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Am nächsten Morgen, am Sonntag, war Lucas gerade aufgestanden, als er einen freundschaftlichen Brief von Frau Boisgelin erhielt, die ihn auf die Guerdache zum Mittagessen einlud. Sie hatte erfahren, daß er in Beauclair sei, und da ihr bekannt war, daß die Geschwister Jordan erst am Montag heimkehren sollten, schrieb sie ihm, wie glücklich sie sein würde, ihn bei sich zu sehen und mit ihm wieder von den Pariser Tagen zu plaudern, da sie beide im Armenviertel in innigem Zusammenwirken eine weitreichende barmherzige Tätigkeit entwickelt hatten, von der sie mit niemand sonst sprachen. Und Lucas, der für diese Frau eine hochachtungsvolle Zuneigung empfand, antwortete auf der Stelle, daß er dankend annehme und um elf Uhr auf der Guerdache sein werde.
Nach dem wochenlangen Regen, der Beauclair überschwemmt hatte, war ein prächtiger Tag gekommen. Strahlend hatte die Septembersonne sich an einem fleckenlos blauen, wie von den Regengüssen reingewaschenen Himmel erhoben, und sie schien so warm, daß die Straßen bereits trocken waren. Lucas freute sich daher, die zwei Kilometer, die die Guerdache von der Stadt trennten, zu Fuß machen zu können. Als er gegen ein Viertel elf Uhr durch die Stadt kam, durch die neue Stadt, die sich vom Stadthausplatz bis an die Felder der Roumagne erstreckte, war er erstaunt über die schmucke Heiterkeit dieses reichen Viertels, und empfand stärker als je den schneidenden Gegensatz zu der trostlosen Traurigkeit des armen Viertels, das er gestern gesehen hatte. In dieser Neustadt befanden sich die Unterpräfektur, das Gerichtsgebäude und ein schönes Gefängnis, dessen Anstrich noch frisch war. Die Kirche von Saint-Vincent, ein schönes Bauwerk aus dem sechzehnten Jahrhundert, das sich zwischen der alten und neuen Stadt erhob, war erst kürzlich renoviert worden. Die Sonne vergoldete die hübschen Bürgerhäuser, und selbst der Rathausplatz am Ende der verkehrsreichen Rue-de-Brias, mit seinem weitläufigen alten Gebäude, das zugleich als Rathaus und als Schule diente, erhielt ein fröhliches Aussehen.
Lucas überschritt den Platz und erreichte bald das freie Feld durch die Rue-de-Formeries, die die gerade Fortsetzung der Rue-de-Brias bildete. Auf der Straße nach Formeries, fast an der Schwelle Beauclairs, lag die Guerdache. Er hatte keine Eile und schlenderte langsam, in Gedanken verloren, vor sich hin. Dann wandte er sich um und sah im Norden, jenseits der Stadt, deren Gebiet sich sanft abdachte, die mächtigen Hänge der Monts Bleuses, durchbrochen von der steilen Schlucht, aus der die Mionne sich ergoß. Hier lagen deutlich sichtbar die Gebäudemassen der Hölle mit ihren hohen Schornsteinen – eine ganze Industriestadt, die man übrigens von allen Punkten der Roumagne auf meilenweite Entfernung erblicken konnte. Lange sah Lucas hin. Dann, während er seinen Weg gegen die Guerdache, deren prächtige Bäume er schon aus der Ferne herüberwinken sah, langsamen Schrittes fortsetzte, rief er sich die Geschichte der Qurignons in Erinnerung, die Jordan ihm erzählt hatte.
