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In den vier Jahren, die seit der Gründung der Crêcherie verstrichen waren, hatte sich in Beauclair ein immer mehr anschwellender Haß gegen Lucas entwickelt. Zuerst hatten die Leute nur ein feindliches Staunen bekundet, das sich in boshaften Spöttereien Luft machte. Aber von dem Augenblick an, da praktische Interessen gefährdet waren, war die Wut entstanden, hatte sich der Instinkt der Selbstverteidigung geltend gemacht, der sich mit allen Kräften und allen Mitteln gegen den gemeinsamen Feind wehrte.
Die kleinen Kaufleute und Krämer waren die ersten, die sich beunruhigt fühlten. Die genossenschaftlichen Geschäfte der Crêcherie, über die man bei ihrer Eröffnung gespottet hatte, gediehen und zählten zu ihren Kunden bald nicht nur die Arbeiter der Werke, sondern auch zahlreiche Einwohner der Stadt. Und man kann sich vorstellen, wie die Kaufleute über diese schreckliche Konkurrenz in Aufregung gerieten, die die Preise der verschiedenen Artikel gleich um ein volles Drittel herabdrückte. Es war ein aussichtsloser Kampf, der baldige Ruin war sicher, wenn dieser unglückselige Lucas mit seinen verrückten Plänen durchdrang, daß der Reichtum gerechter verteilt werden und daß man vor allem einmal den Kleinen dieser Welt ermöglichen sollte, besser und billiger zu leben. Die Fleischer, die Kolonialwarenhändler, die Bäcker, die Weinhändler würden also gezwungen sein, ihre Läden zu schließen, sobald man ihre Vermittlung entbehren konnte und nicht mehr genötigt war, ihnen zwecklose Zwischengewinne zu schenken. Und sie schrien Zeter und Mordio, die ganze menschliche Gesellschaft war in Gefahr und stürzte zusammen, wenn sie nicht mehr durch ihren Schmarotzerverdienst das Elend der Armen vermehren konnten.
Aber am stärksten betroffen war Laboque, der Eisenwarenhändler und ehemalige Jahrmarktshausierer, der nun eine Art großen Basars an der Ecke der Rue-de-Brias und des Rathausplatzes hielt. Die Preise der Eisenwaren waren in der Gegend bedeutend gesunken, seitdem die Crêcherie sie in großen Mengen herstellte. Und das schlimmste war, daß es den Anschein hatte, als sollte die Genossenschaftsbewegung auch die umliegenden kleinen Fabriken ergreifen und als wäre der Augenblick nicht mehr fern, da der Konsument, anstatt sich an Laboque zu wenden, sich direkt in den genossenschaftlichen Lagern mit den Nägeln von Chodorge, den Sensen und Sicheln von Hausser, den landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten von Mirande versorgen würde. Schon heute lieferten die Magazine der Crêcherie, von den Eisen abgesehen, viele dieser Artikel, und die Geschäfte des Basars gingen von Tag zu Tag zurück. Daher kamen die Eheleute Laboque nicht aus dem Zorn heraus, ergingen sich in heftigen Klagen über das, was sie eine Entwertung der Waren nannten, hielten sich für beraubt, da man das unnütze Rad, das sie in der gesellschaftlichen Maschinerie darstellten, verhindern wollte, Kraft und Reichtum zu verzehren, ohne anderen Nutzen als für sie selbst. So waren sie von selbst der Mittelpunkt der Feindseligkeit und der Gegnerschaft gegen das neue Unternehmen geworden, der Herd für alle die Flammen des Hasses, die durch die Reformen Lucas' entzündet worden waren, die Wortführer bei den Schmähungen und Verwünschungen, mit denen der freche Neuerer überhäuft wurde. In ihrem Laden trafen sich der Fleischer Dacheux, der vor Wut beinahe erstickte, und der Gewürzkrämer und Weinhändler Caffiaux, der ebenfalls von giftigem Groll erfüllt war, aber, kühleren Verstandes, sorgfältig sein Interesse abwog. Selbst die schöne Frau Mitaine, die Bäckerin, kam manchmal herein und klagte lebhaft über die Kunden, die sie verlor, wenn sie auch trotz alledem einem friedlichen Einvernehmen das Wort redete.
»Wissen Sie denn nicht«, schrie Laboque, »daß dieser Herr Lucas, wie sie ihn nennen, nichts Geringeres plant, als den ganzen Handel zugrunde zu richten? Ja, er rühmt sich dessen, er ruft ganz laut die Ungeheuerlichkeit hinaus: Der Handel ist ein Diebstahl, wir sind alle Diebe, wir müssen verschwinden! Um uns vom Erdboden zu vertilgen, hat er die Crêcherie gegründet.«
Mit hochrotem Gesicht und vorquellenden Augen hörte Dacheux zu.
»Und wie sollen die Leute essen, sich kleiden und so weiter ?«
»Ja, er sagt eben, daß der Verbraucher sich direkt an den Hersteller wenden soll.«
»Und das Geld?« fragte der Fleischer wieder.
»Das Geld? Auch das unterdrückt er, es wird kein Geld mehr geben. Wie, ist das nicht hirnverbrannt? Als ob man ohne Geld existieren könnte!«
Dacheux platzte beinahe vor Wut.
»Kein Handel? Kein Geld? Alles will dieser Mensch zerstören! Gibt es denn kein Gefängnis für einen solchen Räuber, der Beauclair zugrunde richten wird, wenn wir ihm nicht das Handwerk legen?«
Und Caffiaux sagte mit ernstem Kopf schütteln:
»Das ist noch nicht alles. Er sagt vor allem, daß jedermann arbeiten muß, er möchte aus der Welt ein Zuchthaus machen, in dem Aufseher mit Stöcken darüber wachen, daß jeder seine Arbeit tut. Er sagt, daß es weder Reiche noch Arme geben soll, es wird keiner beim Tode reicher sein als bei der Geburt, jeder wird verbrauchen, was er verdient, nicht mehr und nicht weniger als sein Nachbar auch, ohne daß einer auch nur das Recht hätte, sich etwas zu ersparen.«
»Und das Erbrecht?« fragte Dacheux wieder.
»Es wird kein Erbrecht mehr geben.«
»Was? Kein Erbrecht mehr? Ich soll meiner Tochter nicht hinterlassen können, was mir gehört? Donner und Hölle, das ist zu toll!«
Und der Fleischer erschütterte den Tisch durch einen wuchtigen Faustschlag.
»Er sagt auch«, fuhr Caffiaux fort, »daß es keinerlei Macht mehr geben wird, keine Regierung, keine Gendarmen, keine Richter, keine Gefängnisse mehr. Jeder wird leben, wie er will, essen und schlafen, wann er Lust hat. Er sagt auch, daß die Maschinen einmal alle Arbeit machen werden, und daß den Arbeitern nur die leichte Aufgabe bleiben wird, sie zu überwachen. Es wird das Paradies sein, die Menschen werden sich nicht mehr bekämpfen, es wird keine Heere und keine Kriege mehr geben. Und endlich sagt er, daß die Männer und Weiber, wenn sie sich lieben, sich nur für so lange zusammentun werden, wie es ihnen gefällt, und sich dann in gegenseitigem Einvernehmen wieder trennen werden. Und die Kinder, die kommen, für die wird die Gemeinschaft sorgen, wird sie alle miteinander auf gut Glück erziehen, ohne daß sie eines Vaters oder einer Mutter bedürften.«
Die schöne Frau Mitaine, die bis jetzt geschwiegen hatte, rief nun entsetzt:
»Oh, die armen Kleinen! Jede Mutter wird hoffentlich das Recht haben, ihre eigenen Kinder zu erziehen. Nur die, deren Mütter so herzlos wären, sie zu verlassen, die müßten von fremden Händen aufgezogen werden, wie zum Beispiel in den Waisenhäusern. Alles, was Sie uns da erzählen, scheint mir nicht sehr anständig.«
»Sagen Sie nur, daß es einfach eine Schweinerei ist!« rief Dacheux außer sich. »Das ist ja um nichts besser, als wenn man auf der Straße ein Mädchen aufliest: man nimmt sie und kehrt ihr dann den Rücken. Ein Freudenhaus ist ihre künftige Gesellschaft und sonst nichts!« Und Laboque, der seine bedrohten Interessen nicht aus dem Auge verlor, sagte zum Schlüsse:
»Er ist verrückt, dieser Herr Lucas. Wir können Beauclair nicht so zugrunde richten und entehren lassen. Wir werden uns zu gemeinschaftlicher Abwehr verbünden müssen.«
Aber die allgemeine Wut steigerte sich noch und überschritt alle Grenzen, als Beauclair erfuhr, daß der Giftstoff aus der Crêcherie sich auf das benachbarte Dorf Combettes auszubreiten begann. Die Verblüffung war fast so groß wie die Empörung: nun verführte und verdarb dieser Herr Lucas auch noch die Bauern! In der Tat hatte Lenfant, der Gemeindevorstand von Combettes, im Vereine mit seinem Stellvertreter Yvonnot es zuwege gebracht, die vierhundert Einwohner des Dorfes eines Sinnes zu machen und sie zu bestimmen, ihre Äcker zu einem großen Gemeingut zusammenzulegen, auf Grund einer Genossenschaft, die der nachgebildet war, die auf der Crêcherie das Kapital, die geistige Arbeit und die körperliche Arbeit zu einem Ganzen vereinigte. Dank dem Umstand, daß die vielen kleinen Äcker nun ein einziges großes Landgut bildeten, konnte dieses mit Maschinenkraft, mit reichlichem Dünger intensiv bewirtschaftet werden, konnten sich die Ernten verzehnfachen und jeder einzelne einen viel reicheren Gewinn erzielen. Und die beiden Genossenschaften sollten sich gegenseitig stützen und kräftigen, die Bauern sollten den Arbeitern das Brot liefern, die sie dafür wieder mit den Werkzeugen und sonstigen Industrieerzeugnissen versorgten, deren sie bedurften, so daß zwei bisher feindliche Klassen einander nahegerückt, immer enger miteinander verknüpft wurden und den ersten Ansatz zum brüderlichen Volke der Zukunft bildeten. Es war das Ende der alten Welt, wenn der Sozialismus die Bauern, die zahllosen Feldarbeiter für sich gewann, die bisher als die Grundstützen des egoistischen Eigentums gegolten hatten, die sich lieber auf ihren kleinen Flecken Erde um geringen Ertrag zu Tode arbeiteten, als sich davon trennten. Die Erschütterung wurde in ganz Beauclair gespürt, ein Beben durchlief die Stadt, das die nahe Katastrophe ankündigte.
Und wieder war Laboque der erste Betroffene. Er verlor die Kundschaft von Combettes, weder Lenfant noch die anderen Bauern kamen mehr zu ihm, um ihre Spaten, ihre Pflüge, ihre Geräte und Werkzeuge bei ihm zu kaufen. Bei einem letzten Besuche, den Lenfant ihm machte, feilschte dieser lange und kaufte nichts, indem er geradezu erklärte, daß er dreißig Prozent erspare, wenn er nicht mehr hier kaufe, da er, Laboque, wohl soviel an den Gegenständen verdienen müsse, die er aus den umliegenden Fabriken beziehe. Fortan würden die Bauern von Combettes ihren Bedarf direkt aus den Magazinen der Crêcherie decken, indem sie der Genossenschaft auf Gegenseitigkeit beiträten, die immer mehr an Umfang und Bedeutung zunahm. Und Angst und Schrecken verbreiteten sich unter den kleinen Kaufleuten von Beauclair.
»Wir müssen handeln, wir müssen handeln«, wiederholte Laboque immer heftiger, als Dacheux und Caffiaux ihn besuchten. »Wenn wir warten, bis dieser Verrückte die ganze Gegend mit seinen haarsträubenden Lehren vergiftet hat, so kommen wir zu spät.«
»Was sollen wir tun?« fragte der vorsichtige Caffiaux.
Dacheux war für das Totschlagen ohne alle Umstände.
»Man könnte ihm nachts an einer Straßenecke auflauern und ihm einen Denkzettel geben, daß er für immer genug hätte.«
Aber der kleine, boshafte Laboque wollte sicherere Mittel anwenden, um den Mann tödlich zu treffen.
