten können. So mußte jede Generation um einen weiteren Schritt vorwärts gebracht, durch jede mehr Glück und Frieden verbreitet werden. Lucas pflegte daher auch mit seinem guten Lächeln zu sagen, die Kinder seien die stärksten und siegreichsten Eroberer seines kleinen vorwärtsdringenden Volkes.

Bei den großen Morgenrundgängen, die Lucas zweimal wöchentlich durch seine Schöpfung machte, widmete er daher die meiste Zeit den Schulen und auch den Krippen, in denen die ganz Kleinen behütet wurden. Er begann gewöhnlich bei ihnen, ehe er sich in die Werkstätten und Lager begab, er genoß gleich in den ersten Morgenstunden die Freude über diese fröhliche, in Gesundheit blühende Jugend. Da er jede Woche andere Tage für seine Überwachungs- und Ermunterungsrundgänge wählte, wurde er nirgends erwartet, erschien er immer überraschend inmitten der lärmenden kleinen Welt, in der alle ihn als einen fröhlichen und guten Großvater vergötterten.

An einem prächtigen Frühjahrsmorgen wandte also Lucas seine Schritte den Schulen zu, um seinen Kindern, wie er sie alle nannte, wieder einen Besuch abzustatten. Die Strahlen der Morgensonne fielen in einem Goldregen durch das Laub der Bäume, und Lucas ging langsam durch eine der Alleen dahin, als er durch eine wohlbekannte, liebe Stimme aufgehalten wurde.

Suzanne Boisgelin, die ihn hatte kommen sehen, war bis zur Gartentür geeilt und hatte ihn angerufen.

»Ach, lieber Freund, ich bitte Sie, kommen Sie auf einen Augenblick herein. Der arme Mann hat wieder einen Anfall bekommen, und ich bin sehr in Sorge seinetwegen.«

Sie sprach von Boisgelin. Eine Zeitlang hatte er zu arbeiten versucht, unbehaglich in seiner Untätigkeit inmitten dieses von der Arbeit aller seiner Bewohner surrenden Bienenkorbes. Jagen und Reiten genügten nicht mehr, um seine Zeit auszufüllen, und seine Trägheit lastete schwer auf ihm. So hatte ihm denn Lucas, auf Suzannes Fürbitte und um seiner erhofften Umwandlung in einen anderen Menschen Vorschub zu leisten, eine Art Inspektorstelle in den Genossenschaftslagern anvertraut, wo er eine nur wenig Zeit in Anspruch nehmende Überwachungstätigkeit auszuüben hatte. Aber der Mensch, der nie etwas mit seinen beiden Händen geleistet hat, der Nichtstuer von Geburt, hat keine Macht mehr über sich, kann sich in keine Regel, in keine Methode mehr fügen. Boisgelin mußte bald erkennen, daß er zu einer fortgesetzten Beschäftigung unfähig war. Seine Gedanken verwirrten sich, seine Glieder verweigerten den Gehorsam, er wurde von Schlafsucht, von vollkommener Entkräftung befallen. Allmählich glitt er wieder in die Leere seines früheren Lebens zurück, in das vollkommene Nichtstun, womit er stets nutzlos seine Tage verbracht hatte. Nur fehlte ihm jetzt das Betäubungsmittel des Luxus und der Vergnügungen, und eine ungeheure, entsetzliche Langeweile überkam ihn, die durch nichts unterbrochen wurde. So lebte er denn dahin und alterte in stumpfsinniger Betäubung über all die unerhörten Dinge, die sich rings um ihn begaben und die auf ihn wirkten, als ob er auf einen anderen Planeten gefallen wäre.

»Hat er Anfälle heftiger Erregung?« fragte Lucas.

»Nein«, antwortete Suzanne. »Er ist nur sehr still und scheu, und ich bin nur deshalb so besorgt, weil sein Wahn ihn wieder erfaßt hat.«

Der Geist Boisgelins hatte sich in letzter Zeit verwirrt. Von früh bis abend schlich er herum, gleich einem Phantom der Trägheit, irrte bleich und verstört durch die wimmelnden Straßen, durch die lärmenden Schulen, durch die dröhnenden Werkstätten, bei jedem Schritte in Gefahr, mitgerissen und überrannt zu werden. Er allein tat nichts, während alle anderen im überströmenden Frohgefühl der Tätigkeit sich regten und beeilten. Er hatte sich nicht anpassen können, seine Vernunft hatte sich unter der Einwirkung all des Neuen um ihn herum getrübt, und da er allein inmitten dieses Volkes von Arbeitern müßig war, wurde er von dem Wahn erfaßt, daß er der Gebieter, der König sei, auf dessen Geheiß alle diese Sklaven arbeiteten und unermeßliche Reichtümer zutage förderten, über die er nach seinem Gefallen, für seinen persönlichen Genuß verfügte. Die alte Gesellschaft war zusammengestürzt, aber der Begriff von der Herrschaft des Kapitals war in seinem Geiste aufrecht geblieben, und er war nun in seinem Größenwahn der übermächtige, der Gott-Kapitalist, dem alle Kapitalien der Erde gehörten und der alle Menschen zu seinen Sklaven, zu unterwürfigen Handlangern seines persönlichen Wohlgenusses gemacht hatte.

Lucas traf Boisgelin auf der Schwelle der Haustür, mit der peinlichen Sorgfalt gekleidet, die er auch jetzt noch auf seine Person verwandte. Siebzig Jahre alt, war er noch immer der Geck mit zierlichen Bewegungen, sorgfältig rasiertem Gesichte, das Einglas im Auge. Nur der unstete Blick, der schlaffe Mund verrieten die innere Verwüstung. Einen Spazierstock in der Hand, war er gerade im Begriffe, sein Haus zu verlassen.

»Wie, schon auf den Beinen, schon in Bewegung?« rief Lucas ihm mit gemachter Heiterkeit zu.

»Ich muß wohl, verehrter Freund«, erwiderte Boisgelin, nachdem er ihn eine kurze Weile mißtrauisch gemustert hatte. »Wie sollte ich ruhig schlafen, wenn mein Geld und die Arbeit aller meiner Leute mir Millionen täglich tragen und alle Welt mich betrügt? Ich muß meine Augen überall haben, muß selber nach dem Rechten sehen, wenn mir nicht stündlich Hunderttausende unterschlagen werden sollen!«

Suzanne warf Lucas einen bekümmerten Blick zu. Dann sagte sie:

»Ich habe ihm geraten, heute zu Hause zu bleiben. Wozu alle diese Quälerei?«

Boisgelin unterbrach sie mit einer lebhaften Handbewegung.

»Es handelt sich nicht bloß um die heute einfließenden Summen, sondern um die schon aufgehäuften Milliarden, die sich täglich durch neue Millionen vergrößern. Ich finde mich schon gar nicht mehr zurecht, ich weiß nicht mehr, was ich mit diesem riesigen Vermögen anfangen soll. Ich muß es doch verwalten, es nutzbringend anlegen, es überwachen, wenn ich nicht allzusehr bestohlen werden soll. Oh, das ist eine Aufgabe, von deren Schwierigkeit Sie sich keinen Begriff machen können und die mich erdrückt, mich unglücklicher macht als den Ärmsten der Armen!«

Seine Stimme zitterte, und Tränen rannen über seine Wangen. Er war mitleiderregend, und Lucas, dem dieser Untätige in seiner arbeitsamen Stadt ein Greuel war, fühlte sich tief erschüttert.

»Ach was, Sie könnten trotzdem einmal einen Tag ausruhen«, sagte er. »Ich würde an Ihrer Stelle dem Rate Ihrer Frau folgen, würde hübsch zu Hause bleiben und mich an den Rosen im Garten erfreuen.« Boisgelin sah ihn wieder mißtrauisch an. Dann sagte er plötzlich in freundschaftlichem vertraulichen Ton:

»Nein, nein, ich muß unbedingt fort. Mehr noch als die Überwachung meiner Arbeiter und die Verwertung meines Vermögens liegt mir die Sorge schwer auf der Seele, daß ich nicht weiß, wo ich mein Geld aufbewahren soll. Denken Sie nur, Milliarden und Milliarden! Das nimmt schon so viel Platz ein, daß kein geschlossener Raum groß genug dazu ist. Da will ich mich nun einmal umsehen, ob ich nicht irgendwo eine große, tiefe Höhle finde. Aber sagen Sie niemandem etwas, kein Mensch darf eine Ahnung davon haben!«

Und während Lucas bestürzt auf Suzanne blickte, die mit Mühe ihre Tränen zurückdrängte, benutzte Boisgelin die Pause, um an ihnen vorbei und fortzugehen. Mit noch immer raschem Schritt erreichte er die Straße und verschwand. Lucas wollte ihm nacheilen.

»Ich versichere Ihnen, liebe Freundin, daß Sie unrecht tun, ihn sich selbst zu überlassen. Ich kann ihm nicht begegnen, ohne zu fürchten, daß es noch einmal ein großes Unglück mit ihm gibt, wenn er so verloren überall umherirrt.«

Seit langem schon hegte er diese Besorgnis, und nur die Gelegenheit gab ihm den Mut, mit Suzanne davon zu sprechen. Nichts war ihm peinlicher als der Anblick dieses Greises, der seine Wahnbilder von Reichtum und Luxus durch die emsige Arbeitsstadt trug. Wenn er ihm begegnete, gleich einem letzten Proteste der Vergangenheit, folgte er ihm mit den Augen und konnte den beklemmenden Eindruck dieses wandelnden Gespenstes einer toten Gesellschaft nicht abschütteln.

Suzanne versuchte ihn zu beruhigen.

»Er ist vollkommen harmlos, dessen können Sie sicher sein. Ich fürchte nur für ihn, denn manchmal ist er so niedergeschlagen, so trübsinnig, so erdrückt von seinem ungeheuren Reichtum, daß ich Angst habe, er könnte auf einmal ein Ende machen wollen. Aber wie könnte ich es über mich bringen, ihn einzuschließen? Es wäre eine unnötige Grausamkeit, da er doch nicht einmal mit jemandem spricht, sondern scheu und furchtsam umhergeht wie ein Kind, das aus der Schule weggeblieben ist.«

Die Tränen, die sie bisher zurückgehalten hatte, liefen nun über ihre Wangen.

»Ach, der Unglückliche! Ich habe viel durch ihn gelitten, aber er hat mir noch nie soviel Kummer gemacht wie jetzt!«

Als sie dann erfuhr, daß Lucas sich in die Schulen begab, erbot sie sich, ihn zu begleiten. Auch sie hatte nun schon ein hohes Alter, sie war achtundsechzig Jahre alt, aber sie war gesund, beweglich und tätig geblieben und erfüllte ihr Leben mit der Sorge für andere. Seitdem ihr Sohn Paul, der nun verheiratet und Vater mehrerer Kinder war, sie nicht mehr in Anspruch nahm, hatte sie sich eine größere Familie geschaffen, indem sie Lehrerin wurde und die Kinder der ersten Klasse, die ganz Kleinen, im Gesang unterrichtete. Es war ihr eine köstliche Aufgabe, in den reinen kindlichen Seelen die Harmonien der Musik zu erwecken. Sie war eine gute Musikerin, aber sie wollte den Kleinen keinerlei musikalisches Wissen beibringen, sie wollte ihnen lediglich das Singen natürlich machen, wie den Vögeln im Walde, wie allen Geschöpfen, die frei und fröhlich leben. Und sie erzielte wunderbare Erfolge, in ihrer Klasse schmetterte und jubilierte es wie in einem Vogelhaus, und die Jugend, die sie aus ihren Händen entließ, erfüllte dann die anderen Klassen, die Werkstätten, die ganze Stadt mit unablässig zwitschernder Fröhlichkeit.