Der Gründer der Werke, Blaise Qurignon, der einstige Streckarbeiter, hatte sich hier im Jahre 1823 mit seinen beiden Hämmern am Ufer der Mionne niedergelassen. Er beschäftigte nicht mehr als zwanzig Arbeiter, erwarb nur ein bescheidenes Vermögen und hatte lediglich neben den Werkstätten das kleine Haus bauen lassen, das Delaveau, der jetzige Direktor, noch heute bewohnte. Erst Jérôme Qurignon, der zweite dieses Namens, der im selben Jahre geboren wurde, in dem sein Vater ihr Reich begründete, war ein König der Industrie geworden. In ihm hatten sich die schöpferischen Kräfte langer, arbeitsamer Generationen, alle treibenden Keime, alle uralten Vorräte des Volkes aufgesammelt. Jahrhunderte und Jahrhunderte aufgespeicherter Energie, eine lange Reihe zäh nach dem Glücke strebender, verzweifelt im Finstern kämpfender und erschöpft ins Grab gesunkener Ahnen drangen endlich durch, liefen aus in diesem Triumphator, der achtzehn Stunden täglich arbeiten konnte, der über eine Tüchtigkeit, einen Scharfblick, eine Willenskraft verfügte, die alle Hindernisse überwanden. In weniger als zwanzig Jahren ließ er eine Stadt aus dem Erdboden wachsen, beschäftigte bis zu zwölfhundert Arbeiter, verdiente Millionen. Und da ihm das von seinem Vater gebaute Häuschen zu eng wurde, kaufte er für achtmalhunderttausend Frank die Guerdache, mit einem großen, prächtigen Wohnhaus, das für zehn Familien Raum bot, einem schönen Park, einigen Hektar Ackerfeldern und einem Pächterhof. Die Guerdache sollte, so rechnete seine stolze Sicherheit, der patriarchalische Familiensitz werden, auf dem seine Nachkommenschaft herrlich residieren würde. Er wollte ihnen für alle Zeiten eine Herrscherzukunft begründen durch die bezähmte, einer kleinen Zahl von Bevorzugten dienstbar gemachte Arbeit. Denn die lang aufgehäufte, nun mächtig hervorbrechende Kraft, die er in sich fühlte, war sie nicht unendlich, unerschöpflich, mußte sie sich nicht, selbst in verstärktem Maße, bei seinen Kindern zeigen, ohne sich durch lange Generationen hin zu vermindern? Da traf ihn, den Mann von Stahl, in noch jungen Jahren, als er zweiundfünfzig zählte, der erste Streich des Schicksals. Ein Schlaganfall beraubte ihn vollständig des Gebrauches beider Beine, und er mußte die Leitung der Werke an Michel, seinen ältesten Sohn, abtreten.
Michel Qurignon, der dritte des Namens, war eben dreißig Jahre alt geworden. Er hatte einen jüngeren Bruder, Philippe, der sich in Paris gegen den Willen seines Vaters mit einer sehr schönen, aber zügellosen Frau verheiratet hatte. Und zwischen den beiden Brüdern war eine Schwester, Laure, schon fünfundzwanzig Jahre alt, die ihren Eltern großen Kummer bereitete, durch die außerordentliche Frömmigkeit, der sie sich ergeben hatte. Michel selbst hatte sehr jung eine sanfte und zarte, etwas kränkliche Frau geheiratet, die ihm zwei Kinder, Gustave und Suzanne, fünf und drei Jahre alt, geschenkt hatte, als er plötzlich die Leitung der Werke übernehmen mußte. Es wurde festgesetzt, daß er die Direktion im Namen und im Interesse der ganzen Familie führen sollte, und jedem Mitgliede sollte dann sein Gewinnanteil nach einer im voraus vereinbarten Staffel zufallen. Obgleich ihm die bewunderungswürdigen Eigenschaften seines Vaters fehlten, obgleich er weder dessen unermüdliche Arbeitskraft, noch seinen durchdringenden Verstand, noch seine unvergleichliche Führergabe besaß, war er doch zuerst ein vorzüglicher Chef, und es gelang ihm, das Haus zehn Jahre hindurch auf gleicher Höhe zu erhalten, ja dessen Umfang sogar vorübergehend zu erweitern, indem er die alten Fabrikationseinrichtungen durch neue ersetzte. Aber bald trafen ihn traurige Ereignisse, die die kommenden Katastrophen anzukündigen schienen. Seine Mutter war tot, sein Vater, der