»Nein, nein, die ganze Stadt ist empört gegen ihn, wir müssen eine Gelegenheit abwarten, bei der wir die ganze Stadt auf unserer Seite haben.«
Und die Gelegenheit bot sich bald. Das alte Beauclair war seit Jahrhunderten von einem stinkenden Bach, einer Art unbedeckter Kloake durchflössen, die Clouque hieß. Man wußte gar nicht, woher dieser Bach eigentlich kam: er schien unter einem alten Gemäuer am Ausgang der Schlucht von Brias zu entspringen, und man glaubte allgemein, daß er ein Berg sei, dessen Quellen verborgen sind. Sehr alte Leute erinnerten sich, ihn zu gewissen Zeiten breit und wasserreich gesehen zu haben. Aber seit langen Jahren war er nur noch ein schwaches Wässerchen, das durch die nahen Fabriken verunreinigt wurde. Die Frauen, die in den nächst den Ufern gelegenen Häusern wohnten, hatten sich gewöhnt, ihn als natürlichen Ausguß anzusehen, in den sie ihre Schmutzwässer schütteten, so daß er alle Unreinlichkeiten des armen Viertels mit sich führte und besonders an Sommertagen einen entsetzlichen Geruch verbreitete. Als einmal die Gefahr einer Epidemie nahegerückt war, hatte der Gemeinderat auf Anregung des Bürgermeisters die Frage in Erwägung gezogen, ob man ihn nicht zuschütten sollte. Aber die Kosten waren zu groß, die Anregung geriet in Vergessenheit, und der Clouque fuhr ungestört fort, seine Umgebung zu verpesten. Da versiegte eines Tages der Clouque vollständig, sein Bett trocknete aus und war nur noch ein langer, steiniger Graben ohne einen Tropfen Wasser. Wie durch ein Zauberwort war Beauclair von diesem Ansteckungsherd befreit, dem man alle Epidemien der Gegend zugeschrieben hatte, und die Leute waren nur neugierig, wohin das Wasser sich verlaufen haben mochte.
Anfangs verbreiteten sich darüber nur unbestimmte Gerüchte. Allmählich gewannen diese jedoch immer festeren Boden, und schließlich gab es keinen Zweifel mehr, daß der Herr Lucas begonnen hatte, den Bach abzulenken, als er die Quellen auf den Hängen der Monts Bleuses faßte, um die Crêcherie mit dem frischen, klaren Wasser zu versorgen, das ihre Freude und ihre Gesundheit bildete. Aber die vollständige Austrocknung des Clouque hatte er herbeigeführt, als er den Überschuß seines Wassers den Bauern von Combettes schenkte, wodurch diese zur Einigkeit gedrängt worden waren, um die segensreiche Gabe, die allen gehörte, gemeinschaftlich ausnützen zu können. Bald mehrten sich die Beweise, daß das Wasser, das aus dem Clouque verschwunden war, nun vermehrt in den Grand-Jean floß, um dort Fruchtbarkeit und Wohlstand zu verbreiten, anstatt wie bisher Krankheit und Tod. Und der Groll und Haß gegen Lucas bekam neue Nahrung, gegen diesen Menschen, der so unverschämt das nahm, was nicht ihm gehörte. Mit welchem Rechte hatte er den Bach abgelenkt? Mit welchem Rechte ließ er das Wasser seinen Kreaturen zufließen? Das konnte doch nicht zugegeben werden, daß so einer der Stadt das Wasser wegnahm, das immer da geflossen war, das man gewohnt war, da zu sehen, das schließlich doch wertvolle Dienste geleistet hatte. Der dünne, schmutzige Wasserfaden, der allen möglichen Unrat mitführte, der einen Pesthauch verbreitete, der Krankheiten und Tod verursachte, war vergessen. Es war nicht mehr die Rede davon, ihn zuzuschütten, jeder sprach nur von dem großen Nutzen, den er daraus gezogen hatte, für die Bewässerung, für das Waschen, für all die kleinen Erfordernisse des täglichen Lebens. Ein solcher Raub durfte nicht geduldet werden, die Crêcherie mußte den Clouque zurückgeben, die schmutzige Kloake, die die Stadt verpestet hatte.
Laboque schrie natürlich am lautesten. Er sprach offiziell beim Bürgermeister vor, um diesen zu befragen, welche Maßregeln er dem Gemeinderate in dieser schwerwiegenden Sache vorzuschlagen gedenke. Er erklärte sich für besonders betroffen, weil der Clouque hinter seinem Hause an einer Ecke seines kleinen Gartens vorübergeflossen und ihm angeblich von großem Nutzen gewesen war. Hätte er Unterschriften für einen Protest sammeln wollen, so hätte er sicher die aller Bewohner seines Viertels zusammengebracht. Aber er war der Ansicht, daß die Stadt selbst die Sache in die Hand nehmen und gegen die Crêcherie einen Prozeß auf Wiederherstellung des früheren Zustandes und auf Schadenersatz anstrengen müsse. Gourier hörte ihn ruhig an und begnügte sich, durch Kopfnicken seine Zustimmung zu erkennen zugeben, ohne sich zu stärkerer Parteinahme herbeizulassen, trotz des geheimen Grolles, den er persönlich gegen Lucas nährte. Dann erbat er sich einige Tage Bedenkzeit, um den Fall genau zu prüfen und sich mit anderen Personen zu beraten. Er fühlte wohl, daß Laboque die Stadt zum Vorgehen drängte, damit er nicht selbst vorgehen müsse. Dem Unterpräfekten Châtelard, mit dem er sich zwei Stunden lang einschloß, gelang es denn auch bald, ihn zu überzeugen, wie weise es sei, stets andere Leute Prozeß führen zu lassen. Und als er den Eisenhändler wieder rufen ließ, setzte er ihm eingehend auseinander, daß ein von der Stadt geführter Prozeß sehr langwierig werden müßte und zu keinem entscheidenden Erfolge führen dürfte, während eine von einem Privatmann angestrengte Klage der Crêcherie verderblich werden würde, besonders wenn nach der Verurteilung andere Privatleute seinem Beispiel folgten.
Wenige Tage später brachte Laboque die Klage ein und verlangte eine Entschädigungssumme von fünfundzwanzigtausend Frank. Und wie zu einem Feste vereinigte er einige Gesinnungsgenossen bei sich unter dem unschuldigen Vorwande eines Essens, zu dem seine Kinder Eulalie und Auguste ihre Freunde und Freundinnen Honorine Caffiaux, Evariste Mitaine und Julienne Dacheux einluden. All diese Jugend war herangewachsen, Auguste war sechzehn Jahre alt, Eulalie neun, Evariste war ein ernster Junge von vierzehn Jahren, während Honorine mit ihren neunzehn Jahren schon eine mütterliche Rolle gegen die achtjährige Julienne, die jüngste der Gesellschaft, spielte. Sie begaben sich alle sofort in den kleinen Garten und spielten und tollten voll Übermut und Unschuld, unbekümmert um den Haß und Zorn ihrer Eltern.
»Endlich haben wir ihn!« rief Laboque. »Der Bürgermeister hat mir gesagt, wenn wir die Sache bis ans Ende verfolgen, so werden wir das ganze Unternehmen zugrunde richten. Nehmen wir an, daß mir das Gericht nur zehntausend Frank zuspricht, so seid ihr noch immer an die Hundert, die ihm denselben Prozeß machen können, was ihn also eine runde Million kosten kann. Aber das ist noch nicht alles, er muß uns den Bach zurückgeben, er muß die Arbeiten zerstören, die er an den Quellen hat ausführen lassen, und damit wird ihm das schöne, frische Wasser wieder weggenommen, auf das er so stolz ist. Ach, liebe Freunde, das ist eine Freude!« Alle schwelgten im Vorgefühle des Triumphes, die Crêcherie zugrunde zu richten, und besonders diesen Lucas zu zerschmettern, diesen Wahnsinnigen, der den Handel, das Erbrecht, das Geld, die ehrwürdigsten Grundlagen der menschlichen Gesellschaft zerstören wollte. Nur Caffiaux blieb still und nachdenklich.
»Mir wäre es lieber gewesen«, sagte er endlich, »wenn die Stadt den Prozeß geführt hätte. Aber wenn es darauf ankommt, sich herumzuschlagen, so lassen die Herren immer lieber die anderen vorangehen. Wo sind sie denn, die Hundert, die gegen die Crêcherie klagen würden?«
»Ich wäre gleich dabei«, schrie Dacheux, »wenn mein Haus nur nicht auf der anderen Seite der Straße läge! Aber vielleicht geht es doch, denn der Clouque berührt den Hof meiner Schwiegermutter. Der Henker soll's holen, ich muß mit dabei sein!«
»Da ist zunächst einmal Frau Mitaine«, sagte Laboque, »die sich genau in derselben Lage befindet wie ich, deren Haus ebenso geschädigt ist wie meines, seitdem der Bach vertrocknet ist. Sie werden klagen, nicht wahr, Frau Mitaine?«
Er hatte sie eingeladen, in der geheimen Absicht, sie zu einer offenen Erklärung zu drängen, daß sie sich den Feindseligkeiten anschließen wolle, denn er wußte, wie friedfertig und sanft die wackere Frau war. Sie nahm seine Worte lachend auf.
»Oh, der Schaden, den das Versiegen des Clouque bei mir verursacht hat! Nein, lieber Nachbar, in Wirklichkeit verhält es sich so, daß ich Befehl gegeben habe, niemals einen Tropfen dieses verdorbenen Wassers zu verwenden, da ich fürchtete, daß meine Kunden krank davon werden könnten. Der Bach war so schmutzig und roch so schlecht, daß wir an dem Tage, an dem er wieder zu fließen anfangen würde, gezwungen wären, ihn mit großen Kosten zuzuschütten, wie das schon einmal angeregt wurde.«
Laboque tat, als habe er nichts gehört.
»Jedenfalls sind Sie doch aber mit uns, Frau Mitaine, Ihre Interessen sind unsere, und wenn ich meinen Prozeß gewinne, so werden Sie doch mit den anderen Hausbesitzern an den Bachufern zusammengehen, die sich auf das Urteil stützen werden?«
»Wir werden sehen, wir werden sehen«, erwiderte die schöne Bäckerin, ernst geworden. »Ich will gern mit der Gerechtigkeit gehen, wenn sie gerecht ist.«
Laboque mußte sich mit diesem bedingten Versprechen zufrieden geben. Im übrigen raubte ihm seine blinde Verfolgungswut jede kühle Überlegung. Er glaubte schon den Sieg errungen und die sozialistischen Wahnideen vernichtet zu haben, deren Verwirklichung innerhalb vier Jahren seine Geschäfte auf die Hälfte hatte sinken machen. Die ganze Gesellschaft rettete er und rächte er, indem er mit Dacheux um die Wette mit der Faust auf den Tisch schlug, während der schlaue und vorsichtige Caffiaux abwartete, ob Beauclair oder die Crêcherie siegen werde, ehe er offen irgendeine Partei ergriff. Während dieser Zeit saßen die Kinder an ihrem mit Kuchen und Süßigkeiten besetzten Tische, hörten nichts von der nahenden Schlacht und lachten und zwitscherten wie eine Schar Vögelchen, die unter freiem Himmel der Zukunft entgegenfliegt.
Ganz Beauclair geriet in heftige Erregung, als man von der Klage Laboques, von dem Ersatzanspruch von fünfundzwanzigtausend Frank hörte, die das Ultimatum, die Kriegserklärung an den Feind bedeutete. Von da ab gab es einen Mittelpunkt für den Haß der einzelnen, die zerstreuten Feindseligkeiten sammelten sich zu einer geschlossenen Armee, die sich Lucas und seinem Werke gegenüberstellte, dieser teuflischen Fabrik, in der der Untergang der alten, ehrwürdigen Gesellschaft geschmiedet wurde. Es galt, die Gesetze, das Eigentum, die Religion, die Familie zu verteidigen. Alle Bewohner Beauclairs schlossen sich allmählich dieser Armee an, die Kaufleute hetzten ihre Kunden auf, die Bürger, denen alles Neue Furcht einflößte, scharten sich gegen den gefährlichen Feind. Es gab keinen kleinen Rentner, der sich nicht von einem schrecklichen Umsturz bedroht fühlte, in dem seine kleine egoistische Existenz vernichtet werden könnte. Die Frauen waren erzürnt und empört, seitdem der Sieg der Crêcherie ihnen als der eines abscheulichen Ortes dargestellt wurde, in dem sie sich jedem erstbesten hingeben müßten, der sie würde nehmen wollen. Selbst die Arbeiter, selbst die armen Hungernden bekamen Angst und begannen den Mann zu verwünschen, dessen heißes Sehnen es war, sie zu retten, und den sie anklagten, daß er ihr Elend verschärfe, indem er die Herren und die Reichen noch hartherziger mache. Aber was Beauclair besonders mit Gift und Wut durchtränkte, war ein heftiger Feldzug, den das von dem Drucker Lebleu herausgegebene Lokalblättchen gegen Lucas führte. Infolge des besonderen Anlasses erschien die Zeitung zweimal wöchentlich, und man vermutete in Hauptmann Jollivet den Verfasser der Artikel, deren wütende Sprache Aufsehen erregte. Die Angriffe bestanden allerdings nur aus einem Gemisch von Lügen und Irrtümern, aus den gewohnten albernen Beschimpfungen, mit denen die Feinde des Sozialismus gegen diesen kämpfen, indem sie seine Absichten verzerren und seine Ideale beschmutzen. Aber diese Angriffe verfehlten ihre Wirkung auf die schwachen, unwissenden Köpfe nicht, und es war erstaunlich, wie die Empörung, von allerlei Ränken genährt und gestachelt, immer weitere Kreise ergriff, wie sich gegen den Störenfried bisher feindliche Klassen vereinigten, die wütend darüber waren, daß man sie aus ihrer jahrhundertealten Kloake aufstören wollte, unter dem falschen Vorwande, sie versöhnt in das gesunde, gerechte und glückliche Reich der Zukunft zu führen.