»Heute ist aber nicht Ihr Tag«, bemerkte Lucas.

»Nein, ich will bloß die Erholungsstunde benutzen, um meine Kleinen ein Lied probieren zu lassen. Dann haben wir auch einiges zu beraten, Soeurette, Josine und ich.«

Die drei Frauen waren unzertrennliche Freundinnen geworden. Soeurette hatte die Leitung der Zentralkrippe beibehalten, in der sie über die Kleinsten wachte, über die Kinder, die noch in der Wiege lagen oder eben erst zu gehen anfingen. Und Josine leitete die Schneiderinnen- und Wirtschaftsschule, in der sie aus allen Mädchen, die durch ihre Hände gingen, gute Hausfrauen und gute Mütter machte. Außerdem bildeten Suzanne, Soeurette und Josine eine Art Rat der Drei, der alle die Frauen betreffenden ernsten Angelegenheiten des Gemeinwesens besprach und bestimmte.

Lucas und Suzanne waren die baumbepflanzte Straße entlanggeschritten und betraten nun den großen Platz, auf dem sich das Gemeindehaus befand, das von grünen Rasenplätzen und herrlichen Blumenbeeten umgeben war. Das einfache Gebäude der ersten Zeit hatte nun einem wahren Palast Platz gemacht. Große Festsäle, Spielhallen und ein Theater standen hier dem Volke zur Verfügung und vereinigten es zu häufigen Belustigungen, die die Tage der Arbeit unterbrachen. Neben dem Familienleben, das sich jeder in seinem Hause nach seinem Gefallen gestaltete, war es gut und ersprießlich, das Volk so oft wie möglich in gemeinsamen Veranstaltungen zu einer Einheit zusammenzufassen, damit die vollkommene Harmonie immer mehr zur Wahrheit werde. Während daher die Familienhäuser einfach waren, prangte das Gemeindehaus in reichem Luxus, entwickelte alle Pracht und Schönheit, die dem königlichen Wohnsitz des Volkes zukommt. Es schien eine Stadt in der Stadt werden zu wollen, so dehnte es sich unaufhörlich, um den wachsenden Bedürfnissen zu genügen. Hinter dem Hauptgebäude entstanden immer neue Anbauten für Bibliotheken, für Laboratorien, für Vorlesungen und Kurse, die jedermann zu Untersuchungen und Experimenten zur Verfügung standen, die Bildung und Wissen zu einem für alle offenen Gebiete machten und die festgestellten Wahrheiten überallhin verbreiteten. Außerdem gab es Rasenplätze und luftige Hallen für körperliche Übungen aller Art und ausgezeichnet eingerichtete Badehäuser mit Wannen- und Schwimmbädern, die überflutet waren von dem frischen, klaren Wasser, das von den Hängen der Monts Bleuses herabkam und durch seinen unerschöpflichen Reichtum die Sauberkeit, die Gesundheit und Freude der wachsenden Stadt bildete. Und die Schulen waren eine Welt für sich geworden, die nun neben dem Gemeindehause in eigenen Gebäuden untergebracht waren und in denen Tausende von Kindern unterrichtet wurden. Um eine schädliche Überfüllung zu vermeiden, waren zahlreiche Abteilungen errichtet worden, jede in einem abgesonderten Pavillon, dessen Fenster auf einen Garten sahen. Das Ganze bildete eine Stadt der Kindheit und Jugend, von den Kleinsten in der Wiege angefangen bis zu den Jünglingen und jungen Mädchen, die ihre Lehrlingszeit durchmachten, nachdem sie die fünf Klassen der Schule besucht und dort eine vollständige Bildung und Erziehung genossen hatten.

»Ich fange immer beim Anfang an«, sagte Lucas mit seinem heiteren Lächeln. »Zuerst besuche ich immer meine kleinen Freunde, die noch an der Brust liegen.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Suzanne ebenfalls heiter. »Ich gehe mit Ihnen.«

In diesem Pavillon, dem ersten zur Rechten, der mitten in einem Rosengarten stand, herrschte Soeurette über etwa hundert Wiegen und über ebenso viele Rollstühlchen. Sie überwachte auch die benachbarten Pavillons, aber sie kehrte immer zu diesem zurück, in dem sich drei Enkelinnen und ein Enkel Lucas' befanden, die sie vergötterte. Lucas und Josine, die wußten, wie sehr die gemeinsame Erziehung der Kinder der Stadt nützlich gewesen war, hatten gewünscht, daß die Kinder ihrer Kinder von zartester Jugend auf mit den anderen aufwüchsen.

Josine befand sich gerade auch da, an der Seite Soeurettes. Beide waren nicht mehr jung, Josine achtundfünfzig, Soeurette fünfundsechzig Jahre alt. Aber Josine war noch immer schlank und anmutig, hatte noch immer ihr prachtvolles Haar, dessen Goldfarbe nur etwas verblaßt war, während Soeurette, wie das bei schmächtigen, reizlosen Mädchen oft der Fall ist, nicht zu altern schien und mit den Jahren eine eigene, unvergängliche Anmut gewonnen hatte. Suzanne war mit ihren achtundsechzig Jahren die Älteste, die nie eine andere Schönheit besessen hatte als die ihrer sanften Güte und ihrer durch Nachsicht gemilderten Klugheit. Und alle drei umgaben Lucas mit ihren treuen Herzen, die eine als liebende Gattin, die beiden anderen als leidenschaftlich ergebene Freundinnen.

Als Lucas mit Suzanne eintrat, hielt Josine einen Knaben von kaum zwei Jahren auf dem Schoße, dessen rechtes Händchen Soeurette untersuchte.

»Was hat mein kleiner Olivier?« fragte Lucas beunruhigt. »Hat er sich verletzt?«

Es war sein jüngster Enkel, Olivier Froment, Sohn seines ältesten Sohnes Hilaire und Colettes, der Tochter Nanets und Nises. Alle Ehen, die geschlossen worden, trugen nun ihre Früchte, erfüllten die Krippen und Schulen mit einer unaufhörlich wachsenden Flut blonder und brauner Köpfe, mit der blühenden Schar der Jugend, die unaufhaltsam der Zukunft entgegenwuchs.

»Oh«, sagte Soeurette, »nur ein kleiner Splitter, wahrscheinlich vom Brett seines Stühlchens. So – es ist schon wieder gut!«

Der Kleine hatte einen leichten Schrei ausgestoßen und lachte nun schon wieder. Ein Mädchen von vier Jahren kam herbeigelaufen, mit ausgebreiteten Armen, als ob sie ihn nehmen und forttragen wollte.

»Willst du ihn wohl in Ruhe lassen, Mariette!« rief Josine. »Dein kleiner Bruder ist nicht dazu da, daß du eine Puppe aus ihm machst!«

Mariette protestierte und sagte, daß sie brav sei. Josine küßte sie und sah Lucas an, und beide lächelten glücklich über dieses kleine Volk, das ihrer Liebe entsprossen war. Suzanne führte eben zwei andere Blondköpfchen herbei, Hélène und Berthe, ein Zwillingspaar von vier Jahren, ebenfalls die Enkelinnen Lucas' und Josinens. Es waren die Kinder ihrer zweiten Tochter Pauline, die sich mit André Jollivet vermählt hatte, den sein Großvater, der Präsident Gaume, nach dem tragischen Tode des Hauptmanns und dem Verschwinden seiner Mutter Lucile zu sich genommen und erzogen hatte. Lucas und Josine hatten von ihren fünf Kindern drei bereits verheiratet: Hilaire, Thérèse und Pauline, während zwei, Charles und Jules, verlobt waren.

»Und diese Kleinen da vergessen Sie?« rief Suzanne heiter.

Die Zwillinge warfen sich Lucas, den sie sehr liebhatten, um den Hals. Mariette kletterte an seinen Beinen hinauf, und auch der ganz Kleine, Olivier, streckte seine Händchen aus und schrie so lange, bis der Großvater ihn zu sich emporhob.

»Nun fehlte nur noch«, lachte Lucas, »daß Sie Maurice herbeiholten, Ihre Nachtigall, wie Sie ihn nennen, dann wären es ihrer fünf, die mich zerreißen würden. Mein Gott, was wird das werden, wenn es erst ein Dutzend ist!«

Er stellte die Zwillinge und Mariette, die rosigen, blauäugigen Blondköpfchen, zur Erde, nahm den kleinen Olivier und schwang ihn hoch in die Luft, so daß er laute Schreie des Entzückens ausstieß. Dann setzte er ihn wieder in sein Stühlchen.

»Nun heißt es wieder brav sein, Kinder. Ich kann nicht immer mit euch spielen, ich muß mich auch nach den anderen umsehen.«

Von Soeurette geführt, von Josine und Suzanne begleitet, setzte er seinen Rundgang fort. Ein köstlicher Reiz lag über diesen Heimstätten der kleinsten Kindheit, mit ihren weißen Mauern, ihren weißen Wiegen, ihren rosigen Kindern in weißen Linnen, ihren von hellem Tageslicht durchfluteten Räumen. Auch hier rieselte überall das Wasser, man spürte seine erquickende Frische, man hörte sein leises Rauschen, seiner krystallenen Flut war die Sauberkeit zu danken, von der alle Gegenstände erglänzten. Überall herrschte Heiterkeit und Gesundheit. Wenn auch hier und da klagendes Weinen aus einer Wiege erscholl, so hörte man doch nur das reizende Stammeln, das silberne Lachen der Kinder, die schon gehen konnten und den Raum mit ihren kleinen Gestalten erfüllten.