im Rollwagen gefahren werden mußte, hatte sich in vollständige Stummheit verschlossen, seitdem ihm das Aussprechen mancher Worte Schwierigkeiten bereitete. Dann trat seine Schwester Laure, deren Geist vollständig in mystisch-religiöser Ekstase befangen war, in ein Kloster ein. Und aus Paris erreichten ihn höchst betrübende Nachrichten von seinem Bruder Philippe, dessen Frau ein immer skandalöseres Leben führte und auch ihren Mann so mitriß, daß er sich dem Spiele, allen möglichen Ausschweifungen und Tollheiten ergab. Endlich verlor er seine Frau, das zarte und sanfte Wesen, und dies war für ihn der schwerste Schlag von allen, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte und ihn fast jeden moralischen Halt verlieren ließ. Schon früher hatte er seinen Gelüsten nach hübschen Mädchen nachgegeben, aber nur in geringem Maße und in tiefstem Geheimnis, um die teure, stets leidende Frau nicht zu betrüben. Aber als sie nicht mehr war, fiel jede Schranke, er nahm das Vergnügen, wo er es fand, und verschwendete in flüchtigen Liebschaften den besten Teil seiner Zeit und seiner Kraft. Darüber verging eine weitere Zeit von zehn Jahren, während der die Werke langsam zurückgingen, an deren Spitze nicht mehr der siegende Feldherr aus der Zeit des mächtigen Aufschwungs stand, sondern ein schlaffer und schwelgerischer Chef, der den ganzen Ertrag verzehrte. Ein Fieber des Luxus hatte ihn ergriffen, Fest folgte auf Fest, das Vergnügen, der verschwenderische Lebensgenuß verschlang große Summen Geldes. Und zu allem Unglück trat zu diesen Ursachen des Ruines, der schlechten Führung, der täglich mehr abgeschwächten Geschäftsenergie, eine industrielle Katastrophe hinzu, die die ganze Metallindustrie der Gegend nahezu vernichtete. Die Fabrikation der billigen Sorten, der Schienen und Träger, wurde allmählich zur Unmöglichkeit gegenüber der erdrückenden Konkurrenz des Nordens und Ostens, die infolge eines neuen chemischen Verfahrens in der Lage waren, bis dahin brachliegende Minen mit geringen Kosten auszubeuten. In zwei Jahren fühlte Michel, daß die Werke zusammenzubrechen drohten. Und an dem Tage, an dem er für hinausgeschobene Verbindlichkeiten einer Summe von dreimalhunderttausend Frank bedurfte, die er nicht besaß und hätte borgen müssen, trieb ein abscheulicher Vorfall ihn zum Wahnsinn. Er war damals, im Alter von beinahe vierundfünfzig Jahren, mit Leib und Seele im Banne eines hübschen Mädchens, das er aus Paris mitgebracht und in Beauclair verborgen hatte. So sehr hielt ihn dieses Geschöpf gefangen, daß er oft dem tollen Traume nachgesonnen hatte, mit ihr in ein fernes, heiteres Land zu fliehen und dort, aller Mühen und Qualen ledig, nur der Liebe zu leben. Sein Sohn Gustave, der mit siebenundzwanzig Jahren ein Leben des Müßiggangs führte, nachdem er die Schulen mit denkbar schlechtestem Erfolge verlassen hatte, neckte ihn oft mit diesem Liebesverhältnis, denn er lebte mit seinem Vater auf einem Fuße freier Kameradschaft. Er spottete übrigens auch über die Werke, weigerte sich, den Fuß in diese schmutzige und übelriechende Schmiede zu setzen, ritt spazieren, jagte, führte die leere Existenz eines liebenswürdigen jungen Edelmannes, als ob er von einer in ferne Jahrhunderte zurückreichenden Reihe vornehmer Ahnen abstammte. Und eines schönen Tages nahm er dann aus dem Schreibtisch die hunderttausend Frank, die sein Vater für die Fälligkeiten mühsam zusammengebracht hatte, und entführte das schöne Mädchen, die Geliebte seines Vaters, die sich ihm an den Hals geworfen hatte. Ins Herz getroffen durch diesen furchtbaren Schlag, der sein Vermögen und seine Liebe in derselben Minute vernichtete, zerschmettert und seiner Sinne beraubt, tötete sich Michel am nächsten Tage durch einen Revolverschuß.