Zwei Tage, ehe der Prozeß, den Laboque gegen Lucas angestrengt hatte, vor dem Gericht von Beauclair zur Verhandlung kommen sollte, gaben die Delaveaus ein großes Frühstück, dessen geheimer Zweck war, sich vor der Schlacht zu treffen und zu vereinigen. Das Ehepaar Boisgelin war natürlich geladen, ferner der Bürgermeister Gourier, der Unterpräfekt Châtelard, der Präsident Gaume mit seinem Schwiegersohn, Hauptmann Jollivet, ebenso der Abbé Marle. Auch die Damen waren geladen, damit die Zusammenkunft den Charakter einer freundschaftlichen Veranstaltung erhalte.
Châtelard kam wie gewöhnlich um halb zwölf Uhr zum Bürgermeister, um ihn und seine, Frau, die noch immer schöne Leonore, abzuholen. Seit dem Erfolg der Crêcherie machte Gourier böse Stunden voll Unruhe und Zweifel durch. Zuerst hatte er in den Hunderten von Arbeitern, die er in seiner Schuhfabrik in der Rue-de-Brias beschäftigte, eine Bewegung gefühlt, das Beben des kommenden Neuen, der drohenden Genossenschaft. Dann hatte er sich gefragt, ob es nicht am besten wäre mitzugehen, sich selbst an dieser Genossenschaft zu beteiligen, die ihn zugrunde richten könnte, wenn er sich ihr nicht anschloß. Aber er verbarg diesen inneren Kampf vor aller Augen, denn in seinem Herzen blutete eine offene Wunde, lebte ein tiefer persönlicher Groll gegen Lucas, seitdem sein Sohn Achille, der unabhängige, eigenwillige junge Mensch sich von ihm losgesagt und eine Anstellung auf der Crêcherie angenommen hatte, wo er sich in der Nähe von Blauchen befand, der Geliebten, mit der er in hellen Nächten geheime Zusammenkünfte hatte. Gourier hatte verboten, den Namen des Undankbaren in seiner Gegenwart auszusprechen, der aus seiner Klasse davongelaufen war, um zu dem Feinde alles Bestehenden überzugehen. Aber ohne daß er es gestehen wollte, hatte die Flucht seines Sohnes seine innere Ungewißheit vermehrt, ihn mit der geheimen Furcht erfüllt, daß er eines Tages gezwungen sein könnte, ihm zu folgen.
»Na also«, sagte er zu Châtelard, sobald dieser eingetreten war, »da hätten wir endlich den Prozeß. Laboque war heute wieder bei mir, um gewisse Dokumente von mir zu verlangen. Er geht noch immer darauf aus, die Stadt in die Sache hineinzuziehen, und es ist wirklich schwer, ihm nicht hilfreiche Hand zu bieten, nachdem man ihn so vorwärtsgedrängt hat, wie wir es getan haben.«
Der Unterpräfekt lächelte bloß.
»Nein, nein, lieber Freund, folgen Sie meinem Rat und lassen Sie die Stadt neutral bleiben. Sie sind klug genug gewesen, meinen guten Gründen nachzugeben und keinen Prozeß anzustrengen, sondern den schrecklichen Laboque, der so rachsüchtig und blutdürstig äst, allein den Kampf aufnehmen zu lassen. Ich bitte Sie sehr, verlassen Sie diese Linie nicht und bleiben Sie einfacher Zuschauer. Es wird immer noch Zeit sein, aus seinem Sieg Nutzen zu ziehen, falls er siegreich bleibt. Ach, lieber Freund, wenn Sie wüßten, wie angenehm es ist, die Dinge ruhig ihren Gang gehen zu lassen!«
Und mit einer Gebärde vervollständigte er seine Worte und drückte aus, wie wohl und behaglich er sich in seiner Unterpräfektur fühle, seitdem es ihm gelungen war, daß man an ihn vergaß. In Paris gingen die Dinge immer schlimmer und schlimmer, die Zentralgewalt wurde täglich mehr erschüttert, die Zeit war nahe, da die bürgerliche Gesellschaft von selbst zerfallen oder von einer Revolution weggeschwemmt werden mußte. Und er, der gelassene, skeptische Philosoph, verlangte nicht mehr, als so lange zu bestehen, zufrieden damit, wenn er ohne viel Unannehmlichkeiten in dem warmen Nest enden konnte, das er sich erwählt hatte. Seine ganze Politik bestand daher nur darin, den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich so wenig wie möglich mit ihnen zu beschäftigen, wobei er überzeugt war, daß die Regierung ihm im Kampfe ums Dasein unendlichen Dank wußte, daß er das Tier ruhig sterben ließ, ohne es noch unnütz zu quälen. Er war ein unbezahlbarer Beamter, dieser Unterpräfekt, von dem man nie sprechen hörte, dessen klugem Verhalten es gelungen war, Beauclair aus dem Gebiete der Regierungssorgen ganz auszumerzen. Man war höchst zufrieden mit ihm, man erinnerte sich seiner nur, um ihn mit Lobsprüchen zu überhäufen, während er gelassen mithalf, die sterbende Gesellschaft zu begraben, und heiteren Gemütes seinen letzten Herbst zu den Füßen der schönen Leonore verlebte.
»Verstehen Sie wohl, lieber Freund, kompromittieren Sie sich nicht, in unserer Zeit kann man nicht wissen, was morgen geschieht. Man muß auf alles gefaßt sein, und daher ist es das beste, sich von nichts auszuschließen. Lassen Sie die anderen vorauslaufen und in Gefahr kommen, sich die Glieder zu brechen. Sie werden dann schon sehen, was Sie zu tun haben.«
Nun trat Leonore ein, in helle Seide gekleidet, wie verjüngt, seitdem sie die Vierzig überschritten hatte, eine blonde, majestätische Schönheit. Sie begrüßte die beiden Männer, den Gatten und den Geliebten, mit denen sie in einer von der ganzen Stadt wohlwollend geduldeten dreieckigen Ehe lebte. Châtelard ergriff ihre Hand und küßte sie galant wie am ersten Tage, während der Gemahl seine Blicke liebevoll auf den beiden ruhen ließ, wie ein Mann, der sich anderweitig entschädigte und dessen Glück in geordnete Bahnen gelenkt war.
»Bist du bereit? Also gehen wir, Châtelard? Seien Sie nur ganz ruhig, ich bin vorsichtig und habe keine Lust, mich in eine unangenehme Sache hineinzuwagen, die unsere Ruhe gefährden könnte. Nur, wissen Sie, wenn wir jetzt zu Delaveau kommen, müssen wir tun wie die anderen.«
Um dieselbe Stunde erwartete der Präsident Gaume seine Tochter Lucile und seinen Schwiegersohn, Hauptmann Jollivet, um mit ihnen gemeinsam der Einladung Delaveaus zu folgen. Der Präsident war in den letzten vier Jahren sehr gealtert, er war noch ernster und düsterer geworden, und seine Strenge hatte sich zur Manie entwickelt. Er verwandte lange Stunden darauf, seine Urteile mit peinlicher Genauigkeit zu begründen, und man erzählte, daß man ihn an manchen Abenden habe schluchzen hören, als ob alles unter ihm zusammenbräche, selbst die menschliche Justiz, an die er sich verzweifelt klammerte, um sich durch diesen letzten Balken vor dem Untergang zu retten. Und während die Erinnerung an das schreckliche Drama seines Lebens, an den Verrat und gewaltsamen Tod seiner Frau noch qualvoll an seiner Seele zerrte, mußte er den Schmerz erleben, daß dieses Drama sich wiederholte, daß seine Tochter, Lucile mit dem jungfräulichen Antlitz, die er abgöttisch liebte und die ihrer Mutter auffallend ähnelte, ihren Mann betrog, wie die Mutter ihn betrogen hatte. Sie war noch kein halbes Jahr die Frau des Hauptmanns Jollivet, als sie sich einem Assessor ergab, einem großen, blonden jungen Menschen mit blauen Mädchenaugen, der jünger war als sie. Der Präsident, der von der Liebschaft erfuhr, litt entsetzlich darunter, wie unter dem Wiederaufleben des Verrates, der seinem Herzen eine tiefe, noch immer blutende Wunde geschlagen hatte. Er scheute davor zurück, seine Tochter zur Rechenschaft zu ziehen, er fürchtete, den entsetzlichen Tag noch einmal zu durchleben, an dem seine Frau sich vor seinen Augen getötet hatte. Aber welch eine grauenhafte Welt war das, in der alles, was er je geliebt hatte, ihn verriet! Und wie sollte er an eine Gerechtigkeit glauben, wenn gerade die Schönsten und Besten soviel Leiden verursachten?
In trübes Sinnen versunken saß der Präsident Gaume in seinem Arbeitszimmer, in dem er im »Journal de Beauclair« gelesen hatte, als der Hauptmann und Lucile eintraten. Der heftige Artikel gegen die Crêcherie, dessen Lektüre er eben vollendet hatte, schien ihm ungemein plump und gewöhnlich, und er sprach ruhig diese Meinung aus.
»Ich will hoffen, lieber Jollivet, daß nicht Sie diese Artikel schreiben, wie das Gerücht behauptet. Es ist zwecklos, seine Gegner zu beschimpfen.«
Der Hauptmann machte eine verlegene Gebärde.
»Oh, Sie wissen ja, daß ich nichts schreibe, derlei hat mir nie Vergnügen gemacht. Aber es ist wahr, daß ich Lebleu gewisse Ideen gebe, kurze Notizen, die ich rasch aufs Papier werfe und die er dann irgendwie verwerten läßt.«
Und da der Präsident noch immer einen mißbilligenden Gesichtsausdruck zeigte, fuhr er fort:
»Was wollen Sie? Man kämpft mit den Waffen, die einem zu Gebote stehen. Wenn das verdammte sudanesische Fieber mich nicht gezwungen hätte, meinen Abschied zu nehmen, würde ich diesen hirnverbrannten Schwärmern, die uns durch ihre verbrecherischen Phantasien zugrunde richten, mit dem Säbel Vernunft beibringen. Himmelsakrament! Es wäre eine wahre Wohltat, wenn ich ein Dutzend davon in die Pfanne hauen könnte!«
Lucile, klein und zierlich, hörte schweigend zu und zeigte nur ihr kaum merkliches, rätselhaftes Lächeln. Sie warf auf ihren großen Mann mit dem martialischen Schnurrbart einen so ironischen Blick, daß der Präsident darin unschwer die heitere Geringschätzung las, die ihr dieser Eisenfresser einflößte, mit dem ihre zarten, rosigen Händchen spielten wie die Katze mit der Maus.
»Charles«, sagte sie, »sei nicht so wild, führe nicht solche Reden, die mir Angst einjagen!«
Sie sah den Blick ihres Vaters, fürchtete, durchschaut zu werden, und setzte mit ihrer jungfräulich-unschuldigen Miene hinzu:
»Nicht wahr, Papa, Charles tut unrecht, so in Hitze zu geraten? Wir sollten still und ruhig in unserem Winkel leben und Gott bitten, daß er uns endlich einen hübschen kleinen Jungen beschert.«
Gaume sah wohl, daß sie sich wieder lustig machte, und vor seinem inneren Auge stieg das Bild des Geliebten, des blonden jungen Assessors mit den blauen Mädchenaugen auf, den sie zu ihrem Spielzeug gemacht hatte.