Alle lachten fröhlich über diese schöne Saat der Liebe und Zärtlichkeit, die da im Keimen begriffen war. Suzanne, die zuerst lebhafte Befürchtungen, ja sogar starken Widerwillen gegen die gemeinsame Erziehung und den gemeinsamen Unterricht beider Geschlechter gehegt hatte, war nun voll Bewunderung über die erreichten prächtigen Resultate. Die Knaben und Mädchen, die man früher bis zum Alter von sieben oder acht Jahren zwanglos miteinander hatte verkehren lassen, die man aber dann trennte, und zwischen denen man eine unübersteigliche Mauer aufrichtete, waren jedes in Unkenntnis des anderen aufgewachsen, waren Fremde, Feinde geworden, zwischen denen der Geschlechtstrieb brutal hervorbrach, wenn in der Hochzeitsnacht das Weib dem Manne ausgeliefert wurde. Ihre Geistesentwicklung bewegte sich auf abweichenden Linien, das Geheimnis stachelte die sinnliche Begierde, der Mann verlangte ungestüm nach dem Weibe, das Weib wehrte heuchlerisch ab, ein unablässiger erbitterter Kampf herrschte zwischen zwei feindlichen Geschöpfen mit verschiedener Gedankenwelt und entgegengesetzten Interessen. Und heute sah Suzanne überall bei den jungen Paaren einen glücklichen Frieden, eine enge Gemeinschaft der Geister und der Herzen, die Vernunft, die Eintracht, die Geschwisterlichkeit in der Liebe. Aber besonders war sie freudig erstaunt über die guten Erfolge der Geschlechtervereinigung in den Schulen selbst, die eine neue Art von Wetteifer bei den Kindern erweckte, die Knaben sanftmütiger, die Mädchen tatkräftiger machte, sie durch vollkommene gegenseitige Durchdringung, durch freies, unbefangenes gegenseitiges Erkennen darauf vorbereitete, dereinst am eigenen Herde vollkommen miteinander zu verschmelzen, nur noch eine Seele und ein Körper zu sein. Das System war nun lange erprobt, es war kein einziger Fall der so sehr gefürchteten sinnlichen Reizung vorgekommen, das moralische Niveau hob sich im Gegenteil, und es war eine Freude, die Knaben und Mädchen freiwillig den Unterricht aufsuchen zu sehen, der von höchstem Nutzen für sie war, dank der jedem Kinde gewährten Freiheit, nach eigener Wahl zu seinem künftigen Besten zu arbeiten.

»Die Verlobungen finden schon in der Wiege statt«, sagte Suzanne lächelnd, »und dadurch werden Ehescheidungen vermieden, denn sie kennen einander zu gut, um sich leichtsinnig zu vereinigen. Nun, lieber Lucas, die Erholungsstunde ist da, hören Sie nun meine Kleinen singen.«

Soeurette blieb bei ihrem kleinen Volke, da die Badezeit gekommen war, während Josine sich in ihre Schneiderwerkstatt begeben mußte, in der viele kleine Mädchen mit Freuden die Erholungsstunde verbrachten, um das Kleidermachen für ihre Puppen zu erlernen. So folgte Lucas allein Suzannen durch den langen Gang, auf den die Schulzimmer mündeten.

Die Schulen waren eine ganze kleine Welt für sich geworden. Man hatte die Klassen teilen, sie in großen Räumen unterbringen und ebenso die Nebengebäude erweitern müssen, die Turnhallen, die Lehrwerkstätten, die Gärten, in denen die Kinder alle zwei Stunden sich frei herumtummeln durften. Nach einigen Versuchen stand die Unterrichts- und Erziehungsmethode nun fest, und der freie Unterricht erzielte wunderbare Resultate, bereicherte die Stadt jedes Jahr mit einer neuen, größerer Wahrheit und Gerechtigkeit fähigen Generation. Das war die treffliche, die einzige Art, das Nahen der Zukunft zu beschleunigen, Menschen heranzubilden, die, von lügnerischen Dogmen befreit, in Anschauung der Wirklichkeit herangewachsen, nur das wissenschaftlich Bewiesene, unumstößlich Feststehende glaubend, imstande waren, den besseren und vollkommeneren Zustand der Menschheit zu verwirklichen. Heute schien es ebenso natürlich wie ersprießlich, nicht mehr eine ganze Klasse unter die Fuchtel des Lehrers zu beugen, der seinen persönlichen Willen fünfzig Schülern mit fünfzig verschiedenen Gehirnen und Seelen aufzwingen will. Es schien ganz natürlich, bei diesen Schülern bloß die Wißbegierde zu erwecken, sie dann in ihren Entdeckungen zu leiten und die persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln, die sich bei jedem erkennen ließen. Die fünf Klassen waren zu Versuchsstätten geworden, in denen man die Kinder allmählich das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchstreifen ließ, nicht um ihnen dieses Wissen in unverdaulichen Mengen einzuflößen, sondern, um in jedem durch die Berührung damit die eigenen Geisteskräfte zu wecken, damit es sich das ihm Angemessene zu eigen mache, und besonders damit es in der Lage sei, sich für das Gebiet zu entscheiden, zu dem es sich hingezogen fühlte. So wurden die jungen Hirne entwickelt, jedem Kinde die Wahl aus der Unermeßlichkeit des Wissens ermöglicht und in natürlicher Weise alle seine geistigen Fähigkeiten und seine Tatkraft der Aufgabe zugeführt, für die sie am besten geeignet waren.

Lucas und Suzanne mußten noch ein wenig warten, bis die Unterrichtsstunde beendigt war. Von dem Verbindungsgange aus, den sie langsam durchschritten, konnten sie Blicke in die großen Klassenräume werfen, in denen jeder Schüler an seinem eigenen Tischchen saß. Man hatte das System der langen Bänke aufgegeben und gab den Kindern dadurch, daß jedes seinen eigenen Platz hatte, das Gefühl der Selbständigkeit. Mit den verschiedensten Mitteln wurde der einzige Zweck verfolgt, das Lernen lebendig zu machen, es vom toten Buchstaben der Bücher unabhängig zu machen, es mit der warmen Wirklichkeit zu verknüpfen. Daraus entstand bei den Schülern die Freude am Wissen und Erkennen, und die fünf Klassen entrollten ihnen die Gesamtheit des menschlichen Wissens als das ergreifende Schauspiel der wirklichen Welt, die jeder von uns kennen muß, wenn er darin tätig und glücklich sein will.

Fröhliches Lärmen erscholl, die Erholungsstunde war da. Alle zwei Stunden ergoß sich die junge Schar in die Gärten, und man mußte sehen, wie das laut und übermütig aus den Schulzimmern hinausdrängte, wie Knaben und Mädchen als gute Freunde sich miteinander gesellten! Man fand sie überall beisammen, die Spiele wurden ohne Rücksicht auf das Geschlecht veranstaltet, einige begnügten sich, fröhlich miteinander zu plaudern, andere begaben sich in die Turnhalle oder in die Lehrwerkstätten. Lautes, sorgloses Lachen erscholl von allen Seiten. Nur ein Spiel war ganz in Vergessenheit geraten: das von Mann und Frau, denn die Kinder fühlten sich alle nur als unterschiedslose Kameraden. Da sie miteinander aufwuchsen und nicht mehr voneinander getrennt wurden, hatten sie Zeit genug, einander besser kennen und lieben zu lernen, wenn sie erst ins wirkliche Leben hinauskamen.

Ein schöner, kräftiger Junge von neun Jahren warf sich Lucas in die Arme und rief:

»Guten Morgen, Großvater!«

Es war Maurice, der Sohn von Thérèse Froment, die einen Morfain geheiratet hatte, Raymond, den Sohn des gutmütigen Riesen Dada und der Honorine Caffiaux.

»Ah«, sagte Suzanne, »da ist meine Nachtigall! Nun, Kinder, wollen wir unseren schönen Chor hier auf dem Rasen unter den großen Kastanienbäumen probieren?«

Schon war sie von einer kleinen Schar umringt. Unter den etwa zwanzig Kindern befanden sich zwei Knaben und ein Mädchen, die Lucas küßte. Ludovic Boisgelin, elf Jahre alt, war der Sohn von Paul Boisgelin und Antoinette Bonnaire. Félicien Bonnaire, vierzehn Jahre alt, war der Sohn Séverin Bonnaires und Léonies, der Tochter von Achille Gourier und von Blauchen, dem Paare, das die freie Liebe auf den rauhen und duftenden Hängen der Monts Bleuses vereinigt hatte. Germaine Yvonnot endlich, sechzehn Jahre alt, war die Enkelin Yvonnots, des stellvertretenden Vorstands von Combettes, die Tochter seines Sohnes Nicolas und Zoë Bonnaires, ein schönes, fröhliches Kind, in dem sich das brüderliche, lange verfeindet gewesene Blut des Arbeiters und des Bauern vermischt und versöhnt hatte. Lucas machte es Vergnügen, die verwickelten Strähne dieser Verbindungen, dieser fortwährenden Kreuzungen zu entwirren, er kannte genau die Abstammung aller dieser jungen Menschenkinder und freute sich innig an dem unaufhörlichen Wachstum, das seine Stadt immer mehr bevölkerte.

»Jetzt sollen Sie das Lied hören«, sagte Suzanne. »Es ist eine Hymne an die aufgehende Sonne, ein Gruß der Jugend an das Gestirn, das die Ernten zum Reifen bringt.«

Auf dem von großen Kastanienbäumen umgebenen Rasenplatz hatten sich mittlerweile etwa fünfzig Kinder versammelt, und auf ein Zeichen Suzannens erhoben sie ihre frischen, hellen, fröhlichen Stimmen. Es war ein kunstloses Lied, ein Wechselgesang zwischen einem Knaben und einem Mädchen, mit Begleitung des Chors. Die Kinder sangen so fröhlich, so voll naiver Begeisterung für das segensreiche, erleuchtende Gestirn, daß ihre dünnen, etwas herben Stimmen eine erquickende Wirkung hervorbrachten.

Aber gegen Ende des Stückes entstand eine Störung. Hinter den Kastanienbäumen war die Gestalt eines Mannes aufgetaucht, der scheu und verstohlen daherkam. Lucas hatte Boisgelin erkannt und sah mit Erstaunen, wie er die Augen auf den Boden geheftet, dahinschlich, als ob er nach irgendeinem Versteck, einem verborgenen Loch inmitten der Gräser suchte. Dann begriff er, daß der arme Irre offenbar nach einem geheimen Winkel Umschau hielt, in dem er seine ungeheuren Reichtümer verbergen konnte, damit man sie ihm nicht stehle. Oft sah man ihn so ängstlich, vor Furcht zitternd, umherirren, sich verzweifelt abmühend, einen Aufbewahrungsort für seinen Überfluß an Schätzen zu finden, der ihn erdrückte.

Die scheue Gestalt Boisgelins war gleich einem Schatten hinter den blühenden Gebüschen verschwunden. Und nachdem die wieder beruhigten Kinder den Gruß an die Königin Sonne zum letztenmal fröhlich hinausgeschmettert hatten, belobten Lucas und Suzanne die junge Sängerschar und entließen sie zu ihren Spielen. Dann begaben sich die beiden zu den Lehrwerkstätten auf der anderen Seite des Gartens.

»Sie haben ihn gesehen«, sagte Suzanne leise, nach einem Schweigen. »Ach, der Unglückliche, welche Angst stehe ich um ihn aus!«

Und als Lucas bedauerte, daß er nicht hatte zu Boisgelin hingehen können, um ihn nach Hause zu führen, rief sie:

»Er wäre ja nicht mit Ihnen gegangen, Sie hätten ihn denn gewaltsam mitgeschleppt. Ach Gott, ich sage Ihnen ja, meine einzige Furcht ist, daß man ihn eines Tages irgendwo zerschmettert in einem Abgrund findet!«

Sie schwiegen wieder und erreichten bald die Lehrwerkstätten. Viele Kinder verbrachten hier einen Teil der Erholungsstunde mit Hobeln oder Feilen, mit Nähen oder Sticken, während andere auf einem Stück Gartengrund den Spaten oder das Jätmesser handhabten. Sie fanden Josine in einem großen Räume, in dem Nähmaschinen, Strickmaschinen und Webstühle nebeneinander in Gang waren und von Knaben oder Mädchen gelenkt wurden. Heller Gesang erscholl, ein fröhlicher Wetteifer belebte die Werkstätte.