Das war nun drei Jahre her, und seither war noch mehr von dem Familienbau der Qurignons in Trümmer gefallen, als wollte das Schicksal hier eines der furchtbarsten Beispiele seiner Macht aufstellen. Bald nach der Flucht Gustaves kam die Nachricht, daß er in Nizza durch scheugewordene Pferde, die seinen Wagen in einen Abgrund rissen, getötet worden war. Philippe, der jüngere Bruder Michels, fiel kurze Zeit darauf in Paris in einem Duell, nach einem schmutzigen Skandal, in den ihn seine schreckliche Frau hineingezogen hatte, die nun, wie es hieß, in Rußland mit einem Sänger lebte. Und ihr einziges Kind, André Qurignon, der Letzte dieses Namens, mußte in eine Heilanstalt gebracht werden, da er an einer Krankheit litt, die von Geistesstörungen begleitet war. Außer diesem Kranken und der Tante Laure, die von den Mauern eines Klosters umschlossen war, lebte also nur noch Suzanne, die Tochter Michels. Diese hatte sich im Alter von zwanzig Jahren, fünf Jahre vor dem Tode ihres Vaters, mit Boisgelin vermählt, der sich gelegentlich eines Zusammentreffens bei einem Gutsnachbar in sie verliebt hatte. Obgleich die Werke damals schon im Niedergang begriffen waren, hatte Michel es zuwege gebracht, ihr eine Million Mitgift zu geben. Boisgelin besaß von seinem Vater und Großvater her ein Vermögen von sechs Millionen, die in zweideutigen Geschäften verdient worden waren und an denen der Makel des Wuchers und Diebstahls klebte. Er war sehr geehrt, beneidet und bekannt, besaß in Paris ein prächtiges Haus im Park Monceau und führte ein sehr verschwenderisches Leben. Nachdem er seinen Stolz dareingesetzt hatte, stets der Letzte in der Klasse zu sein, hatte er niemals die geringste Arbeit mit seinen zehn Fingern geleistet und spielte den neuen Aristokraten, der seine Vornehmheit dadurch bewies, daß er mit Eleganz das von seinen Vorfahren erworbene Vermögen verzehrte, ohne sich so weit zu erniedrigen, selber einen Sou zu verdienen. Das Unglück war nur, daß seine sechs Millionen für das Leben, das er führte, nicht ausreichten, und daß er sich in finanzielle Spekulationen einließ, von denen er übrigens nicht das geringste verstand. Auf der Börse herrschte damals der Goldminentaumel, und man hatte ihm in Aussicht gestellt, daß er, wenn er sein Vermögen daran wage, dieses in zwei Jahren verdreifacht hätte. Auf einmal war der Kurssturz da, und er konnte eine Zeitlang glauben, daß er so vollständig ruiniert sei, daß er am nächsten Tage nicht einmal Brot zu essen haben werde. Er weinte wie ein Kind, er betrachtete seine Müßiggängerhände und fragte sich, was er nun damit machen solle, da sie keine Arbeit gelernt hatten und zu keiner taugten. In dieser Lage zeigte Suzanne, seine Frau, wirklich bewunderungswürdigen Mut, Verstand und Zärtlichkeit, die ihn wieder aufrichteten. Die Million ihrer Mitgift war übrigens unversehrt. Sie riet ihm, seine Lage vollkommen klarzustellen, und vor allem das Haus im Park Monceau zu verkaufen, das ein Leben auf großem Fuße verlangte. Damit war noch eine Million gerettet. Aber wie sollten sie, und besonders in Paris, von zwei Millionen leben, wenn sechs nicht ausgereicht hatten, und wenn der fieberische Luxus, den die große Stadt überall zur Schau trägt, die Versuchung stets aufs neue erwachsen ließ? Da entschied eine zufällige Begegnung über die Zukunft.