»Alles das ist sehr traurig und schmerzlich«, sagte der Präsident, ohne erkennen zu lassen, woran er dabei dachte. »Was sollen wir tun, was beginnen, wenn alle sich hassen und betrügen?«
Er erhob sich mühsam und nahm seinen Hut und seine Handschuhe, um sich zu Delaveau zu begeben.
Um die Mittagszeit kam Delaveau zu Fernande in den kleinen, an das Eßzimmer stoßenden Salon im Erdgeschoß des vom ersten Qurignon erbauten kleinen Hauses, das nun dem Direktor als Wohnung diente. Es bot nur ziemlich beschränkten Raum und enthielt im Erdgeschoß bloß noch ein Zimmer, das Delaveau als Arbeitszimmer diente und durch einen Holzgang mit den Büros der Werke verbunden war. Im ersten und im zweiten Stock lagen die Schlafzimmer. Seitdem eine junge, prachtliebende Frau hier wohnte, zeigten die alten Wände etwas von dem Glanz und dem Luxus, den sie sich erträumte.
Als erster Gast erschien Boisgelin allein.
»Wie?« rief Fernande mit dem Anschein lebhaften Bedauerns. »Suzanne kommt nicht?«
»Sie läßt Sie bitten, sie zu entschuldigen«, sagte Boisgelin mit korrekter Liebenswürdigkeit. »Sie hat heute so starke Migräne, daß sie das Zimmer nicht verlassen kann.«
Sooft es sich darum handelte, in das Haus Delaveaus zu kommen, fand Suzanne irgendeinen Vorwand, um sich diesen Kummer zu ersparen. Und Delaveau in seiner Verblendung war der einzige, der diesen Vorwand noch nicht durchschaute.
Boisgelin sprach übrigens sofort von etwas anderem.
»Na also, da wären wir ja am Vorabend des vielbesprochenen Prozesses! Die Sache ist so gut wie entschieden, die Crêcherie ist im voraus verurteilt, was?«
Delaveau zuckte die breiten Schultern.
»Mag sie nun verurteilt werden oder nicht, was liegt uns das daran? Sie tut uns allerdings Schaden, indem sie die Eisenpreise drückt, aber wir konkurrieren nicht in der Fabrikation, und die Sache ist daher noch nicht ernst.«
Fernande, die heute besonders schön war, sah ihn mit flammenden Augen an.
»Oh, du, du kannst nicht hassen! Da ist ein Mensch, der alle deine Pläne durchkreuzt hat, der vor deiner Tür eine Konkurrenzfabrik gegründet hat, deren Erfolg der Untergang der von dir geleiteten Fabrik wäre, die ein fortwährendes Hindernis, eine fortwährende Drohung für dich bildet, und du wünschst nicht einmal sein Verderben! Oh, ich möchte ihn hängen sehen, dann wäre ich glücklich!«
Vom ersten Tage an hatte sie in Lucas den Feind gespürt, und sie konnte nicht ohne tödlichen Haß von dem Manne sprechen, der ihren Lebensgenuß bedrohte. Das war in ihren Augen das größte, das einzige Verbrechen, sie verlangte für ihre stets wachsende Gier nach Vergnügen und Luxus immer größere Gewinne, eine blühende Fabrik, Hunderte von Arbeitern, die vor dem Glutrachen der Öfen das Eisen kneteten und formten. Sie war die Geld- und Menschenverschlingerin, deren Heißhunger die Hölle mit ihren Dampfhämmern und ihren gewaltigen Maschinen nicht stillen konnte. Und was sollte aus ihren Hoffnungen auf eine glänzende, verschwenderische Zukunft, auf verdiente und wieder vergeudete Millionen werden, wenn die Werke zurückgingen, wenn sie der Konkurrenz erlagen? Sie gönnte daher weder ihrem Manne noch Boisgelin Ruhe, stachelte sie auf, drängte sie zur Gegenwehr, ergriff jede Gelegenheit, um ihrem Zorn und ihren Befürchtungen Luft zu machen.
Boisgelin, der es für unter seiner Würde hielt, sich im geringsten mit den Geschäften der Werke zu befassen, sondern der lediglich deren Erträgnisse als schöner und geliebter Mann, als eleganter Reiter und Jäger mit vollen Händen verbrauchte, konnte sich doch eines leichten Schauers nicht erwehren, als er Fernande von der Möglichkeit eines Zusammenbruchs sprechen hörte. Er wandte sich an Delaveau, in den er unbeschränktes Vertrauen setzte.
»Du hast keinerlei Befürchtung, was? Es geht doch alles gut?«
Der Direktor zuckte wieder die Achseln.
»Ich wiederhole dir, daß wir noch nicht berührt sind. Die ganze Stadt erhebt sich gegen den Mann, er ist ja wahnsinnig! Bei dem Prozeß wird sich seine ganze Unbeliebtheit zeigen, und das ist mir deshalb willkommen, weil er ihm in der öffentlichen Meinung Beauclairs den Rest geben wird. Ehe drei Monate um sind, werden alle Arbeiter, die er uns weggenommen hat, mit erhobenen Händen kommen und bitten, daß wir sie wieder aufnehmen. Es wird sich dann deutlich zeigen, daß nur die Autorität Berechtigung hat und daß die Befreiung der Arbeit ein Unsinn ist. Der Arbeiter taugt nichts mehr von dem Augenblick an, da er sein eigener Herr ist.«
Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann fuhr er langsamer fort:
»Trotzdem sollten wir eine gewisse Vorsicht nicht außer acht lassen. Die Crêcherie ist keine zu verachtende Konkurrenz, und das einzige, was mich beunruhigen würde, wäre, daß wir im Falle eines plötzlich ausbrechenden ernsten Kampfes nicht über die nötigen Kapitalien verfügen würden. Wir leben zu sehr von einem Tag auf den anderen. Es wäre nötig, einen ausgiebigen Reservefonds zu gründen und dafür jährlich sagen wir ein Drittel des Reingewinnes zurückzulegen.«
Fernande unterdrückte eine Gebärde unwillkürlichen Widerspruchs. Sie fürchtete nichts mehr, als daß die Geldmittel ihres Geliebten sich verminderten und daß die Befriedigung ihrer Prunk- und Genußsucht darunter leiden könnte. Sie mußte sich darauf beschränken, Boisgelin einen Blick zuzuwerfen. Dieser erwiderte jedoch schon aus eigenem Antriebe rasch:
»Nein, nein, lieber Freund, nur jetzt nicht, ich kann nichts erübrigen, ich habe zu große Ausgaben. Ich versichere dich übrigens noch einmal meiner Dankbarkeit, denn du bringst mir reichere Erträgnisse ein, als du mir in Aussicht gestellt hast. Später werden wir sehen. Wir sprechen noch darüber.«
Aber Fernande blieb nervös, und ihr geheimer Zorn machte sich gegen Nise Luft, der das Stubenmädchen allein zu essen gegeben hatte und die nun hereinkam, um guten Tag zu sagen, ehe sie sich zu einer kleinen Freundin begab, bei der sie den Nachmittag verbringen sollte. Sie war nun bald sieben Jahre alt, ein reizendes, rosiges, immer lachendes Kind, mit einem wirren, krausen Köpfchen blonder Haare.
»Hier sehen Sie ein ungehorsames Kind, lieber Boisgelin, das mich noch krank machen wird. Fragen Sie sie doch, was sie neulich nach dem Tee getan hat, zu dem sie Ihren Sohn Paul und die kleine Louise Mazelle geladen hatte.«
Ohne im geringsten in Verlegenheit zu geraten, fuhr Nise fort, heiter zu lächeln, und sah alle Leute mit ihren strahlenden blauen Augen an.
»Oh«, fuhr die Mutter fort, »sie wird ihre Schuld nicht bekennen. Trotz meines zehnmal wiederholten Verbotes hat sie wieder die alte Tür in der Gartenmauer geöffnet und die ganze schmutzige Bande von der Crêcherie hereingelassen. Dazu gehört unter anderen der kleine Nanet, ein abscheulicher Junge, in den sie sich vernarrt hat. Ihr Paul war übrigens auch dabei, ebenso Louise Mazelle, und sie alle sind gut Freund mit der Kinderschar dieses Bonnaire, der uns in so unschöner Weise verlassen hat. Jawohl, Paul bildet ein Paar mit Antoinette, Louise mit Lucien, und Fräulein Nise nebst ihrem Freund Nanet waren die Anführer bei der gemeinschaftlichen Verwüstung der Gartenbeete! Und Sie sehen, sie wird nicht einmal rot vor Scham!«
»Das ist nicht wahr!« erwiderte Nise unbefangen mit ihrem hellen Stimmchen. »Wir haben gar nichts verwüstet, wir haben ganz brav miteinander gespielt. Und Nanet ist sehr lustig.«
Diese Antwort brachte Fernande vollends in Zorn.
»So, du findest ihn lustig? Höre, wenn ich dich noch einmal mit ihm zusammen sehe, bekommst du acht Tage keinen Nachtisch. Ich will nicht, daß wir durch deine Schuld mit den Leuten da nebenan zu tun bekommen. Sie würden überall herumgehen und sagen, daß wir ihre Kinder anlocken, um sie krank zu machen. Verstehst du, diesmal ist es Ernst, und du bekommst es mit mir zu tun, wenn du noch einmal mit diesem Nanet zusammentriffst!«
»Ja, Mama«, sagte Nise mit ihrem fröhlich-unbekümmerten Lächeln.
Als sie alle Anwesenden der Reihe nach geküßt hatte und mit dem Stubenmädchen fortgegangen war, sagte die Mutter noch:
»Ich werde ganz einfach die Tür vermauern lassen, um diesem Kinderverkehr ein für allemal ein Ende zu machen. Nichts ist verderblicher als das Spielen mit solchen Genossen, die Kinder können sich da alle möglichen Krankheiten holen.«
Delaveau und Boisgelin hatten sich nicht eingemischt, da sie die ganze Sache für eine unwichtige Kinderei hielten, aber sie waren der Ordnung und Disziplin wegen mit strengen Maßregeln einverstanden. Die Zukunft blühte jedoch unaufhaltsam weiter, Nise bewahrte in ihrem eigensinnigen Köpfchen und Herzen das Bild Nanets, der so lustig war und so hübsch spielen konnte.
Nun trafen die anderen Gäste ein, erst das Ehepaar Gourier mit Châtelard, dann der Präsident Gaume mit Tochter und Schwiegersohn. Seiner Gewohnheit gemäß erschien der Abbé Marle verspätet als letzter. Die Gesellschaft zählte zehn Personen, das Ehepaar Mazelle, das durch ein Hindernis abgehalten war, hatte bestimmt versprochen, zum Kaffee zu kommen. Fernande hatte zu ihrer Rechten den Unterpräfekten und zur Linken den Präsidenten, während Delaveau sich zwischen die beiden einzigen Damen, Leonore und Lucile, setzte. An den Schmalseiten saßen Gourier und Boisgelin, der Abbé Marle und Hauptmann Jollivet. Es waren nur die nächsten Freunde geladen worden, damit man zwanglos plaudern könne. Das Eßzimmer, dessen Fernande sich schämte, war übrigens so klein, daß das alte Mahagonibüfett beim Auftragen hinderlich war, sobald mehr als zwölf Personen bei Tische saßen.
Schon beim Fischgericht, köstlichen Forellen aus der Mionne, geriet das Gespräch selbstverständlich auf die Crêcherie und Lucas. Und was diese Angehörigen der gebildeten Bürgerklasse sagten, war nicht viel klüger und intelligenter als die seltsamen Ansichten der Dacheux' und Laboques. Der einzige, der ein verständiges Urteil hätte abgeben können, war Châtelard. Aber er sprach scherzend wie immer:
»Sie werden wohl gehört haben, daß Knaben und Mädchen dort ganz gemeinsam aufwachsen, in denselben Schulzimmern, in denselben Werkstätten, und, wie ich hoffen will, in denselben Schlafräumen, so daß wir da eine kleine Stadt vor uns haben, die sich ungemein rasch bevölkern wird. Alle bilden eine Familie, alle sind sie Papas und Mamas, umgeben von einem Gewimmel von Kindern, die allen gehören.«
»Schauderhaft!« sagte Fernande mit dem Ausdruck tiefen Abscheus, denn sie trug eine große Keuschheit zur Schau.