»Hören Sie, sie singen!« sagte Suzanne, wieder heiter geworden. »Sie werden immer singen, meine Singvögel.«

Josine zeigte einem großen, sechzehnjährigen Mädchen, Clémentine Bourron, wie sie es anstellen müsse, um ein gewisses Stickmuster auf der Maschine herauszubringen. Und ein neunjähriges Mädchen, Aline Boisgelin, wartete, bis sie fertig sei, um sich zeigen zu lassen, wie man eine Naht ausbügelt. Clémentine, die Tochter von Sébastien Bourron und Agathe Fauchard, war väterlicherseits die Enkelin des Streckers Bourron und mütterlicherseits die Enkelin des Ziehers Fauchard. Aline, die jüngere Schwester Ludovics, Tochter von Paul Boisgelin und Antoinette Bonnaire, lächelte ihrer Großmutter Suzanne fröhlich zu, deren Liebling sie war.

»Weißt du, Großmutter, das Ausbügeln kann ich noch nicht, aber ich mache schon ganz gerade Nähte. Nicht wahr, Tante Josine?«

Suzanne küßte sie und sah dann zu, wie Josine ihr eine Naht zum Muster ausbügelte. Auch Lucas interessierte sich sehr für diese kleinen Arbeiten, denn er wußte, daß es nichts Unbedeutendes gibt, daß das Glück des Lebens auf der richtigen Anwendung der einzelnen Stunden, auf der vollen und harmonischen Verwertung aller geistigen und körperlichen Kräfte beruht. Und da Soeurette eben hinzukam, als er sich von Josine und Suzanne verabschiedete, um sich in die Fabrik zu begeben, befand er sich eine kleine Weile in dem blühenden Garten in Gemeinschaft mit den drei Frauen, den drei liebenden und ergebenen Herzen, die ihm beistanden in der Verwirklichung seines Ideales der Gerechtigkeit und der Güte.

Sie verweilten ein wenig im Gespräch, verteilten ihre Aufgaben, besprachen die zu ergreifenden Maßregeln. Wenn ihre kleine Welt sich so kräftig entwickelte, ohne allzuviel Reibungen und Widerwärtigkeiten, und eine so schöne und reiche Ernte lieferte, so war dies dem Grundsatz der Erzieher und Lehrer zu danken: es gibt keine bösen Leidenschaften im Menschen, es gibt nur Triebkräfte, denn die Leidenschaften sind nur machtvolle Triebe, die man nur bemüht sein muß zum Besten der einzelnen und der Gesamtheit wirken zu lassen. Die Begierde, die von den Religionen verdammt wird, die Begierde, die Jahrhunderte auszurotten versucht haben wie ein schädliches Tier, die verfolgte, im Mann und im Weibe unterdrückte und doch immer wieder siegreiche Begierde, ist nur die lodernde Flamme des Weltalls, der Hebel, der die Gestirne in Bewegung setzt, die treibende Lebenskraft, deren Verschwinden die Sonne erlöschen ließe und die Erde in die eisige Finsternis des Nichts stürzen würde. Es gibt keine Unzucht, es gibt nur glühende Herzen, die in der Wonne der Liebe den Himmel offen sehen. Es gibt keine aufbrausenden, keine geizigen, keine lügnerischen, gefräßigen, faulen, neidischen, hochmütigen Menschen, es gibt nur Menschen, deren innere Triebe, deren regellose Kräfte, deren Bedürfnis nach Tätigkeit, nach Kampf und Sieg nicht in die richtigen Bahnen gelenkt worden sind. Aus einem Geizigen hätte ein vorsichtiger, ein sorgfältig rechnender Mensch werden können. Aus einem aufbrausenden, einem neidischen, einem hochmütigen Menschen wäre ein Held geworden, der sich um des Ruhmes willen ganz hingibt. Einen Menschen einer Leidenschaft berauben, heißt ihn verstümmeln: er ist nicht mehr ganz, er ist ein Krüppel, man hat ihm etwas von seinem Blut, von seiner besten Kraft geraubt. Wirklich, es ist ein Wunder zu nennen, daß die Menschheit ihre Lebenskraft behalten hat unter der Herrschaft der lebensverneinenden Religionen, die seit so langer Zeit mit aller Macht beflissen sind, den Menschen im Menschen zu töten und ihn einem lügnerischen und grausamen Gotte zu unterwerfen, dessen Reich nur auf dem Grabe alles natürlichen Lebens bestehen könnte.

In den Schulen, in den Lehrwerkstätten und selbst in den Krippen, von den ersten Spielen der Kinder an, wurden daher die Leidenschaften der Kinder nutzbar gemacht, anstatt daß man sie unterdrückt hätte. Während die Trägen gleich Kranken gepflegt wurden, während man bestrebt war, ihre Willenskraft und ihren Ehrgeiz zu wecken, indem man sie frei die Lehrgegenstände wählen ließ, für die sie Interesse und Verständnis besaßen, nützte man den Kräfteüberschuß der Heftigen zu schwereren Arbeiten aus, verwertete den Trieb der Geizigen zur Genauigkeit und Nüchternheit, erzielte man von den Neidischen und Stolzen, daß ihre gesteigerten Geisteskräfte die schwierigsten Aufgaben bewältigten. Was die Moral einer heuchlerischen Unterdrückungssucht die niedrigsten Instinkte des Menschen genannt hat, wurde so zum flammenden Herde, aus dem das Leben sein unauslöschliches Feuer holte. Alle lebendigen Kräfte wurden an die richtige Stelle gebracht, die Schöpfung kehrte in ihre natürliche Ordnung zurück, wälzte den breiten, vollen Strom der Lebewesen mächtig vorwärts und führte die Menschheit dem Reiche des Glückes zu. An Stelle der widersinnigen Vorstellung von der Erbsünde, von einem bösen Menschen, den ein launenhafter und unvernünftiger Gott bei jedem Schritt bestrafen oder retten muß, dem einerseits die kindische Drohung einer Hölle, andererseits die lügenhafte Verheißung eines Paradieses vorgehalten wurde, gab es nur noch die natürliche Entwicklung von Wesen höherer Ordnung, die sich lediglich im Kampfe mit den Kräften der Natur befinden und die diese Kräfte besiegen, sie ihrem Glücke dienstbar machen werden an dem Tage, da sie den brudermörderischen Kampf einstellen und als Brüder allmächtig miteinander leben werden, nachdem sie unter schweren Leiden die Wahrheit, die Gerechtigkeit und den Frieden sich errungen haben.

»So ist's also recht«, sagte Lucas, als er im Vereine mit Josine, Soeurette und Suzanne die Anordnungen für den Tag getroffen hatte. »Geht nun, liebe Freundinnen, und eure Herzen werden das übrige tun.«

Sie umgaben ihn alle drei wie die Verkörperung der brüderlichen Gemeinsamkeit, der allgemeinen Liebe, die unter den Menschen zu verbreiten der Traum seiner Seele war. Sie hatten sich an den Händen gefaßt und lächelten ihm liebevoll zu, alle drei noch schön, trotz ihres Alters und ihrer weißen Haare, in der unvergänglichen Schönheit der Sanftmut und Seelengüte. Und als er sie verließ, um sich in die Werkstätten zu begeben, folgten ihm noch lange ihre zärtlichen Blicke.

Die Werkstätten und Hallen hatten sich noch vergrößert und waren von Sonnenlicht und frischer Luft durchflutet. Überall rieselte das klare Wasser, wusch die Zementböden rein und schwemmte allen Staub fort, so daß die Stätte der Arbeit, früher schwarz und schmutzig, nun von erfrischender Sauberkeit erglänzte. Wenn man die glasgedeckten Hallen betrat, so glaubte man in eine Stadt der Ordnung, der Freude und des Reichtums einzutreten. Die Maschinen besorgten hier bereits fast alle Verrichtungen. Wenn ihre metallenen Arme abgenützt waren, ersetzte man sie einfach durch neue. Die Maschine war endlich zur Freundin des Menschen geworden, nicht mehr die anfängliche Maschine, die Konkurrentin, die das Elend der Arbeiter vermehrte, indem sie die Löhne herabdrückte, sondern die Befreierin, die zum Universalwerkzeug geworden war und die sich für den Menschen mühte, während er sich ausruhte. Es gab neben diesen starken Arbeiterinnen nur noch Lenker und Aufseher, deren einzige Aufgabe darin bestand, die Schalthebel zu stellen und über die ordentliche Tätigkeit des Mechanismus zu wachen. Die Arbeitszeit überstieg nicht vier Stunden, und kein Arbeiter blieb länger als zwei Stunden bei derselben Verrichtung. Nach dieser Zeit wurde er abgelöst und ging zu einer anderen Tätigkeit über, sei es im Kunsthandwerk, im Bodenbau oder in einem öffentlichen Amt.

Lucas blieb, als er in die Halle der Öfen trat, einen Augenblick stehen, um einem kräftigen jungen Manne von zwanzig Jahren ein paar freundschaftliche Worte zu sagen.