Boisgelin hatte einen armen Vetter, Delaveau, Sohn einer Schwester seines Vaters, deren Gatte, ein erfolgloser Erfinder, sie ohne Vermögen zurückgelassen hatte. Delaveau, der um die Zeit, da Michel Qurignon sich erschoß, als Hilfsingenieur in einer Kohlengrube von Brias angestellt war, wurde von einem glühenden Ehrgeiz verzehrt, in die Höhe zu kommen, den seine Frau nur noch mehr anfachte. Er kannte die geschäftliche Lage der Stahlwerke genau, war überzeugt, das Mittel gefunden zu haben, um sie durch eine vollständige Umgestaltung wieder gewinnbringend zu machen, und war nach Paris geeilt, um dort Kapitalisten zu finden, als er eines Abends auf der Straße mit seinem Vetter Boisgelin zusammentraf. Da durchfuhr's ihn wie ein Blitz: wie hatte er nur nicht gleich an diesen Mann gedacht, der obendrein mit einer Qurignon verheiratet war! Als er hierauf in die Vermögenslage seines Vetters Einblick bekam und erfuhr, daß dieser nur noch zwei Millionen besitze, für die er eine vorteilhafte Anlage suchte, erweiterte er seinen ursprünglichen Plan, und im Laufe mehrerer Unterredungen, die er mit seinem Vetter hatte, zeigte er sich so voll Zuversicht, so scharfblickend und als Kenner aller praktischen Fragen, daß er ihn schließlich vollständig für seinen Plan gewann. Es war eine geniale Kombination: aus der Katastrophe Nutzen ziehen, die Werke um eine Million kaufen, was der Hälfte ihres wirklichen Wertes entsprach, und die Fabrikation auf Feinstahl umstellen, durch die eine rasche und reiche Ergiebigkeit zu erzielen war. Warum sollten die Boisgelin nicht auch die Guerdache kaufen? Bei der zwangsweisen Liquidation des Qurignonschen Vermögens, die unvermeidlich war, konnten sie den Besitz leicht für fünfmalhunderttausend Frank bekommen, während er achtmalhunderttausend gekostet hatte. Von seinen zwei Millionen blieben Boisgelin somit noch fünfmalhunderttausend Frank, die als Betriebskapital für die Werke zu dienen hätten. Und er, Delaveau, verpflichtete sich in aller Form, das Kapital zu verzehnfachen und ihm eine fürstliche Rente hereinzubringen. Die Boisgelins sollten Paris verlassen, auf der Guerdache ein behagliches und sorgenloses Leben führen, so lange, bis sie das kolossale Vermögen besäßen, das ihnen die Werke eines Tages sicher einbringen würden, und das ihnen sodann gestatten würde, ihre Pariser Existenz mit allem verschwenderischen Glanz, den sie sich nur erträumen konnten, wieder aufzunehmen.