Leonore, die sich einer immer strengeren Religiosität befleißigte, neigte sich zum Abbé Marle, ihrem Nachbarn, und sagte halblaut:
»Das ist eine Schändlichkeit, die Gott nicht zulassen wird.«
Der Abbé begnügte sich damit, die Augen zum Himmel zu erheben. Seine Stellung war um so schwieriger, als er mit Soeurette nicht hatte brechen wollen und nach wie vor regelmäßig als Gast auf der Crêcherie erschien. Er gehörte allen seinen Schäflein, besonders denen, die vom rechten Pfade abgeirrt waren und die er noch hoffte zurückführen zu können. Er nannte das auf der Bresche ausharren, mit allen Kräften gegen das Eindringen des bösen Geistes ankämpfen. Aber alle seine Anstrengungen, dem Todeskampf der alten Gesellschaft die kirchliche Weihe zuteil werden zu lassen, waren vergeblich, und er wurde von tiefer Traurigkeit erfaßt, wenn er sah, wie die Zahl der Gläubigen in seiner Kirche sich von Tag zu Tag verminderte.
»In einer kleinen kommunistischen Kolonie«, ließ sich nun Boisgelin vernehmen, »deren Errichtung man versucht hatte, gab es nicht genug Frauen. Was taten sie also? Es wurde abgewechselt, die Frauen verbrachten immer eine Nacht mit einem anderen Manne. Man nannte das den Kreislauf!«
Lucile schlug ein leichtes, silberhelles Lachen auf, das aller Augen auf sie zog. Aber sie blieb ganz unbefangen und sah mit ihrer gewohnten unschuldigen Miene drein. Dann warf sie lächelnd einen kleinen Seitenblick auf ihren Mann, um zu sehen, ob er die Geschichte drollig fand.
Delaveau machte eine geringschätzige Gebärde. Die Frauengemeinschaft ließ ihn gleichgültig. Die ernste Seite der Sache war das untergrabene Ansehen, das verbrecherische Streben, alle Herrschaft zu beseitigen.
»Ich verstehe nicht, wie sich die Leute das eigentlich vorstellen«, sagte er. »Wer soll ihren Staat der Zukunft regieren? Oder nehmen wir nur eine Fabrik als Beispiel. Sie wollen durch die Genossenschaft den Arbeitslohn abschaffen und sagen, daß eine gerechte Verteilung des Reichtums eingetreten sein wird, sobald jeder Mensch arbeitet und sein Teil an Leistung zum gemeinschaftlichen Werke beisteuert. Ich kenne keinen gefährlicheren Traum als diesen, denn er ist unausführbar, nicht wahr, Herr Gourier?«
Der Bürgermeister, der über seinen Teller gebeugt dagesessen hatte, wischte sich lange den Mund, ehe er antwortete, denn er sah den Blick des Unterpräfekten auf sich gerichtet.
»Unausführbar, das ist außer Zweifel. Nur dürfen wir die Genossenschaft nicht leichthin verwerfen. Es steckt eine große Kraft darin, deren wir selbst uns eines Tages bedienen müssen.«
Diese kluge Zurückhaltung wirkte empörend auf den Hauptmann.
»Wie? Wollen Sie sagen, daß Sie die unverschämten Attentate nicht vorbehaltlos verdammen, die dieser Mensch, ich meine diesen Herrn Lucas, gegen alles plant, was uns teuer ist, gegen unser altes Frankreich, wie unsere Väter es mit dem Degen geschaffen und uns überantwortet haben ?«
Es wurden eben Lammkoteletten mit Spargel aufgetragen, und von allen Seiten erhoben sich Ausrufe der Entrüstung gegen Lucas. Dieser verwünschte Name genügte, um alle eines Sinnes zu machen, um sie eng zu verbinden, in der Angst um ihre bedrohten Interessen, in ihrem starken Bedürfnis nach Abwehr und Rache. Man war so grausam, Courier über seinen Sohn Achille, den Abtrünnigen, zu befragen, und der Bürgermeister mußte ihn aufs neue verwünschen. Nur Châtelard verstand es immer, geschickt zu lavieren und den scherzenden Ton beizubehalten. Aber der Hauptmann fuhr fort, das schrecklichste Unheil zu weissagen, wenn man dem Aufrührer nicht beizeiten die Faust aufs Auge setzte. Und er flößte allen solche Angst ein, daß Boisgelin, von Unruhe ergriffen, eine beruhigende Erklärung Delaveaus herausforderte.
»Der Mann ist bereits getroffen«, sagte der Direktor. »Das Gedeihen der Crêcherie ist nur scheinbar, und ein starker Stoß würde genügen, um alles zum Einsturz zu bringen. So hat mir meine Frau von einem kleinen Vorfall erzählt ...«
»Jawohl«, fiel Fernande mit nervös zuckendem Munde ein, glücklich, sich ein wenig Luft machen zu können, »ich habe es von meiner Wäscherin gehört. Sie kennt Ragu, einen unserer ehemaligen Arbeiter, der uns verlassen hat, um in die neue Fabrik einzutreten. Nun schreit aber dieser Ragu überall, daß er genug hat von ihrer öden Bude, daß man da vor Langerweile stirbt, daß er das nicht allein findet, und daß sie eines schönen Morgens alle hierher zurückkommen werden. Ach, wenn ich es nur schon erlebt hätte, daß einer den ersten Stoß gegen diesen Lucas führt und ihn zu Boden streckt!«
»Nun«, sagte Boisgelin, »wir haben ja den Prozeß Laboque. Ich hoffe, daß der genügen wird, um ihm den Rest zu geben.«
Wieder trat ein Stillschweigen ein, während gebratene Ente herumgereicht wurde. Von dem Prozeß Laboque, der den eigentlichen Anlaß dieses freundschaftlichen Mahles bildete, hatte bisher niemand zu sprechen gewagt, angesichts des Schweigens, das der Präsident Gaume bewahrte. Er aß wenig, denn sein verborgener Kummer hatte ihm ein Magenleiden zugezogen, und er begnügte sich, den anderen zuzuhören, indem er sie mit seinen grauen, kalten Augen ansah, in denen er keinen Gedanken lesen ließ. Man hatte ihn noch nie so wenig mitteilsam gesehen, und es verbreitete sich deswegen eine Art von Verlegenheit. Jeder hätte gern gewußt, wie er mit ihm daran sei, hätte gern von ihm selbst die Bestätigung gehört, daß er den Feind verurteilen werde. Obgleich sich niemand überhaupt vorstellen konnte, daß er zugunsten jenes Mannes urteilen würde, so hätte man doch gewünscht, daß er so taktvoll sei, der Gesellschaft durch ein entscheidendes Wort Gewißheit zu geben.
Wieder schritt der Hauptmann zum Angriff.
»Das Gesetz besagt doch klar und deutlich, daß jeder Schaden durch den Schuldigen ersetzt werden muß, nicht wahr, Herr Präsident?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Gaume.
Man erwartete mehr, aber er schwieg. Darauf ergingen sich die anderen in einer heftigen Besprechung der Angelegenheit des Clouque, um den Präsidenten zu einer entscheidenden Parteinahme zu drängen. Der abscheuliche Bach wurde zu einer der Zierden Beauclairs, es war unerhört, daß man einer Stadt so das Wasser wegnahm, und schon gar, um es den Bauern zu geben, nachdem man diesen den Kopf derart verdreht hatte, daß ihr Dorf zu einem Herd wilder Anarchie wurde, von dem aus die Ansteckung sich über die ganze Gegend verbreiten konnte. Die ganze Angst der bürgerlichen Klasse kam zum Vorschein, denn die alte und geheiligte Einrichtung des persönlichen Eigentums war sehr krank, wenn die Söhne der starrköpfigen Bauern von einst schon so weit gekommen waren, ihre kleinen Bodenlappen zusammenzulegen. Es war höchste Zeit, daß die Justiz sich da ins Mittel legte und einem solchen Skandal ein Ende machte.
»Wir können übrigens ganz ruhig sein«, sagte Boisgelin endlich in einschmeichelndem Tone; »die Sache der Allgemeinheit befindet sich in guten Händen. Nichts steht höher als das nach freiem Ermessen von einem gerechten Richter gesprochene Urteil.«
»Selbstverständlich«, sagte Gaume wieder undurchdringlich. Mit diesem vieldeutigen Wort, aus dem sie die Verurteilung Lucas' heraushören wollten, mußten die Anwesenden sich zufrieden geben. Das Mahl ging zu Ende, auf den russischen Salat folgte nur noch Fruchteis und das Dessert. Die Behaglichkeit der Sättigung machte sich geltend, es herrschte allgemeine Heiterkeit und Siegeszuversicht. Und als man sich in den Salon begeben hatte, um den Kaffee zu nehmen, und das Ehepaar Mazelle eintraf, empfing man sie wie immer mit nur ganz leicht von Spott durchsetzter Zärtlichkeit, denn diese lieben Leute, die ideale Verkörperung des behaglichen Nichtstuns, taten allen Herzen wohl. Die Krankheit von Frau Mazelle war nicht besser, aber sie erzählte froh, daß ihr der Doktor Novarre neue Mittel verschrieben habe, durch die sie nun straflos alles essen dürfe. Nur diese schrecklichen Geschichten von der Crêcherie, diese Drohungen mit der Aufhebung der Rente und der Abschaffung des Erbrechts verdarben ihr noch den Appetit. Aber wozu von unangenehmen Dingen reden? Und Mazelle, der zärtlich über sie wachte, bat die Anwesenden stumm durch Augenzeichen, nicht mehr diese entsetzlichen Themen zur Sprache zu bringen, die die schwankende Gesundheit seiner Frau gefährdeten. Man willfahrte ihm gern, man genoß in vollen Zügen das glückliche Leben, das Leben des Reichtums und Genusses, dessen Köstlichkeiten hier geboten waren.
Endlich war der Tag des Prozesses da, und der Haß und die Wut hatten sich noch gesteigert. Noch nie war Beauclair von so heftigen Leidenschaften durchtobt worden. Lucas war zuerst nur erstaunt gewesen und hatte gelacht. Die Klage Laboques hatte ihn lediglich heiter gestimmt, um so mehr als der Entschädigungsanspruch von fünfundzwanzigtausend Frank ihm unhaltbar schien. Wenn der Clouque versiegt war, so war es sehr schwer, nachzuweisen, daß die Ursache darin lag, daß die Quellen auf der Crêcherie gefaßt und vereinigt worden waren. Überdies gehörten die Quellen zum Besitz, sie waren freies, von keiner Abgabe belastetes Eigentum Jordans, und er konnte damit nach seinem Gutdünken schalten. Andererseits hätte Laboque den Schaden, der ihm angeblich zugefügt worden war, mit Tatsachen belegen müssen. Er versuchte dies allerdings, aber in so schwacher, unzulänglicher Weise, daß kein Gericht der Welt ihm Recht geben konnte. Viel eher, sagte Lucas scherzend, hätte er selbst das Recht, von der Stadt einen Kostenbeitrag zu verlangen, eine Belohnung dafür, daß er die Bewohner von dem verpesteten Wasser befreit habe, über das sie so oft geklagt hatten. Die Stadt brauchte den Graben nur zuzuschütten und den dadurch gewonnenen Baugrund zu verkaufen, um ein glänzendes Geschäft zu machen und ihren Säckel um einige hunderttausend Frank zu bereichern. Er lachte daher und wollte es nicht glauben, daß eine solche Klage ernst zu nehmen sei. Erst als er des heftigen Grolles inne wurde, der gegen ihn herrschte, als er die Feindseligkeit von allen Seiten sich gegen ihn erheben sah, wurde er sich des Ernstes der Lage bewußt und sah die Todesgefahr, von der sein Werk bedroht war.