»Nun, Adolphe, geht es gut, sind Sie zufrieden?«

»Gewiß, Herr Lucas. Meine zweistündige Arbeitszeit ist bald um, und die Form ist auch schon zum Herausnehmen fertig, wie ich sehe.«

Adolphe war der Sohn von Auguste Laboque und Marthe Bourron. Aber ungleich seinem Großvater mütterlicherseits, dem Strecker Bourron, der jetzt im Ruhestand lebte, mußte er nicht mehr die schreckliche Arbeit des Umrührens besorgen, bei der die Kugel des schmelzenden Metalls zwanzig Minuten lang mit Hilfe einer Eisenstange auf dem Boden des Herdes hin und her gewendet wurde. Das Umrühren geschah jetzt auf mechanischem Wege, und ebenso wurde die glühende Kugel ausgeworfen und fiel auf einen Karren, der sie dem Quetschhammer zurollte, alles, ohne daß der Arbeiter hätte selbst Hand anlegen müssen. »Wie Sie sehen werden, ist die Qualität ausgezeichnet«, fuhr Adolphe in heiterem Tone fort. »Und das alles ist so einfach, eine so angenehme Arbeit!« Er hatte einen Schalthebel gesenkt: eine Tür fiel auf und ließ die Kugel auf den Karren rollen, die gleich einem Gestirn ein blendendes Licht ausstrahlte. Der Arbeiter lächelte nur, sein Gesicht war frisch, er vergoß keinen Tropfen Schweiß, seine Glieder waren schlank und geschmeidig, von keiner schweren Fronarbeit verkrümmt. Schon hatte der Karren seine Last dem Quetschhammer neuesten Modells überantwortet, der ebenfalls die ganze Arbeit selbsttätig verrichtete. Und sein Hämmern war so leicht und hell, daß es einer Musik glich, die den Frohsinn der Arbeiter begleitete. »Ich muß mich beeilen«, sagte Adolphe noch, nachdem er sich die Hände gewaschen hatte. »Ich habe einen Tisch fertig zu machen, an dem ich sehr viel Freude habe, und ich will noch zwei Stunden in der Tischlerwerkstatt arbeiten.« Er war nämlich auch Tischler, er hatte, gleich allen jungen Leuten seines Alters zwei Handwerke erlernt, um sich nicht in den engen Grenzen einer einzigen Verrichtung abzustumpfen. Indem die Arbeit so immer abwechselte, sich immer erneuerte, war sie eine Freude, eine Erholung geworden. »Viel Vergnügen!« rief ihm Lucas zu. »Danke, Herr Lucas, danke!« Lucas wandte sich der Halle der Tiegelgußöfen zu, in der er bei jedem seiner Morgenbesuche einige angenehme Minuten verbrachte. An Stelle der schwarzen, staubigen, widerwärtig schmutzigen Halle von damals dehnte sich ein weiter, luftiger Saal, durch dessen mächtige Fensterscheiben das helle Sonnenlicht eindrang und dessen Boden mit glattem, reinlichen Zement belegt war. Symmetrisch angeordnet waren hier die Öfen versenkt, die dank der Anwendung der Elektrizität geräuschlos und ohne fühlbare Hitze ihren Dienst verrichteten. Auch hier besorgten Maschinen die ganze Arbeit, ließen die Tiegel hinab, zogen sie glühend heraus und leerten sie in die Formen, während die Arbeiter bloß den Mechanismus zu lenken und zu bewachen hatten. Auch Frauen waren hier beschäftigt, denen die Regelung der elektrischen Kraft oblag, denn man hatte gefunden, daß sie den Männern an Sorgfalt und Genauigkeit in der Handhabung feiner Apparate überlegen waren. Lucas trat auf ein großes, hübsches Mädchen von zwanzig Jahren zu, Laure Fauchard, Tochter von Louis Fauchard und Julienne Dacheux, die vor einem Apparate die Stromzufuhr zu einem der Öfen regelte, nach den Anweisungen, die ihr der den Schmelzprozeß überwachende junge Arbeiter gab. »Nun, Laure«, fragte Lucas, »sind Sie nicht müde?« »O nein, Herr Lucas, das macht mir Freude. Wie sollte ich müde werden, wenn ich nur diese leichte Steuerung hin und her zu drehen habe?« Der junge Arbeiter, Hippolyte Mitaine, dreiundzwanzig Jahre alt, hatte sich genähert. Er war der Sohn von Evariste Mitaine und Olympe Lenfant, und es hieß, er sei verlobt mit Laure Fauchard. »Herr Lucas«, sagte er, »wenn Sie den Guß mit ansehen wollen, wir sind fertig.« Er setzte die Maschine in Gang, die mit ruhiger Leichtigkeit die leuchtenden Tiegel heraushob, sie in die Formen leerte und diese dann der Reihe nach fortschaffte. In fünf Minuten war, während die Arbeiter bloß zusahen, die ganze Prozedur erledigt und der Ofen für eine neue Ladung bereit. »Schon fertig!« sagte Laure, fröhlich lachend. »Wenn ich an die schrecklichen Geschichten denke, die mein armer Großvater Fauchard mir erzählt hat, wie ich noch ein kleines Kind war! Es war bei ihm nicht mehr ganz richtig im Kopfe, und er erzählte schauderhafte Dinge von seiner Arbeit als Zieher, daß er hätte mitten in der Glut arbeiten müssen, die ihm Rumpf und Glieder verbrannte. Ja, alle die alten Arbeiter sagen, daß wir jetzt sehr zu beneiden sind.« Lucas war ernst geworden, seine Augen feuchteten sich vor innerer Bewegung. »Ja, ja, die armen Großväter haben sehr gelitten. Darum ist das Leben besser für ihre Enkel. Arbeitet, liebet euch, und das Leben wird für eure Söhne und Töchter noch besser sein!« Lucas setzte seinen Rundgang fort, und überall, wohin er gelangte, in den Hallen der großen Gußstücke, der großen Schmiedeobjekte, der kleinen und großen Drehbänke, überall fand er dieselbe gesunde Reinlichkeit, dieselbe singende Fröhlichkeit, dieselbe durch den Wechsel der Verrichtung und die machtvolle Hilfe der Maschinen leicht und anziehend gemachte Arbeit. Der Arbeiter, der nicht mehr das überbürdete, verachtete Lasttier von einst war, hatte sein Selbstbewußtsein, den Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten wiedererlangt, war ein freier und stolzer Mensch geworden. Und als Lucas zum Schluß die Halle der Walzwerke betrat, verweilte er wieder ein wenig, um einige freundschaftliche Worte an einen sechsundzwanzigjährigen jungen Mann, Alexandre Feuillat, zu richten, der eben eingetreten war. »Ich komme von Combettes, Herr Lucas, wo ich meinem Vater helfe. Wir sind mit der Aussaat beschäftigt, und ich habe dort zwei Stunden mitgeholfen. Nun will ich noch hier zwei Stunden arbeiten, denn wir haben eine dringende Schienenbestellung.« Er war der Sohn von Léon Feuillat und Eugénie Yvonnot. Und mit lebhafter Phantasie begabt, vergnügte er sich nach seinen vier Arbeitsstunden mit Ornamentzeichnen für das Atelier des Töpfers Lange. Er hatte sich bereits an die Arbeit gemacht und überwachte eine große Walzenstraße, die Schienen auswalzte. Lucas sah mit innigem Vergnügen zu. Seitdem auch hier die elektrische Kraft verwendet wurde, hatte das schreckliche Getöse der Walzwerke aufgehört, sie arbeiteten nun mit Leichtigkeit und ohne anderes Geräusch als das leichte Klingen der herausquellenden Schienen, die sich den in Abkühlung begriffenen anschlossen. Hier vollzog sich die segensreiche Produktion einer friedlichen Zeit, Schienen und wieder Schienen ohne Ende, damit alle Grenzen verschwinden und die Völker einander genähert und zu einem einzigen Volke verbunden werden. Eiserne Brücken spannten sich über die Flüsse, auf eisernen Trägern und Pfeilern erhoben sich die zahllosen Bauten, deren die Menschen für das öffentliche Leben bedurften, die Gemeindehäuser, die Bibliotheken, die Museen, die Heime für die Schwachen und die Kranken, die gewaltigen Speicher und Lager, die den vereinigten Völkern die Lebensmittel lieferten. Und endlich entstanden Maschinen ohne Zahl, die überall und für alle Verrichtungen die menschlichen Arme ersetzten, die den Boden bearbeiteten, die in den Werkstätten tausenderlei Dienste leisteten, die auf der Erde, auf dem Wasser, in der Luft Menschen und Güter mit sich trugen. Und Lucas freute sich innig des friedlich gewordenen Eisens, des erobernden Metalles, aus dem die Menschheit so lange Zeit nur Schwerter für ihre blutigen Kämpfe geschmiedet hatte, aus dem sie später Kanonen und Geschosse zu furchtbaren Gemetzeln goß, und aus dem sie den Bau der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit und des Glückes errichtete. Ehe er die Werke verließ, wollte Lucas noch einen Blick auf die Batterie elektrischer Öfen werfen, die den Hochofen Morfains abgelöst hatten. In dem weiten Schuppen, durch dessen große Glasfenster die hellen Sonnenstrahlen hereindrangen, war die Batterie eben in Tätigkeit. Alle fünf Minuten wurden die Öfen auf mechanischem Wege neu beschickt, nachdem die Rollbahn die zehn Gußmulden hinausbefördert hatte, deren glühende Ausstrahlung unter dem hellen Sonnenlicht verblaßte. Auch hier wachten zwei junge, kaum zwanzigjährige Mädchen über die elektrischen Apparate, die eine, Claudine, eine reizende Blondine, Tochter von Lucien Bonnaire und Louise Mazelle, die andere, eine üppige Brünette, Céline, Tochter von Arsène Lenfant und Eulalie Laboque. Da ihre ganze Aufmerksamkeit durch das Ein- und Ausschalten des Stromes in Anspruch genommen war, konnten sie Lucas nicht begrüßen. Dann trat aber eine Pause ein, und als sie eine Gruppe Kinder sahen, die neugierig am Eingang des Schuppens stehengeblieben waren, gingen sie zu ihnen hin. »Guten Morgen, Maurice, guten Morgen, Ludovic, guten Morgen, Aline! Die Schule ist wohl zu Ende?« Man erlaubte den Schülern, in den Erholungsstunden frei durch die Werkstätten zu streifen, damit sie sich mit der Arbeit befreundeten und sich zugleich einige Anfangsbegriffe aneigneten. Erfreut, seinen Enkel Maurice wiederzusehen, ließ Lucas die ganze kleine Schar hereinkommen. Er antwortete auf ihre vielen Fragen, erklärte ihnen den Mechanismus der Öfen, setzte sogar die Apparate in Tätigkeit, um den Kindern zu zeigen, wie es genügte, daß Claudine oder Céline einen kleinen Hebel drehte, um das Metall flüssig zu machen und es in einem blendenden Strahle herauslaufen zu lassen. »Oh, ich weiß, ich habe das schon gesehen«, sagte Maurice, mit der Wichtigkeit eines großen Jungen von neun Jahren, der schon viel versteht. »Großvater Morfain hat mir einmal alles gezeigt. Aber sage mir, Großvater Froment, ist es wahr, daß es früher Öfen gegeben hat so hoch wie ein Berg, und daß man sich hat Tag und Nacht das Gesicht verbrennen lassen müssen, um sie zu bedienen?« Alle lachten, und Claudine antwortete: »Freilich, Maurice! Großvater Bonnaire hat mir oft davon erzählt, und du solltest die Geschichte am besten kennen, denn dein Urgroßvater, der große Morfain, wie man ihn noch heute nennt, war der letzte, der das Feuer als Held mit der Kraft seiner Arme bekämpft hat. Er lebte da oben auf dem Berge in einer Höhle, kam niemals zur Stadt herunter und wachte jahraus jahrein über seinen riesigen Ofen, das Ungetüm, dessen Ruinen noch oben auf der Berglehne wie die eines verfallenen alten Schloßturms liegen.« Maurice hörte mit weitgeöffneten Augen und mit dem leidenschaftlichen Interesse eines Kindes zu, dem man ein Zaubermärchen erzählt. »Freilich, Großvater Morfain hat mir schon von seinem Vater und von dem ungeheuer hohen Ofen erzählt. Aber ich glaubte immer, er habe das nur erfunden, wie viele andere Geschichten, die er uns erzählt hat, um uns zu unterhalten. Es ist also wahr?« »Gewiß ist es wahr!« sagte Claudine. »Hoch oben waren Arbeiter, die Wagen mit Koks und mit Erz in den Ofen hineinschütteten, und unten waren andere Arbeiter, die unaufhörlich mit großer Sorgfalt über das Ungeheuer wachten, damit nicht eine Verdauungsstörung eintrete, die sehr böse Folgen für die Arbeit hätte haben können.« »Und das dauerte so an die sieben oder acht Jahre«, sagte Celine, »sieben oder acht Jahre lang brannte das Ungetüm fort, ununterbrochen flammend wie ein Vulkan, ohne daß man es hätte auch nur ein wenig auskühlen lassen dürfen, denn wenn es sich auskühlte, so war das ein großer Verlust, man mußte ihm den Leib öffnen, ihn reinigen und fast das Ganze wieder neu aufbauen.« »Du kannst dir also vorstellen, Maurice«, sagte wieder Claudine, »daß der große Morfain, dein Urgroßvater, ein hartes Leben führte, wenn er sieben oder acht Jahre lang ununterbrochen das Feuer bewachen mußte, abgesehen davon, daß man alle fünf Stunden mit einem Feuerspieß ein Loch bohren mußte, um das geschmolzene Metall auslaufen zu lassen, das dann herausschoß wie ein Feuerstrom und einem die Haut briet wie einer Ente am Spieß.« Die Kinder, die bis jetzt mit offenem Munde zugehört hatten, brachen in helles Lachen aus. Oh, eine Ente am Spieß, der große Morfain, der gebraten wurde wie eine Ente, das war lustig! »Na«, sagte Ludovic Boisgelin, »damals muß das Arbeiten kein Vergnügen gewesen sein. Die Menschen müssen sich da ja schrecklich geplagt haben!« »Freilich«, sagte seine Schwester Aline. »Ich bin froh, daß ich erst jetzt zur Welt gekommen bin, denn jetzt ist die Arbeit ein Vergnügen.« Maurice schwieg nachdenklich. Endlich sagte er: »Er muß ungeheuer stark gewesen sein, der Vater vom Großvater, und wenn es uns heute besser geht, liegt es vielleicht daran, daß er sich einmal so geplagt hat.« Lucas, der bisher bloß lächelnd zugehört hatte, war von diesem klugen Ausspruch entzückt. Er hob den Knaben hoch und küßte ihn auf beide Wangen. »Du hast recht, mein Junge. Ebenso werden, wenn du dein Leben lang ordentlich arbeitest, deine Urenkel noch glücklicher sein. Du siehst, man wird schon heute nicht mehr gebraten wie eine Ente.« Auf seine Anordnung wurde die Batterie der elektrischen Öfen wieder in Tätigkeit gesetzt. Mit einer kleinen Handbewegung schlossen oder unterbrachen Claudine und Céline den Strom. Die Öfen wurden gefüllt, der Schmelzprozeß vollzog sich, und alle fünf Minuten entführte die kleine Rollbahn zehn mit glühend-flüssigem Inhalt gefüllte Gußmulden. Die Kinder wollten selbst den Mechanismus in Tätigkeit setzen, und man erlaubte es ihnen. Plötzlich tauchte eine Erscheinung auf, vor der die umherstreifenden Kinder davonstoben wie vor einem Gespenst. Lucas sah Boisgelin am Eingang der Werkstatt stehen, vorsichtig hineinspähen, die Arbeit mit dem mißtrauischen, strengen Blick eines Herrn überwachen, der immerfort fürchtet, von seinen Leuten betrogen zu werden. Man begegnete ihm oft an den verschiedensten Punkten der Werke, verzweifelt, daß er ihren gewaltigen Bezirk nicht gleichzeitig überschauen konnte, rastlos umhergetrieben von dem Gedanken an die Millionen, die er täglich verlor, weil er nicht imstande war, die Tätigkeit aller dieser Leute zu überwachen. Es waren zu viele, er konnte sie nicht alle übersehen, er erlag der übermenschlichen Aufgabe, ein unermeßliches Vermögen richtig zu verwalten, dessen Last ihn erdrückte, als ob der Himmel auf seinem Kopfe läge. Er war so abgehärmt, so erschöpft von dem unaufhörlichen, ziellosen Umherschweifen, daß Lucas, von tiefem Mitleid bewegt, auf ihn zuging, um ihn zu beruhigen und zum Nachhausegehen zu bewegen. Aber Boisgelin war auf seiner Hut, er sprang zurück, sobald er Lucas erblickte, und eilte davon. Der Morgenrundgang war beendet, und Lucas wandte sich seinem Hause zu. Seitdem seine Arbeitsstadt so groß geworden war, konnte er nicht mehr alles sehen, er wanderte nur gemächlich durch diesen oder jenen Teil ihres weiten Bezirkes, ein Schöpfer, der beglückt sieht, daß seine Schöpfung sich von selbst vermehrt und immer weiter ausbreitet. An diesem Nachmittag hielt er sich noch eine kurze Weile in den Zentrallagern auf und ging dann gegen Abend zu Jordans, um dort eine Stunde zu verbringen. In dem kleinen Salon, dessen Fenster auf den Park sahen, fand er Soeurette im Gespräch mit dem Lehrer Hermeline und dem Abbé Marie, während Jordan, in eine Decke gehüllt, auf einem Sofa lag und nach seiner Gewohnheit schweigend und gedankenvoll in die untergehende Sonne blickte. Der liebenswürdige Doktor Novarre war nach einer Krankheit von nur wenigen Stunden inmitten der Rosen seines Gartens gestorben, mit dem einzigen Bedauern, daß er nicht die volle Verwirklichung all der schönen Dinge miterleben konnte, an die er anfangs nicht hatte glauben wollen. Soeurette sah daher nur noch den Lehrer und den Pfarrer bei sich, wenn diese nach einem mehr oder minder langen Zwischenraum wieder einmal aus alter Gewohnheit bei ihr zusammentrafen. Hermeline, nun siebzig Jahre alt und pensioniert, verlebte den Abend seines Daseins voll Bitterkeit und Zorn gegen alles, was um ihn her vorging. Und er warf dem um fünf Jahre älteren Abbé Marle Lauheit vor, der sich in leidende Würde, in immer stolzeres Schweigen hüllte, je mehr er seine Kirche sich leeren und seinen Gott sterben sah. Eben als Lucas neben Soeurette Platz nahm, die still, sanft und geduldig wie immer zuhörte, begann der Lehrer, der immer noch derselbe fanatische, beschränkte Republikaner war, dem Priester Vorwürfe zu machen und ihn ungestüm vorwärtszudrängen. »So helfen Sie mir doch, helfen Sie mir doch, Abbé, da ich dasselbe sage wie Sie! Die Welt muß zugrunde gehen, wenn man bei den Kindern die Leidenschaften züchtet, die schädlichen Pflanzen, die wir, die Erzieher, einst auszurotten bestrebt waren. Wo soll der Staat gehorsame, zu seinem Dienst geeignete Bürger hernehmen, wenn man den übertriebenen Kult der Persönlichkeit zügellos walten läßt? Wenn wir, die Männer der Vernunft und der Methode, nicht die Republik retten, ist sie verloren.« Seitdem er sich einbildete, die Republik gegen die verteidigen zu müssen, die er Sozialisten und Anarchisten nannte, war er zum Rückschritt übergegangen und hatte sich mit dem Priester in dem Hasse gegen alles vereinigt, was sich ohne ihn, außerhalb seiner beschränkten Formel, befreite. Mit steigender Heftigkeit fuhr er fort: »Ich sage Ihnen, Abbé, Ihre Kirche wird zerstört werden, wenn Sie sich nicht verteidigen. Ihre Religion war allerdings nie die meinige. Aber ich habe immer die Notwendigkeit einer Religion für das Volk anerkannt, und der Katholizismus war unleugbar eine ausgezeichnete Regierungsmaschine. Rühren Sie sich doch! Wir sind jetzt mit Ihnen, es wird noch immer Zeit sein, uns auseinanderzusetzen, wenn wir erst gemeinsam die Seelen und die Körper wiedererobert haben.«