Suzanne war es, die schließlich ihren Mann zur Ausführung dieses Planes bestimmte und ihn dazu beredete, seine Angst vor dem Leben in der Provinz zu überwinden, wo er vor Langerweile zu sterben fürchtete. Sie begrüßte mit Entzücken den Gedanken, auf die Guerdache zurückzukehren, wo sie ihre Jugend verlebt hatte. Und es geschah alles so, wie Delaveau es entworfen und vorausgesagt hatte. Die Liquidation fand statt, die eineinhalb Millionen, die die Boisgelins für die Werke und die Guerdache erlegten, reichten knapp hin, um die Verbindlichkeiten der Qurignons zu decken, und die Boisgelins wurden unumschränkte Eigentümer der Werke und des Landgutes, ohne den einzigen überlebenden Erben, der Tante Laure, der Nonne, und Andrej dem armen, in eine Irrenheilanstalt gesperrten Geschöpfe irgendwelche Rechenschaft ablegen zu müssen. Und Delaveau hielt, was er versprochen, er reorganisierte die Werke, erneuerte die Fabrikationseinrichtungen und erzielte einen solchen Erfolg mit der Herstellung von Feinstahl, daß schon die Bilanz des ersten Jahres einen glänzenden Ertrag auswies. In drei Jahren hatte die Hölle ihren Platz unter den ersten Stahlwerken der Gegend wieder errungen, und die Gewinne, die die zwölfhundert Arbeiter in die Kasse Boisgelins schafften, gestatteten diesem, auf der Guerdache einen großen Luxus zu entwickeln. Er hatte sechs Pferde im Stall, fünf Wagen in der Remise, er veranstaltete Jagden, Feste, Diners, zu denen eine Einladung zu erhalten eine von den Honoratioren der Stadt heißerstrebte Ehre war. Während er in den ersten Monaten verdrossen seine Trägheit durch die Tage geschleppt und krankhaftes Heimweh nach Paris empfunden hatte, schien er sich jetzt in der Provinz eingelebt zu haben, nachdem er hier ein Gebiet gefunden hatte, auf dem seine Eitelkeit sich genug tun konnte, und eine Lebensweise, die ihm gestattete, sein nutzloses Insektenleben mit surrendem Nichtstun auszufüllen. Hierzu kam aber noch ein geheimer Beweggrund, ein eitles Siegergefühl, das ihn bewog, mit der Miene ruhiger Herablassung auf dem Platze eines Herrschers über Beauclair auszuharren.
Delaveau hatte seinen Wohnsitz in den Werken genommen, und er bewohnte hier mit seiner Frau Fernande und seinem einige Monate alten Töchterchen Nise das alte Haus Blaise Qurignons. Er war jetzt siebenunddreißig Jahre alt, und seine Frau siebenundzwanzig. Er hatte sie bei ihrer Mutter kennengelernt, einer Klavierlehrerin, die in einem finsteren Haus der Rue Saint-Jacques mit ihm auf demselben Stockwerke wohnte. Die Tochter war von so blendender Schönheit, so stolz und königlich, daß er sich mehr als ein Jahr lang, wenn er ihr auf der Treppe begegnete, furchtsam gegen die Mauer gedrückt hatte, im schamhaften Bewußtsein seiner Häßlichkeit und seiner Armut. Dann wurden Grüße gewechselt, es entwickelte sich eine immer engere Bekanntschaft. Die Mutter erzählte ihm, daß sie zwölf Jahre in Rußland gelebt hatte und daß dieses Mädchen mit der königlichen Gestalt das einzige Besitztum sei, das sie von dort mitgebracht habe, nachdem sie auf dem Schlosse, auf dem sie Lehrerin war, von einem Fürsten verführt worden sei. Sicherlich hätte der Fürst, der sie vergötterte, in reichster Weise für sie gesorgt, aber eines Abends nach der Jagd war er durch einen zufällig losgegangenen Schuß plötzlich getötet worden. Und die arme Frau, die vollständig mittellos mit ihrer kleinen Fernande nach Paris zurückgekehrt war, hatte keine andere Wahl gehabt, als ihre Stunden wieder aufzunehmen und in angestrengter Arbeit so viel zu verdienen, um ihre Tochter aufziehen zu können, für die sie irgendeine