Dies war ein erster schmerzlicher Schlag für Lucas. Sein Apostel-Optimismus war allerdings nicht so naiv, daß er die Bosheit der Menschen nicht gekannt hätte. Als er den Kampf gegen die alte Welt aufnahm, hatte er sich wohl gedacht, daß diese den Platz nicht räumen werde, ohne sich zu empören und sich zu wehren. Und er war bereit für den Leidensweg, den er voraussah, für die Steine und den Kot, mit denen die undankbare Menge die Reformatoren bewirft. Aber sein Herz zitterte, er fühlte all das bittere Leid nahen, das Dummheit, Grausamkeit und Verräterei verursachen sollten. Er sah mit einem Male, daß hinter dem Angreifer Laboque der ganze Kleinhandel, die ganze Bürgerschaft, alle Besitzenden standen, die nichts von ihrem Besitz preisgeben wollten. Sein praktischer Versuch der Beteiligung und Genossenschaft bedeutete eine solche Gefahr für die kapitalistische, auf dem Lohnsklaventum beruhende Gesellschaft, daß er für sie zum gemeingefährlichen Menschen wurde, den es um jeden Preis unschädlich zu machen galt. Die Hölle, die Guerdache, die Stadt, die Macht in allen ihren Formen, die kirchliche, die städtische, die staatliche, sie alle erhoben sich gegen ihn, kämpften gegen ihn, wollten ihn vernichten. Der bedrohte Eigennutz aller vereinigte alle, so daß sie einander unterstützten, einander in die Hände spielten, ihn mit einem solchen Netz von Fallstricken, Fußangeln und Hinterhalten umgaben, daß er fühlte, der kleinste Fehltritt müßte sein Verderben sein. Wenn er fiel, stürzte sich die ganze Meute auf ihn und zerfleischte ihn. Er kannte sie alle, er hätte sie alle beim Namen nennen können, die Würdenträger, die Kaufleute, die kleinen Rentner mit den harmlosen Gesichtern, die ihn bei lebendigem Leibe hätten zerreißen mögen, wenn sie ihn an einer Straßenecke hätten umstürzen sehen. Mit kraftvoller Anstrengung unterdrückte er das schmerzliche Erzittern seines Herzens und wappnete sich für die Schlacht, indem er sich sagte, daß keine Schöpfung ohne Kampf möglich sei, und daß die großen menschlichen Werke stets mit dem Blute ihres Meisters gekittet werden mußten.
An einem Dienstag, einem Markttag, wurde der Prozeß vor dem Zivilgericht eröffnet, dem Gaume präsidierte. Beauclair war fieberhaft erregt, und die aus den Nachbardörfern herbeigeströmten Marktbesucher steigerten noch das bewegte Leben auf dem Rathausplatze und in der Rue-de-Brias. Von unruhiger Sorge erfüllt, hatte Soeurette Lucas gebeten, sich von einigen kräftigen Freunden begleiten zu lassen. Aber er weigerte sich beharrlich. Er wollte allein zu Gericht gehen, ebenso wie er sich allein, verteidigen wollte und einen Anwalt nur der Form wegen genommen hatte. Als er den kleinen und bereits von einer lärmenden Zuhörerschaft erfüllten Gerichtssaal betrat, wurde es plötzlich still, und alle Blicke richteten sich auf ihn mit der Neugierde, mit der die Menge das einzelne, wehrlose Opfer empfängt, das sich ihrer Wut darbietet. Sein gelassener Mut erbitterte seine Feinde nur noch mehr, sie fanden ihn herausfordernd und unverschämt. Er stand ruhig vor seinem Sitz und sah unbefangen auf all die Leute, die sich hier drängten, erkannte Laboque, Dacheux, Caffiaux und andere Kaufleute inmitten der für ihn namenlosen Menge, Reihen von Gesichtern wütender Feinde, die er nie gesehen hatte. Und er empfand eine kleine Erleichterung, als er bemerkte, daß die Freunde der Guerdache wenigstens den guten Geschmack besessen hatten, nicht auch mit anzusehen, wie er den wilden Tieren vorgeworfen wurde. Man erwartete lange und heftige Reden und Gegenreden. Aber diese Erwartung wurde nicht erfüllt. Laboque hatte einen jener Provinzanwälte gewählt, die wegen ihrer Bosheit bekannt sind und den Schrecken einer ganzen Gegend bilden. Und der beste Augenblick für die Feinde Lucas' war in der Tat das Plädoyer dieses Mannes, der seine ganze Kunst darauf verwandte, die auf der Crêcherie versuchten Neuerungen lächerlich zu machen. Er erregte große Heiterkeit mit einem Bilde voll giftigen Spottes, das er von der künftigen Gesellschaft entwarf, und er rief laute Entrüstung hervor, als er schilderte, wie die Kinder beiderlei Geschlechtes sich von Jugend auf gegenseitig moralisch verderben würden, wie die heilige Einrichtung der Ehe beseitigt, die Liebe zur Bestialität herabsinken würde, indem die Paare sich in schrankenloser Wahl vereinigten und nach dem Genuß einer Stunde wieder verließen. Trotzdem war der allgemeine Eindruck der, daß er das entscheidende Argument oder Schmähwort nicht gefunden habe, den wuchtigen Schlag, der eine Sache gewinnt, einen Menschen zerschmettert. Als Lucas dann das Wort ergriff, herrschte große Unruhe, und fast alles, was er sagte, wurde mit Murren begleitet. Er sprach sehr schlicht, antwortete gar nicht auf die Angriffe gegen sein Werk, sondern beschränkte sich darauf, mit zwingenden Gründen nachzuweisen, daß Laboques Ansprüche vollkommen unbegründet seien. Hatte er nicht vielmehr Beauclair einen Dienst erwiesen, hatte er nicht zur Gesundung der Stadt beigetragen, indem er den verpesteten Clouque trocken legte und der Stadt kostenlos große Baugründe verschaffte? Aber bei alledem war es überhaupt gar nicht sicher, daß die auf der Crêcherie ausgeführten Arbeiten das Versiegen des Baches herbeigeführt hätten, und er wartete noch darauf, daß man ihm den Beweis dafür liefere. Als er zum Schlusse kam, brach etwas von der Bitterkeit seines wunden Herzens aus ihm hervor, und er sagte, wenn er auch niemandes Dank verlange für das, was er bereits Nützliches geschaffen zu haben glaube, so wäre er doch sehr zufrieden, wenn man ihn sein Werk in Frieden vollenden ließe, ohne ihm böse Händel anzuhängen. Zu wiederholten Malen hatte der Präsident Gaume den Zuhörern Stille gebieten müssen. Und als auch der Staatsanwalt in absichtlich verworrener Weise gesprochen und beiden Parteien recht und unrecht gegeben hatte, erwiderte der Anwalt Laboques in so heftiger Weise und erregte einen solchen Sturm von Ausrufen, indem er Lucas zum Anarchisten stempelte, der den Untergang der Stadt plane, daß der Präsident mit Räumung des Saales drohen mußte, wenn derlei Kundgebungen sich wiederholten. Dann bestimmte er eine Frist von vierzehn Tagen für die Urteilsverkündigung.
Vierzehn Tage später war die Aufregung noch gestiegen, und auf dem Markte entstanden Streit und Prügeleien aus den Gesprächen über das zu erwartende Urteil. Fast alle waren jedoch überzeugt, daß der Beklagte zu einer schweren Strafe, zehn- bis fünf zehntausend Frank Schadenersatz und außerdem zur Wiederherstellung des früheren Zustandes würde verurteilt werden. Nur einige wenige schüttelten den Kopf und sagten, man könne gar nichts vorher sagen, die Haltung des Präsidenten Gaume während der Plädoyers hatte ihnen nicht sehr gefallen. Man erklärte den Präsidenten für ein Original, man bezweifelte sogar, ob er bei vollem Verstände sei, seitdem man ihn so düster und verschlossen, von so krankhafter Genauigkeit in der Anwendung der Gesetze sah. Eine andere Quelle der Beunruhigung war, daß er sich seit dem Tage der Verhandlung in sein Haus eingeschlossen hatte, indem er ein Unwohlsein vorschützte. Die Leute sagten aber, daß er sich vollkommen wohl befinde, daß er sich lediglich jeder Beeinflussung entziehen und niemand empfangen wolle, damit niemand das Urteil seines richterlichen Gewissens trübe. Was tat er hinter verschlossenen Fenstern und Türen in seinem einsamen Hause, in das selbst seine Tochter nicht kommen durfte? Welcher moralische Kampf, welches Seelendrama spielte sich in diesem Manne ab, in dem alles vernichtet war, was er geliebt und woran er geglaubt hatte? Das Urteil sollte um Mittag bei Beginn der Sitzung verkündet werden. Der Saal war noch voller, noch lärmender, noch erhitzter als am ersten Tage. Alle Feinde Lucas' waren gekommen, um seiner Niederlage beizuwohnen. Und er hatte in seiner Furchtlosigkeit auch diesmal nicht geduldet, daß ihn jemand begleite, er wollte allein vor den Richter treten und seine Mission des Friedens verkünden. Vor seinem Platze stehend, sah er mit gelassenem Lächeln in den vollen Zuschauerraum, ohne zu ahnen, daß alle diese Erregung sich gegen ihn richtete. Pünktlich zur festgesetzten Stunde erschien der Präsident, hinter ihm die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt. Der Gerichtsdiener hatte nicht nötig, Stille zu gebieten, alles war plötzlich verstummt, die vor Neugierde glühenden Gesichter streckten sich vor. Der Präsident hatte Platz genommen. Dann erhob er sich, die Urteilsschrift in der Hand, und stand einen Augenblick schweigend, den Blick über die Menge hinaus ins Weite gerichtet. Endlich begann er mit langsamer, tonloser Stimme zu lesen. Es war ein sehr langes Schriftstück, die »In Anbetracht, daß« folgten einander mit eintöniger Regelmäßigkeit, drehten die strittigen Fragen nach allen Seiten, bemühten sich, die geringfügigsten Einwendungen zu erledigen. Die Anwesenden hörten zu, ohne recht zu verstehen, ohne den Schluß erraten zu können, denn Für und Wider zog in bunter Reihe dicht aneinandergedrängt vorbei. Es schien jedoch allmählich immer mehr, als ob der Standpunkt Lucas' gutgeheißen würde, es hieß, daß niemandem ein tatsächlicher Schaden zugefügt worden sei, daß jeder Grundeigentümer das Recht habe, auf seinem Besitz beliebige Arbeiten vornehmen zu lassen, wenn kein öffentliches Recht ihm im Wege stehe. Und endlich das Urteil: Lucas war freigesprochen.
Einen Augenblick verharrten die Anwesenden in betäubtem Schweigen. Dann, als sie sich des Geschehenen vollständig bewußt wurden, brachen sie in Schmähworte und heftige Drohungen aus. Man entriß der fieberisch erregten, seit Monaten durch Lügen aller Art aufgestachelten Menge das Opfer, das man ihr versprochen hatte. Und sie wollte es nun, sie begehrte es heftig, um es zu zerreißen, da eine offenbar gekaufte Justiz es ihr unterschlagen wollte. War Lucas nicht der gemeingefährliche Feind, der fremde Eindringling, der von weiß Gott wo hergekommen war, um Beauclair zu verderben, den Handel zugrunde zu richten und den Bürgerkrieg zu entfachen, indem er die Arbeiter gegen die Herren aufhetzte? Hatte er nicht mit teuflischer Bosheit der Stadt das Wasser gestohlen, einen Bach abgeleitet, dessen Verschwinden ein Unglück für alle an den Ufern Wohnenden war? Diese Anklagen hatte das »Journal de Beauclair« jede Woche wiederholt, sie mit giftigen Kommentaren begleitet, sie in die dicksten Schädel hineingehämmert, in allen das Verlangen nach unaufschiebbarer Vergeltung erweckt. Die Vornehmen, die Bewohner des reichen Viertels trugen sie unter die kleinen Leute, verbreiterten und erläuterten sie, unterstützten sie mit dem Gewicht ihres Einflusses und ihres Vermögens. Und die kleinen Leute, verblendet und aufgestachelt, waren trunken vor Wut und verlangten die Verurteilung des Übeltäters. Fäuste wurden emporgestreckt, Schreie wurden laut: »Erschlagt ihn, erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter!« Sehr bleich, mit steinernem Gesicht, stand der Präsident inmitten des Lärmes. Er wollte sprechen, wollte den Befehl geben, den Saal zu räumen, aber er mußte darauf verzichten, sich Gehör zu verschaffen. So beschränkte er sich darauf, die Sitzung zu schließen und sich würdevoll zurückzuziehen, mit ihm die Beisitzer und der Staatsanwalt.