Der Abbé Marle schüttelte lange schweigend den Kopf. Er diskutierte nicht mehr, ereiferte sich nicht mehr. Endlich sagte er langsam:

»Ich tue meine volle Pflicht, ich bin jeden Morgen am Altar, auch wenn meine Kirche leer ist, und bete zu Gott, daß er ein Wunder tue. Er wird mein Gebet erhören, wenn er es für gut findet.«

Das brachte den Lehrer außer sich.

»Sie müssen ihm helfen, Sie müssen ihm helfen, Ihrem Gott! Es ist Feigheit, tatlos alles über sich ergehen zulassen!«

Soeurette glaubte jetzt eingreifen zu müssen. Lächelnd, voll Nachsicht für diese Besiegten, sagte sie:

»Wenn der gute Doktor noch da wäre, würde er Sie bitten, nicht so eines Sinnes zu sein, da Ihre Einmütigkeit Ihren Streit verschärft. Sie betrüben mich sehr, liebe Freunde, ich hätte so sehr gewünscht, daß Sie doch wenigstens die Tatsachen anerkennen, doch wenigstens etwas von dem vielen Guten zugeben, das hier geschaffen worden ist.«

Die beiden hatten für sie große Verehrung bewahrt, und ihre Anwesenheit in diesem kleinen Salon, im Herzen der neuen Stadt, bewies, welche Anziehung sie noch immer auf sie ausübte. Sie gingen sogar so weit, die Nähe Lucas' zu ertragen, des siegreichen Widersachers, der es übrigens zartfühlend vermied, sich angesichts des schmerzlichen und heftigen Todeskampfes der alten Welt irgendein Gefühl des Triumphes anmerken zu lassen. Auch heute hörte er ohne Einwendung zu, wie Hermeline alles, was er geschaffen hatte, wütend wegleugnete, weil es Erfolg gehabt hatte.

»Oh, wenn Sie sich besiegt geben, Abbé«, rief Hermeline noch aus, »dann ist wohl alles aus, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu schweigen, gleich Ihnen, und in meinem Winkel zu sterben!«

Wieder schüttelte der Priester den Kopf in traurigem Schweigen. Dann aber sagte er noch einmal:

»Gott kann nicht besiegt werden, und unsere Sache liegt bei Gott.«

Langsam senkte sich die Nacht auf den Park herab, der kleine Salon füllte sich mit Dunkelheit, und alle schwiegen eine lange Weile. Ein Hauch von Schwermut wehte durch das Gemach, die Schwermut der versinkenden Vergangenheit. Der Lehrer erhob sich und nahm Abschied. Als dann auch der Abbé sich zum Gehen anschickte, wollte ihm Soeurette unauffällig den Geldbetrag in die Hand drücken, den sie ihm bei jedem seiner Besuche für seine Armen gab. Aber der Priester wies dieses Almosen, das er seit vierzig Jahren regelmäßig in Empfang genommen hatte, zurück, indem er in seiner leisen, langsamen Weise sagte:

»Nein, danke, behalten Sie das Geld, ich wüßte nicht, was ich damit machen sollte. Es gibt keine Armen mehr.«

Welch ein Wort für Lucas: es gibt keine Armen mehr! Keine Armen, keine Hungernden mehr in Beauclair, in dessen unglücklicher Arbeiterbevölkerung einst so entsetzliches Elend geherrscht hatte! So schlossen sich denn alle schrecklichen Wunden des Lohnsklaventums, so sollte denn die Armut und mit ihr die Schande und das Verbrechen verschwinden! Daß die Arbeit in gerechter Weise eingerichtet wurde, hatte schon genügt, um eine bessere Verteilung des Reichtums herbeizuführen. Und wenn erst die Arbeit der Ehrenschmuck, die Gesundheit, die Freude der Menschen geworden sein wird, dann wird ein einziges brüderliches, friedliches Volk das Reich des Glücks bewohnen.