Lucas hatte lächelnd und ruhig auf seinem. Platze gesessen. Das Urteil hatte ihn ebenso überrascht wie seine Feinde, denn er wußte sehr wohl, in welcher vergifteten Atmosphäre der Präsident lebte, und er glaubte, daß dieser nicht imstande sein werde, Gerechtigkeit zu üben. Es war ihm ein starker Trost, unter so vielen menschlichen Niedrigkeiten einen gerechten Mann zu finden. Aber als die wütenden Schreie losbrachen, wurde sein Lächeln traurig. Was hatte er ihnen denn getan, diesen Kleinbürgern, diesen Kaufleuten, diesen Arbeitern? Hatte er nicht das Wohl aller gewollt, war nicht all sein Mühen darauf gerichtet, daß alle Menschen glücklich werden, einander lieben, als Brüder miteinander leben sollten? Und die Fäuste erhoben sich gegen ihn, Schreie gellten ihm in die Ohren: »Erschlagt ihn, erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter!« Dieses arme, verirrte, durch Lügen verhetzte Volk bereitete ihm tiefen Schmerz, denn er liebte es trotz allem zärtlich. Aber er hielt seine Tränen zurück, er wollte aufrecht bleiben, stolz und mutig der Beleidigung die Stirn bieten. Die Menge, die sich verhöhnt glaubte, hätte vielleicht alle Schranken durchbrochen, wenn es den Beamten nicht endlich gelungen wäre, sie hinauszudrängen und die Türen zu schließen. Der Gerichtsschreiber bat Lucas im Namen des Präsidenten, nicht gleich fortzugehen, um ein Unglück zu vermeiden, und bewog ihn schließlich zu dem Versprechen, daß er eine kleine Weile beim Türhüter warten wolle, bis die Menge sich verlaufen habe.
Aber es erfüllte Lucas mit brennender Scham, sein ganzes Wesen empörte sich, daß er sich so verbergen sollte. Er verbrachte bei diesem Türhüter die peinlichste Viertelstunde seines Lebens, er empfand es als eine Feigheit, daß er nicht der Menge offen entgegengetreten war, er konnte sich nicht in die Rolle eines ängstlichen Schuldigen finden, die ihm da aufgezwungen wurde. Und als die Umgebung des Gerichtsgebäudes ruhig schien, wollte er nichts mehr hören und bestand darauf, ruhig zu Fuß nach Hause zu gehen, ohne jede Begleitung. Er war allein gekommen, er wollte allein fortgehen. In der Hand trug er nur einen leichten Spazierstock, und er bedauerte es, selbst diesen mitgenommen zu haben, weil er fürchtete, daß man vermuten könnte, er habe sich irgendwie zu seiner Verteidigung bewaffnen wollen. Langsamen Schrittes ging er seines Weges, der ihn durch ganz Beauclair führte, und niemand schien ihn zu bemerken, bis er den Rathausplatz erreichte. Die Leute, die der Verhandlung beigewohnt hatten, waren, nachdem sie ihn kurze Zeit erwartet hatten, überzeugt gewesen, daß er erst nach Stunden das Gerichtsgebäude verlassen werde, und hatten sich zerstreut, um die Neuigkeit von dem Urteilsspruch überall zu verbreiten. Aber auf dem Rathausplatze, wo der Markt stattfand, wurde Lucas erkannt. Man deutete auf ihn, die Leute flüsterten einander zu, einige begannen ihm zu folgen, noch ohne böse Absicht, bloß um zu sehen, was geschehen würde; Es gab da hauptsächlich Bauern, Marktkäufer, Neugierige, die nicht an dem Streit beteiligt waren. Und die Sache nahm erst eine andere Wendung, als er die Ecke der Rue-de-Brias erreichte, an der Laboque vor seinem Laden, außer sich vor Wut über seine Niederlage, inmitten einer Gruppe von Zuhörern seinen Gefühlen Luft machte.
Alle Kaufleute, alle Ladeninhaber der Nachbarschaft waren zu Laboque gelaufen, im Augenblick, als sie von dem Unglück erfuhren. Wie? Es war also wahr, die Crêcherie sollte sie weiter ungestört mit ihren Genossenschaftsgeschäften zugrunde richten, und die Justiz gab ihr recht? Caffiaux sah niedergeschlagen aus und hing schweigend seinen Gedanken nach, die er für sich behielt. Aber Dacheux war einer der heftigsten, mit hochrotem Gesicht verteidigte er das Fleisch der Reichen, das heilige Fleisch, und schwor, lieber alles umzubringen als seine Preise um einen Heller zu ermäßigen. Frau Mitaine war nicht da. Sie war nie mit dem Prozeß einverstanden gewesen, und sie erklärte ganz einfach, daß sie ihr Brot verkaufen werde, solange man es ihr abkaufe, und nachher werde sie schon sehen. Laboque erzählte, flammend vor Entrüstung, eben zum zehntenmal einem neuen Ankömmling von dem schändlichen Verrat des Präsidenten Gaume, als er plötzlich Lucas erblickte, der gelassen auf den Eisenwarenladen zukam, dessen Untergang er herbeiführte. Diese Kühnheit brachte Laboque ganz außer Fassung, er war beinahe im Begriff, sich auf den Verhaßten zu stürzen, er knurrte, fast erstickend vor ohnmächtiger Wut: »Erschlagt ihn, erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter!« Als Lucas den Laden erreicht hatte, begnügte er sich, ohne anzuhalten, einen flüchtigen, ruhigen Blick auf die erregte Gruppe zu werfen, aus der die halblauten Verwünschungen Laboques zu hören waren. Das genügte, daß alle sich für herausgefordert hielten, ein vielstimmiger Ruf erhob sich, der alsbald zum Sturme anschwoll: »Erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter! Schlagt ihn tot!« Lucas setzte jedoch, als ob dies alles ihn nichts anginge, gelassen seinen Weg fort, indem er unbefangen nach rechts und links blickte, wie ein Passant, den der Anblick der Straße interessiert. Fast alle, die vor Laboques Laden gestanden hatten, folgten ihm und schrien immer lauter, immer wilder: »Erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter! Erschlagt ihn!«
Und der Ruf verstummte nicht mehr, er schwoll immer mehr an, je weiter Lucas die Rue-de-Brias langsamen Schrittes hinaufging. Aus jedem Laden kamen Kaufleute heraus und schlossen sich den Schreienden an. Frauen traten an die Türen und riefen ihm Schimpfworte nach. Manche gesellten sich, von Wut erfaßt, den Männern zu, liefen hinter ihm drein und schrien gleich den anderen: »Erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter! Erschlagt ihn!« Er sah ein junges, hübsches, blondes Weib, die Frau eines Obsthändlers, die ihre weißen Zähne unter Verwünschungen gegen ihn fletschte und ihn mit ihren rosigen Nägeln bedrohte, als wollte sie ihn zerreißen. Auch Kinder liefen mit, und eines darunter, ein kaum sechsjähriger Knirps, schrie aus vollem Halse und lief dem Herrn beinahe zwischen die Beine, um nur ja besser von ihm gehört zu werden: »Erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter! Erschlagt ihn!« Armer kleiner Junge, wer hat dich schon den Schrei des Hasses gelehrt? Es wurde noch schlimmer, als Lucas weiter oben in der Straße an den Fabriken vorüberkam. Arbeiterinnen der Schuhfabrik Gourier erschienen an den Fenstern, klatschten in die Hände und stimmten in die Schreie ein. Ja, selbst die Arbeiter der Fabriken von Chodorge und Mirande, die rauchend auf der Straße standen und das Glockenzeichen zum Wiederbeginn der Arbeit erwarteten, beteiligten sich in der Geistesstumpfheit ihres Sklaventums an der Kundgebung. Ein kleiner magerer Mensch mit roten Haaren und großen trüben Augen gebärdete sich wie toll, rannte und schrie stärker als alle anderen: »Erschlagt ihn, den Räuber, den Menschenvergifter! Erschlagt ihn!«
Oh, dieser Weg durch die Rue-de-Brias, mit der immer mehr anschwellenden Menge von Feinden auf den Fersen, unter der schmutzigen Flut der Schmähungen und Drohungen! Lucas erinnerte sich des Abends nach seiner Ankunft in Beauclair vor vier Jahren, als die schwarze Menge der Enterbten, der Hungernden in dieser selben Straße ihn mit so tatbereitem Mitleid erfüllt hatte, daß er sich zugeschworen hatte, sein Leben dem Heile der Elenden zu widmen. Was hatte er denn getan in diesen vier Jahren, daß so viel Haß sich gegen ihn aufgehäuft hatte, daß die wütende Menge ihn nun schreiend, seinen Tod verlangend, verfolgte? Er hatte sich zum Apostel der Zukunft gemacht, zum Vorkämpfer einer auf Gemeinsamkeit und Brüderlichkeit beruhenden Gesellschaft, in der die Arbeit die Verteilung der Güter regeln sollte. Er hatte das Beispiel gegeben, diese Crêcherie, die den Keim des Reiches der Zukunft bildete, wo bereits soviel Gerechtigkeit und Glück herrschte, wie unter den gegebenen Verhältnissen möglich war. Und das reichte hin, um ihn der ganzen Stadt als einen Missetäter erscheinen zu lassen, um die ganze Meute gegen ihn zu hetzen, die ihn nun heulend verfolgte. Welche Bitterkeit, welche Schmerzen auf diesem Passionsweg, den jeder Gerechte zurücklegen muß, unter den Stößen und Schlägen gerade derer, die er erlösen wollte! Diese Bürger, deren sorglose Verdauung er störte, er verzieh ihnen, daß sie ihn haßten, in ihrer Angst, daß sie auf einen Teil ihrer egoistischen Genüsse sollten verzichten müssen. Er verzieh auch den Kaufleuten, die sich durch ihn zugrunde gerichtet glaubten, während er lediglich eine bessere Verwendung der sozialen Kräfte erstrebte, damit das Vermögen der Allgemeinheit nicht unnütze Verluste erleide. Ja, auch ihnen, den Arbeitern, verzieh er, die er aus dem Elend retten wollte, für die er unter soviel Mühen seine Stadt der Gerechtigkeit baute, und die ihn verfolgten und beschimpften, so hatte man ihren Verstand verdüstert und ihre Herzen vergiftet. Sie bildeten die unwissende Menge, die sich gegen den empörte, der ihr Bestes will, die die Galeerenbank, an die sie geschmiedet ist, nicht verlassen will, die sich in ihren jahrhundertealten Zustand des Hungers und des Schmutzes eingräbt und sich Augen und Ohren verstopft gegen das Licht und den Ruf einer besseren Zeit. Aber wenn er ihnen auch verzieh in seiner leidenden Menschlichkeit, wie blutete sein Herz, sie unter den rohesten Schmähern zu sehen, diese Arbeiter, aus denen er mit allen seinen Kräften die Edlen, die Freien, die Glücklichen der Zukunft zu machen strebte!
Lucas schritt immer weiter, die Rue-de-Brias wollte kein Ende nehmen, und die entfesselte Meute hatte sich noch verstärkt, unaufhörlich erschollen die Schreie: »Schlagt ihn tot, den Räuber, den Menschenvergifter! Schlagt ihn tot!«
Einmal wandte er sich um und sah seine Verfolger an, damit sie nicht etwa glaubten, daß er fliehe. Vor einem Neubau lag ein Haufen Steine, ein Mann bückte sich, hob einen Stein auf und warf ihn nach ihm. Sogleich folgten andere seinem Beispiel und es regnete Steine.
Nun steinigten sie ihn sogar. Er machte keine Bewegung der Abwehr, er ging weiter. Seine Hände waren leer, er hatte keine andere Waffe als den leichten Spazierstock, den er unter den Arm nahm. Er bewahrte seine volle Ruhe, ihn erfüllte die Zuversicht, daß seine Mission ihn unverletzlich mache, wenn es ihm bestimmt sei, sie zu erfüllen. Nur sein gequältes Herz litt schrecklich unter soviel Verblendung und Wahnwitz. Tränen füllten seine Augen, und er mußte alle Kraft aufbieten, daß sie ihm nicht über die Wangen herabrollten.
Ein Stein traf ihn an der Ferse, ein anderer streifte ihn an der Hüfte. Das Werfen war zur Unterhaltung geworden, und die Kinder beteiligten sich daran. Aber sie waren ungeschickt, und die Steine sprangen am Boden hin. Zweimal jedoch flogen sie so nahe an seinem Kopfe vorbei, daß man glauben konnte, er sei getroffen worden. Er drehte sich nicht mehr um, er verfolgte seinen Weg durch die Rue-de-Brias in dem ruhigen Schritte eines heimkehrenden Spaziergängers. In seinem Schmerz über eine so schmähliche Undankbarkeit schien er nichts mehr von dem wissen zu wollen, was hinter ihm vorging auf diesem Wege durch die lange Leidensstraße, auf der er sein Martyrium erlitt. Da traf ihn ein Stein und verwundete ihn am rechten Ohr, und gleich darauf einer an der linken Hand, der die Haut aufschnitt wie mit einem Messer. Und das Blut rieselte in großen roten Tropfen herab.
Ein Rückschlag wirkte auf die Menge. Einige verließ der Mut, und sie liefen davon. Frauen schrien auf und trugen ihre Kinder weg. Nur die Wütendsten verfolgten ihr Opfer weiter. Lucas setzte seinen Leidensweg fort und betrachtete bloß seine verwundete Hand. Er zog sein Taschentuch hervor, wischte sich das Ohr ab und wickelte das Tuch um seinen verwundeten Daumen. Aber er hatte seinen Schritt noch verlangsamt, er fühlte seine Verfolger näherkommen, und er wandte sich ein letztes Mal um, als er den glühenden Hauch der Meute im Nacken spürte. Voran lief wutentbrannt der kleine, magere Arbeiter mit den roten Haaren und den vorquellenden trüben Augen. Es hieß, er sei ein Schmied aus den Qurignonschen Werken. Er machte einen letzten Satz auf den Mann hin, den er seit dem Beginn der Straße verfolgte, und in der sinnlosen Tollheit seines Hasses, dessen Ursache er wohl nicht hätte angeben können, spie er ihm ins Gesicht.
Lucas, der endlich auf der Höhe der Straße angelangt war, taumelte zurück unter der abscheulichen Beschimpfung. Er wurde furchtbar bleich, richtete sich hoch auf, und unwillkürlich erhob sich seine rechte, gesunde Faust, um die Schmach zu rächen. Er hätte mit einem einzigen Schlage den kleinen Mann zu Boden schmettern können wie ein Riese einen elenden Zwerg. Aber in seiner Kraft bezwang sich Lucas mit übermenschlicher Anstrengung. Die Faust fiel nicht nieder. Nur zwei schwere Tränen rannen über seine Wangen herab, die Tränen unendlichen Kummers, die er bisher die Kraft gehabt hatte zurückzuhalten, die er aber nicht länger verbergen konnte, überwältigt von dem bitteren Gefühle über die Schmähungen, mit denen man ihn überhäufte. Er weinte über soviel Unwissenheit, über soviel Mißverständnis, über das unglückliche Volk, das nicht gerettet werden wollte. Die Verfolger grinsten ihn höhnisch an und blieben endlich zurück. Er ging nach Hause, blutbefleckt und einsam.
Am Abend wollte Lucas allein sein und schloß sich in dem kleinen Hause am Rande des Parkes ein, das er noch immer bewohnte. Sein Erfolg in dem Prozeß weckte keine zu großen Hoffnungen in ihm. Die schändlichen Gewalttaten vom heutigen Nachmittag, die Empörung der Menge gegen ihn ließen ihn erkennen, welcher Kampf ihm bevorstand, da die ganze Stadt sich wider ihn erhob. Es waren die letzten Krämpfe der sterbenden Gesellschaft, die nicht sterben wollte. Sie widerstand mit aller Kraft, sie wehrte sich wütend, in der Hoffnung, die Menschheit auf ihrem Wege aufhalten zu können. Die einen, die Despotischen, setzten ihr Heil in erbarmungslose Unterdrückung, die anderen, die Gefühlvollen, wiesen auf die Vergangenheit hin, auf die Poesie der Vergangenheit, auf alles, was der Mensch unter Tränen fahren läßt. Wieder andere, von Verzweiflung erfaßt, schlossen sich den Revolutionären an, um so schnell als möglich ein Ende zu machen. Und Lucas hatte heute Beauclair auf seinen Fersen gefühlt, das eine Welt im kleinen war, inmitten der großen Welt. Wenn er auch, trotz der schrecklichen Bitterkeit, die sein Herz erfüllte, tapfer blieb, entschlossen, im Kampfe auszuharren, so war er doch zum Sterben traurig, und er schloß sich heute abend ein, um seinen großen Kummer zu verwinden, den er niemand zeigen wollte. Während der seltenen Stunden seelischer Niedergedrücktheit zog er sich so in die Einsamkeit zurück und trank seine Leiden bis zur Neige, um erst genesen und im Vollbesitz seiner Kräfte wieder zu erscheinen. Er hatte also Türen und Fenster verschlossen und Auftrag gegeben, niemanden einzulassen.
Gegen elf Uhr glaubte er auf der Straße leichte Schritte zu hören. Dann drang ein leiser, kaum hörbarer Ruf zu ihm. Rasch öffnete er das Fenster und sah eine zarte, schattenhafte Gestalt, und eine leise Stimme rief:
»Herr Lucas, ich bin es, ich muß gleich mit Ihnen sprechen.«
Es war Josine. Ohne einen Augenblick zu zögern, eilte er hinab und öffnete die kleine Tür, die auf die Straße führte. Er geleitete sie hinauf und führte sie an der Hand in sein Zimmer, das heute so streng verschlossen geblieben war und in dem eine Lampe friedliches Licht verbreitete. Dann sah er sie an und erschrak heftig, denn ihr Kleid war zerrissen, und ihr Gesicht zeigte die Spuren von Schlägen.
»Mein Gott, Josine, was haben Sie? Was ist geschehen?«
Sie weinte, ihr aufgelöstes Haar fiel auf den zarten Hals, dessen Weiße aus dem abgerissenen Kragen hervorsah.
»Herr Lucas, ich muß Ihnen sagen ... nicht weil er mich wieder geschlagen hat ... aber er hat Drohungen ausgestoßen ... und ich wollte es Ihnen noch heute sagen ...«
Und sie erzählte, daß Ragu, als er gehört hatte, was in der Rue-de-Brias vorgegangen war und wie die Leute den Chef beschimpft hatten, in die Weinschenke Caffiaux' gegangen war und Bourron und andere Kameraden zum Mitgehen verleitet hatte. Eben erst war er betrunken heimgekehrt, hatte geschrien, daß er genug habe von der Mandelmilch in der Crêcherie, und daß er keinen Tag länger in dieser Bude bleibe, in der man sich zum Sterben langweile und nicht einmal das Recht habe, einmal ein Glas zuviel zu trinken. Dann, nachdem er sich in schmutzigen und gemeinen Redensarten ergangen hatte, wollte er sie zwingen, sofort einzupacken, um gleich morgen früh fortgehen und in die Hölle zurückkehren zu können, die alle Arbeiter aufnahm, die die Crêcherie verließen. Und da sie ihm nicht gleich den Willen tun wollte, hatte er sie geschlagen und hinausgeworfen.
»An mir liegt gar nichts, Herr Lucas. Aber Sie, du gütiger Gott, Sie beschimpft man, Ihnen will man soviel Böses zufügen! Ragu geht sicher morgen früh, er wird sich durch nichts abhalten lassen, und er wird Bourron mitführen und noch fünf oder sechs andere, die er nicht genannt hat. Ich, ach Gott, ich muß ja mit ihm gehen, und das alles tut mir so schrecklich weh, daß ich nicht anders konnte, ich mußte herkommen und Ihnen gleich alles sagen, denn vielleicht sehe ich Sie gar nicht mehr wieder!«
Er stand vor ihr und sah sie an, und eine neue Flut von Bitterkeit ergoß sich über sein Herz. War das Unglück also größer, als er geglaubt hatte? Nun verließen ihn auch die Arbeiter, kehrten zu ihrem harten und schmutzigen Elend zurück, empfanden Heimweh nach dem Sklavenleben, dem er sie mit soviel Anstrengung zu entreißen strebte! In vier Jahren hatte er weder in ihr Verständnis noch in ihre Zuneigung eindringen können. Und das schlimmste war, daß auch Josine nicht glücklich war, daß sie wieder zu ihm kam wie am ersten Tage, beschimpft, geschlagen, auf die Straße geworfen. Nichts war also getan, es blieb noch immer alles zu tun übrig, denn war Josine nicht das leidende Volk? Er hatte erst an dem Abend das gebieterische Bedürfnis nach tätigem Eingreifen gefühlt, da er sie so verlassen, so gepeinigt gefunden hatte, ein Opfer der verwünschten, wie ein Sklavendienst aufgezwungenen Arbeit. Sie war das demütigste, das armseligste der Geschöpfe, der tiefsten Erniedrigung nahe, und sie war zugleich die Schönste, die Sanfteste, die Heiligste. Solange das Weib duldete und litt, war die Welt nicht erlöst.
»Josine, Josine, wie betrübt bin ich, und wie leid tun Sie mir!« sagte er zärtlich.
Sie waren einander so nahe, daß jedes den Atem des anderen im Gesicht spürte. Und ihr gegenseitiges Mitleid erfüllte sie mit heiß aufwallender Zärtlichkeit, die nicht wußte, was sie beginnen sollte. Wie sie litt! Wie er litt! Er dachte nur an sie, und sie nur an ihn, jedes empfand nur das leidenschaftliche Begehren, dem anderen Linderung und Glück zu bringen.
»Ich bin nicht zu beklagen, Josine. Aber Sie, Ihr Leiden ist ein Verbrechen, und Sie will ich erretten.«
»Nein, nein, Herr Lucas, an mir liegt nichts, aber Sie sollen keinen Kummer haben, denn Sie sind unser guter Geist!«
Da sank sie in seine Arme, und er schloß sie stürmisch an seine Brust. Das Unvermeidliche vollzog sich, zwei Flammen vereinigten sich, lohten zusammen, um nur mehr ein einziges Feuer der Güte und Stärke zu sein. Ihr Schicksal erfüllte sich, sie gaben sich einander in dem gleichzeitigen Verlangen, Leben und Glück zu schaffen. Alles hatte sie auf diesen Augenblick hingeführt, sie übersahen mit einem Blick den ganzen Weg, den ihre Liebe zurückgelegt hatte, seitdem sie an jenem Abend in ihren Herzen entstanden und dann allmählich gewachsen war. Nun fanden sich ihre Lippen endlich in dem so lange erwarteten Kuß. Kein Vorwurf traf sie, sie liebten sich so selbstverständlich wie sie lebten, um gesund und stark und fruchtbar zu sein.
Als Lucas in seinem stillen Zimmer Josine lange in den Armen hielt, fühlte er, daß ihm eine große Stärkung zuteil geworden war. Nur die Liebe konnte die Eintracht in der Stadt der Zukunft schaffen. Sie war seine innige Vereinigung mit dem Volke der Enterbten, diese liebreizende Josine, die nun ganz sein geworden war. Der Bund war besiegelt, der Apostel in ihm konnte nicht unfruchtbar bleiben, und er bedurfte eines Weibes, um die Menschheit zu erlösen. Und welchen Trost, welche Erhebung brachte sie ihm, die arme beschmutzte und geschlagene Arbeiterin, die er dem Verhungern nahe gefunden hatte, und die nun, in dieser Stunde, an seiner Brust ein Weib voll Holdseligkeit und glühender Hingebung war! Sie hatte die tiefste Herabwürdigung erfahren, und sie sollte ihm helfen, eine neue, glänzende und glückliche Welt zu schaffen. Ihrer, ihrer allein hatte er bedurft, um seine Mission zu vollenden, denn an dem Tage, da er das Weib gerettet hatte, war die Welt gerettet.
»Gib mir deine Hand, Josine, deine arme verletzte Hand«, sagte er zärtlich.
Sie gab ihm ihre Hand, die, an der der Zeigefinger fehlte, der von einer Maschine weggerissen worden war.
»Sie ist sehr häßlich«, sagte sie leise.
»Häßlich? O nein, Josine, sie ist mir so teuer, daß ich von deiner ganzen geliebten Person sie mit der innigsten Zärtlichkeit küsse.«
Er drückte seine Lippen auf die Narbe, er bedeckte die kleine, verstümmelte Hand mit Küssen.
»O Lucas, wie liebst du mich, und wie liebe ich dich!«
Es war der Ausruf der Liebe, des Glückes und der Hoffnung, der aus ihrer Seele brach und sie beide in einer neuen Umarmung vereinigte. Von draußen kamen über dem in schwerem Schlaf liegenden Beauclair die Schläge der Hämmer herein, der Schall von Eisen auf Eisen aus der Crêcherie und aus der Hölle, wo die nächtliche Arbeit sich mühte. Noch war der Krieg nicht beendet, der schreckliche Kampf zwischen dem Gestern und dem Morgen flammte mit verdoppelter Heftigkeit auf. Aber mitten in den qualvollsten Stunden war eine Stunde schönsten Glückes erblüht. Und welche Leiden auch noch bevorstehen mochten, der unsterbliche Same der Liebe war ausgestreut, aus dem die Ernte der Zukunft aufgehen sollte.