Jordan lag in seine Decke gehüllt unbeweglich da, offenbar mit seinen Gedanken durch die unendlichen Fernen schweifend, in die sich sein Blick verlor. Als der Abbé Marie und Hermeline fortgegangen waren, rührte er sich ein wenig. Und ohne die Augen von dem Untergang der Sonne zu wenden, deren langsames Verschwinden er mit leidenschaftlichem Interesse zu beobachten schien, sagte er, halb im Traume:

»Jedesmal, wenn ich die Sonne untergehen sehe, faßt mich tiefe Traurigkeit und quälende Unruhe. Wenn sie nicht wiederkäme, wenn sie sich nicht wieder über der finsteren, eisigen Erde erhöbe, welch entsetzlicher Tod für alles Leben! Sie ist die Allmutter, die Befruchterin, die Zeugerin, ohne die die Keime verdorren oder verfaulen würden. Und in sie müssen wir unsere Hoffnung auf Erleichterung des Daseins und künftiges Glück setzen, denn wenn sie uns nicht hilft, müßte das Leben eines Tages versiegen.«

Lucas lächelte. Er wußte, daß Jordan, trotz seines hohen Alters von bald fünfundsiebzig Jahren, seit einiger Zeit an dem gewaltigen Problem arbeitete, die Sonnenwärme einzufangen und in großen Behältern aufzuspeichern, aus denen er sie dann als die einzige, die große und ewige Lebenskraft verteilen könnte. Die Zeit mußte kommen, da alle Kohle, die sich noch im Schoße der Erde barg, verbraucht war, und woher sollte man dann die Kraft nehmen, den mächtigen elektrischen Strom, der zum Leben unentbehrlich geworden war? Dank seinen früheren Entdeckungen hatte er es erreicht, die Elektrizität fast umsonst herzustellen. Aber welch ein ungeheurer, überwältigender Erfolg, wenn es ihm gelang, die Sonne zum Weltmotor zu machen, wenn er unmittelbar aus ihr die Wärmeenergie schöpfte, die in der Kohle aufgespeichert liegt, wenn er sie als die einzige allgemeine Befruchterin, als Mutter des Lebens dem Menschen dienstbar machte! Hatte er dieses letzte, größte Problem lösen können, dann war sein Werk vollbracht, dann konnte er sterben.

»Seien Sie ruhig«, sagte Lucas heiter. »Die Sonne wird morgen wieder aufgehen, und es wird Ihnen gelingen, ihr das heilige Feuer zu rauben, die göttliche Flamme, die ewige Arbeits- und Schöpfungskraft.«

Soeurette, die fürchtete, daß die durch das Fenster eindringende Abendluft zu kühl sein könnte, fragte:

»Ist dir nicht kalt, soll ich schließen?«

Er machte eine verneinende Gebärde, ließ es aber geschehen, daß sie ihm die Decke bis zum Kinn hinaufzog. Er schien nur noch durch ein Wunder zu leben, bloß weil er noch leben wollte, weil er den Tod bis zu dem Abend seines letzten Arbeitstages verschoben hatte, bis zu dem Abend des Triumphes, da er nach vollendeter Aufgabe, nach einem letzten Blicke auf sein fertiges Werk sich zur Ruhe legen würde, um für immer den sanften Schlaf des ehrlichen und befriedigten Arbeiters zu schlafen. Seine Schwester hatte ihre Sorgfalt für ihn verdoppelt, eine außerordentliche, liebevolle Pflege sparte so kunstvoll mit dem Öl seines Lebens, daß er immer noch täglich die zwei Stunden geistiger und körperlicher Kraft fand, deren er für seine Arbeiten bedurfte und von denen er jede Minute mit wunderbarer Methode ausnützte. Und dieser kränkliche, schwächliche, sehr alte Mann, der kaum noch atmete, dessen Lebenslicht jeder Luftzug zu verlöschen drohte, eroberte und regierte eine Welt lediglich dadurch, daß er ein zäher Arbeiter war, der unter keinen Umständen von seiner Aufgabe abließ.

»Sie werden hundert Jahre alt werden«, sagte Lucas mit liebevollem Lächeln.

»Gewiß«, erwiderte Jordan, ebenfalls lächelnd, »wenn mir hundert Jahre für meinen Zweck nötig sind.«

Wieder trat Schweigen ein in dem behaglichen kleinen Salon, während der köstliche Abend immer tiefer über den Park herabsank und seine Alleen allmählich in Dunkelheit hüllte. Noch lag ein schwaches Dämmerlicht über den großen Rasenplätzen, und die Wipfel der Bäume hoben sich in verschwommenen Umrissen von dem Hintergrunde der blauen Ferne. Das war die Stunde der Liebenden, der Park der Crêcherie war ihnen freigegeben, und sie kamen nach der Arbeit und den Beschäftigungen des Tages hierher, um sich unter seinen Bäumen zu ergehen. Niemand sah scheelen oder mißbilligenden Blickes auf die Paare, deren schattenhafte Gestalten, fast miteinander verschmolzen, durch das Dunkel der Alleen wandelten. Man vertraute sie der Hut der alten, wohlwollenden Eichen an, man zählte darauf, daß die freie Liebe sie keusch und unbegehrlich machte, da sie gewiß waren, einander als Gatten angehören zu können, da sie wußten, daß die von beiden gewollte Umarmung sie unlöslich verband. Nur dann liebt man für immer, wenn man weiß, warum und wen man liebt. Was aus freier Wahl und in vollkommener gegenseitiger Erkenntnis sich miteinander vereinigt hat, das trennt sich nicht mehr. Und schon tauchten einzelne Paare auf den Rasenplätzen, zwischen den Bäumen auf und bevölkerten mit langsam dahinwandelnden Gestalten das geheimnisvolle Dunkel des Parkes, während die Erde, von wonnigen Frühlingsschauern durchbebt, ihre frischen Düfte in die Abendluft emporhauchte.

Immer mehr Paare wurden sichtbar, und Lucas erkannte manche davon, junge Männer und Mädchen, die er am Vormittag in den Werkstätten gesehen hatte. Waren das nicht Adolphe Laboque und Germaine Yvonnot, die in enger Umschlingung, wie vom selben Lufthauch hingetragen, über die Spitzen der Gräser zu schweben schienen? Diese anderen zwei, waren das nicht Hippolyte Mitaine und Laure Fauchard? Und immer neue Paare tauchten auf, der Park bevölkerte sich mit allen Liebenden der glücklichen Stadt, die sich nach der Arbeit des Tages in der köstlichen Milde des Abends ergingen und durch die Bäume und Gebüsche des Parkes streiften, aus dessen geheimnisvoll dunklen, kräftig duftenden Gründen leises Lachen und das leichte Geräusch von Küssen erscholl.

Da blieb eine Gestalt am Fenster stehen. Es war Suzanne, die Lucas suchte, um ihm zu sagen, daß sie sehr in Angst sei, da Boisgelin noch immer nicht heimgekehrt war. Noch nie war er bis in die sinkende Nacht hinein ausgeblieben.

»Sie hatten recht«, sagte sie. »Ich hätte ihn nicht allein seinem Wahnsinn überlassen sollen. Ach, der Unglückliche, das arme Kind!«

Lucas, dem sich ihre Angst mitteilte, riet ihr, nach Hause zu gehen.

»Er kann jede Minute zurückkommen, und da ist es am besten, wenn Sie da sind. Ich werde die Umgebung absuchen lassen und Ihnen Nachricht senden.«

Von zwei Männern begleitet, wandte er sich durch den Park den Werkstätten zu, in der Absicht, dort die Suche zu beginnen. Aber er hatte kaum dreihundert Schritte gemacht und befand sich eben bei den Weidenbäumen nahe dem kleinen See, als ein schwacher Schreckensschrei, der aus einem nahen Gehölz herausdrang, ihn zum Stehen brachte. Und er sah ein erschrecktes Paar herauseilen, in dem er seinen Sohn Jules und die blonde Claudine Bonnaire zu erkennen glaubte.

»Was ist? Was habt ihr?« rief er.

Sie antworteten nicht, ihre Zärtlichkeit mußte durch irgend etwas Schreckliches gestört worden sein. Rasch entschlossen drang er nun auf dem schmalen Wege in das Gehölz ein und stieß ebenfalls einen Schreckensschrei aus. Er war beinahe gegen einen Körper gerannt, der von einem Aste herabhing und den schmalen Pfad mit seiner dunklen Masse versperrte. In dem schwachen Dämmerschein, der noch herrschte, hatte er Boisgelin erkannt.

»Ach, der Unglückliche, das arme Kind!« rief er gleich Suzanne, tief erschüttert von diesem Drama, das ihr wieder so schweren Kummer brachte.

Mit Hilfe der beiden Männer schnitt er rasch den Erhängten ab und legte ihn auf die Erde. Aber der Körper war schon kalt, der Unglückliche mußte sich in den ersten Nachmittagsstunden erhängt haben, unmittelbar nachdem er vor ihm davongelaufen war. Und Lucas glaubte alles zu verstehen, als er am Fuße des Baumes ein großes Loch entdeckte, das Boisgelin offenbar mit seinen Fingernägeln gegraben hatte, um darin das ungeheure Vermögen zu verstecken, zu vergraben, das ihm sein Volk von Arbeitern erwarb, und das er nicht mehr verwalten, noch selbst irgendwo aufbewahren konnte. Und dann hatte er sich selbst den Tod gegeben, um der schrecklichen Sorge zu entfliehen, was er mit seinem ins unermeßliche wachsenden Reichtum anfangen solle. Sein rastloses Umherstreifen während des ganzen Tages, der Wahnsinn des Untätigen, der in der neuen Stadt der gerechten Arbeit nicht bestehen konnte, endete in diesem tragischen Tode. Und in der warmen, liebeerfüllten Nacht rauschte es überall durch den Park von Küssen und zärtlichem Geflüster.

Um die Paare nicht zu erschrecken, deren Gestalten da und dort durch die Bäume glitten, sandte Lucas die beiden Männer nach der Crêcherie, um eine Tragbahre zu holen, und er bat sie, niemand etwas von dem traurigen Fund zu sagen. Als sie dann zurückgekehrt waren und den Körper auf die mit grauer Leinwand bedeckte Bahre gebettet hatten, setzte sich der Zug in Bewegung und wählte die abgelegensten und finstersten Pfade, um nicht gesehen zu werden. So zog der schreckliche Tod lautlos, von Finsternis umhüllt, an dem köstlichen, lebenspendenden jungen Frühling vorbei. Überall schienen Liebende aus dem Boden zu wachsen, an jeder Wegkreuzung, bei jeder Biegung tauchten neue Paare auf. Die Erde erbebte unter der Regung der zahllosen Keime in ihrem Schoße, Blumenduft erfüllte die Luft, die Hände suchten sich, die Lippen vereinigten sich mit dem leisen Geräusch springender Knospen. Ein neuer Fluß ergoß sich in den mächtigen Strom der Lebewesen, unaufhörlich wurde der Tod besiegt, die Zukunft blühte unaufhaltsam, immer vollkommenerer Wahrheit und Gerechtigkeit, immer größerem Glücke entgegen.

Vor der Tür ihres Hauses stand Suzanne und sah angstvoll in die Nacht hinaus. Als sie die Tragbahre erblickte, wußte sie alles, und sie stöhnte schmerzlich auf.

Noch manche andere Katastrophe begleitete den unaufhaltsamen Zerfall der alten, zum Verschwinden verurteilten Gesellschaft. Aber das erschütterndste Unglück ereignete sich im nächsten Monat: das Dach der alten Kirche Saint-Vincent stürzte eines Morgens ein, als der Abbé Marle eben am Altar stand und die Messe las, ohne andere Zuhörer als die Sperlinge, die durch das leere Schiff der Kirche flatterten.

Seit langer Zeit wußte der Pfarrer, daß seine Kirche eines Tages über ihm zusammenstürzen würde. Sie stammte noch aus dem sechzehnten Jahrhundert und war schon sehr schadhaft und rissig. Vor vierzig Jahren war der Turm repariert worden, aber aus Mangel an Geld hatte die Erneuerung des alten Kirchendaches, dessen morsche Balken sich schon bogen, verschoben werden müssen, und seit der Zeit waren alle Versuche, die nötigen Mittel zu erlangen, vergeblich gewesen. Der Staat, von seiner Schuldenlast erdrückt, überließ diese in einem entfernten Winkel des Reiches liegende Kirche ihrem Schicksale. Die Stadt verweigerte jeden Beitrag, denn der Bürgermeister Gourier war nie ein Freund des Pfaffen gewesen, so daß der Pfarrer, auf sich selbst angewiesen, gezwungen gewesen war, sich persönlich aufzumachen, um die nötige große Summe herbeizuschaffen, wenn er nicht wollte, daß ihm das Gotteshaus überm Kopfe zusammenstürzen sollte. Aber vergeblich klopfte er an die Türen seiner reichen Pfarrkinder, die Gläubigen wurden immer seltener, ihr Eifer erkaltete. Solange die Frau des Bürgermeisters, die schöne Léonore, noch lebte, deren große Frömmigkeit die Gottlosigkeit ihres Mannes ausglich, hatte er in ihr eine wertvolle Unterstützung gefunden. Dann war ihm nur noch Frau Mazelle geblieben, die aber von Natur nicht sehr freigebig war und deren Religiosität merklich nachließ. Als dann die Verminderung ihrer Renten sie vollends aus dem Gleichgewicht brachte, kam sie immer seltener zur Kirche, und der Pfarrer verlor in ihr sein letztes Beichtkind von Stand. Nur noch einige arme Weiber waren dem Glauben treu geblieben, die sich infolge ihres Elends an die Hoffnung auf ein besseres Jenseits klammerten. Und seitdem es endlich keine Armen mehr gab, blieb seine Kirche vollkommen leer, er war allein, die Menschen hatten endgültig seinen Gott des Irrtums und des Elends verlassen.

Da sah der Abbé Marle, daß eine Welt um ihn zu Ende ging und rettungslos dem Untergang anheimfiel. Alle seine nachsichtige Duldung hatte die lügnerische Bürgerklasse, die vom Übel der Ungerechtigkeit verzehrt wurde, nicht retten können. Vergeblich hatte er ihren Todeskampf mit dem Mantel der Religion bedeckt, sie war gestorben. Und ebenso vergeblich hatte er sich immer enger, immer ausschließlicher auf den Buchstaben des Dogmas zurückgezogen, um sich den Wahrheiten der Wissenschaft zu verschließen, die sich zum letzten, entscheidenden Sturm bereitete, der den jahrhundertealten Bau des Katholizismus in Trümmer legen mußte. Die Wissenschaft drang unwiderstehlich vor, das Dogma war endgültig besiegt, das Reich Gottes wurde auf Erden errichtet. Nach den Tempeln der alten Götterreligionen verschwand nun auch die katholische Kirche von der Erde, da ein brüderliches Volk sein festbegründetes Glück nur in der lebendigen Kraft seiner Gemeinsamkeit suchte und fand, ohne eines ganzen Systems von Strafen und Belohnungen zu bedürfen. Und seitdem der Beichtstuhl und der Tisch des Herrn verlassen, das Schiff der Kirche menschenleer geworden war, sah der Priester bei jeder Morgenmesse die Risse in den Mauern sich erweitern, hörte er jeden Tag das Dachgebälke stärker krachen und knistern. Es war ein langsames Abbröckeln, eine allmähliche, unablässige Zerstörungsarbeit, deren leiseste Anzeichen er bemerkte und beobachtete. Da es ihm nicht möglich gewesen war, die Mittel auch nur für die notwendigsten Ausbesserungen aufzutreiben, so blieb ihm nichts anderes übrig, als ergeben die Zerstörung ihren Weg zum unvermeidlichen Ende aller Dinge nehmen zu lassen. Allein bei seinem verlassenen Gotte ausharrend, ein Held des Glaubens, fuhr er fort, täglich die Messe zu lesen, während die Decke über dem Altar auseinanderklaffte.

Eines Morgens bemerkte der Abbé, daß während der Nacht ein neuer gewaltiger Riß im Gewölbe des Kirchenschiffes entstanden war. Er sah, daß der seit Monaten erwartete Einsturz nun erfolgen werde, und in seine reichsten Priestergewänder gekleidet, trat er vor den Altar, um seine letzte Messe zu lesen. Seine kräftige, hohe Gestalt war noch gerade und aufrecht, trotz seines großen Alters. Er verrichtete selbst alle Dienste der heiligen Handlung, sprach die Worte, machte die Gebärden, als ob eine große Menge sich hinter ihm drängte und sich mit ihm im Gebete vereinigte. In der verödeten Kirche lagen zerbrochene Stühle auf den Fliesen, traurig anzusehen, gleich Gartensesseln, die über Winter draußen vergessen wurden, Gras wuchs am Fuße der Säulen, die mit Moos überzogen waren. Alle Winde bliesen frei durch die zerbrochenen Fenster, und die halb aus den Angeln hängende Tür wehrte den Tieren der Nachbarschaft den Eintritt nicht. Aber an diesem schönen, klaren Tage drang die Sonne siegreich herein. Es war, als ob das Leben triumphierend Besitz ergriffe von dieser tragischen Ruine, durch die die Vögel flatterten und wilder Hafer bis an die steinernen Mäntel der alten Heiligen wuchs. Oberhalb des Altars hing noch ein bemaltes, aus Holz geschnitztes großes Christusbild. Der Gekreuzigte neigte mit schmerzlichem Ausdrucke sein Dulderhaupt, und aus den Wunden seines bleichen Leibes rieselte das Blut gleich schwarzen Tränen.

Während des Evangeliums hörte der Abbé Marle ein stärkeres Krachen. Staub und Mörtel fielen auf den Altar herab. Beim Offertorium wiederholte sich das Geräusch, durchdringend, unheilverkündend, und ein Beben wurde fühlbar, als ob das Gebäude erzitterte, ehe es einstürzte.

Da nahm der Priester in der Wandlung alle Kraft seines Glaubens zusammen und flehte mit inbrünstiger Seele zu Gott, daß er das Wunder wirke, dessen rettende, glorreiche Erscheinung er seit so langer Zeit erwartete. Wenn Gott es wollte, dann erhielt die Kirche ihre kraftvolle Jugend wieder, und unerschütterliche Säulen stützten ihre mächtigen steinernen Wölbungen. Es bedurfte keiner Handwerker, der Wille der göttlichen Allmacht genügte, und ein herrliches Heiligtum entstand mit goldenen Kapellen, mit leuchtenden Fenstern, reichen Schnitzereien und kunstvollen Marmorgebilden, während ein Volk von Gläubigen auf den Fliesen kniend Psalmen der Auferstehung sang, unter den Flammen Tausender von Wachskerzen und dem weithin tönenden Geläute aller Glocken. O du erhabener, ewiger Gott, richte mit einem Winke dein heiliges Haus wieder auf! Du allein kannst es wieder erbauen, es mit deinen wiedergewonnenen Gläubigen erfüllen, wenn du nicht willst, daß du selbst unter seinen Trümmern vernichtet werdest! Und im Augenblicke, da der Priester den Kelch erhob, geschah nicht das erflehte Wunder, sondern die Vernichtung. Er stand aufrecht, die Arme emporgestreckt, in der erhabenen Haltung heldenhaften Glaubens, und forderte seinen höchsten Herrn auf, mit ihm zu sterben, wenn das Ende der Religion gekommen war. Die Wölbung barst auseinander wie unter einem Blitzstrahl und stürzte mit furchtbarem Donnerkrachen in tausend Trümmern zusammen. Der Kirchturm wankte und stürzte nach, schlug das Dach ein und riß die noch stehenden Mauern nieder. Und nichts blieb unter dem sonnigen Himmel als ein riesiger Schutthaufen, in dem man nicht einmal den Körper des Abbés Marle fand, dessen Reste von den Trümmern des Altars verschlungen worden zu sein schienen. Ebensowenig fand man eine Spur von dem geschnitzten hölzernen Christusbilde, das ebenfalls zu Staub zermalmt worden war. Abermals war eine Religion gestorben, der letzte Priester hatte in der letzten Kirche seine letzte Messe gelesen.

Einige Tage lang irrte der alte Hermeline, der ehemalige Lehrer, um den Trümmerhaufen und sprach laut mit sich selbst, wie sehr alte Leute tun, wenn ein Gedanke sie stark beschäftigt. Man konnte nicht genau hören, was er sagte, aber er schien zu streiten, schien dem Abbé vorzuwerfen, daß er von seinem Gotte das erforderliche Wunder nicht hatte erwirken können. Eines Morgens fand man ihn tot in seinem Bett. Und als die Trümmer der Kirche weggeräumt worden waren, wurde hier ein Garten angelegt, mit schönen Bäumen, schattigen Alleen und duftenden Rasenplätzen. Liebende kamen hierher, wie sie an schönen Abenden in den Park der Crêcherie kamen. Die glückliche Stadt erweiterte sich immer mehr, die Kinder wurden groß und bildeten neue Liebespaare. Nach der frohen Arbeit des Tages dufteten die Rosen köstlich auf allen Zweigen. In diesem herrlichen Garten, dessen Boden der Staub einer düsteren und lebensfeindlichen Religion bildete, blühte jetzt die menschliche Fröhlichkeit, entfaltete sich das üppige Wachstum des Lebens.


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