märchenhafte Gunst des Schicksals erträumte. Fernande, von mütterlicher Anbetung verhätschelt, überzeugt, daß ihre Schönheit sie für einen Thron bestimme, stieß sich täglich an der erbärmlichen Not der Armut wund, wenn es an Geld fehlte, um zerrissene Schuhe durch neue zu ersetzen, wenn alte Hüte und Kleider immer wieder mit eigenen Händen aufgefrischt werden mußten. Eine unablässige zornige Empörung kochte in ihr, ein fieberhaftes Verlangen nach Sieg und Triumph. Zu allem Überfluß hatte sie, in dem Glauben, daß ihre Schönheit durch eigene Macht siegen müsse, die Torheit begangen, sich einem reichen und mächtigen Manne hinzugeben, der sie am nächsten Tage verließ. Diese bittere Erfahrung, die unauslöschlich in ihre Erinnerung eingeprägt war, lehrte sie auch noch die Lüge, die Heuchelei, die schlaue Berechnung, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie schwor sich zu, sich nicht wieder fangen zu lassen, und sie besaß zuviel Stolz und Selbstgefühl, um eine Dirne zu werden. Sie hatte den Mißerfolg der Schönheit erfahren, sie hatte erkennen müssen, daß es nicht genüge, schön zu sein, sondern daß es der Gelegenheit bedürfe, um es mit Erfolg zu sein, daß es wichtig ist, den Mann zu finden, den man bezaubern und zu seinem willenlosen Sklaven machen könne. Diese Gelegenheit, dieser Mann bot sich ihr in Delaveau, der allerdings weder reich noch schön war, der ihr aber den Antrag machte, sie zu heiraten. Ihre Mutter war inzwischen gestorben, nachdem sie ein Vierteljahrhundert lang durch den Pariser Schmutz getrabt war, um Stunden zu geben und mit Mühe einen kärglichen Lebensunterhalt zu verdienen. Fernande liebte Delaveau nicht, aber sie sah, daß er sehr verliebt in sie war, und ihr Entschluß war rasch gefaßt: sie wollte an seinem Arm in den geschlossenen Kreis angesehener Frauen eintreten, wollte ihn als Stütze, als Hilfsmittel für eine glänzendere Zukunft benutzen. Er nahm sie vollkommen mittellos, er mußte ihr selbst die Ausstattung kaufen, aber er begehrte sie mit der Inbrunst eines Gläubigen, der nur seine Göttin haben wollte. Und von da ab nahm ihr Schicksal den Weg, den sie stets ersehnt hatte. Es waren noch nicht zwei Monate vergangen, seitdem sie durch ihren Mann auf der Guerdache eingeführt worden war, als sie Boisgelin verführte. Boisgelin war von heftigster Leidenschaft für sie ergriffen, er wäre bereit gewesen, sein Vermögen für sie zu opfern, alle Bande, die ihn hielten, zu zerreißen, um sie zu besitzen. Sie hatte endlich in diesem schönen Lebemann und Sportsmann das langgesuchte Ideal gefunden, den Geliebten für ihre Eitelkeit, einen reichen und verschwenderischen Anbeter, der zu jeder Tollheit, zu jeder Selbstvergessenheit bereit war, um eine so schöne Geliebte nicht zu verlieren, die seinen Luxusgewohnheiten unentbehrlich war. Dann hatte sie hier Gelegenheit, aufgehäuften Groll aller Art zu befriedigen, ihren verborgenen Haß gegen ihren Mann, dessen Arbeitstrieb ihre Eitelkeit verletzte, ihre wachsende Eifersucht auf die gelassene Suzanne, die sie vom ersten Tage verabscheut hatte. Und nun jagte auf der Guerdache ein Fest das andere, Fernande herrschte hier als schöne Wirtin, sie sah endlich Ihren Traum von einem verschwenderischen Leben erfüllt, sie half Boisgelin das Geld vergeuden, das Delaveau den zwölf hundert Arbeitern der Hölle erpreßte, sie hoffte sogar eines schönen Tages nach Paris zurückkehren zu können, um dort mit den versprochenen Millionen in der Gesellschaft zu triumphieren.
Alle diese Verhältnisse und Vorgänge ließ Lucas an seinem Geiste vorüberziehen, während er in langsamem Dahinschlendern der Guerdache zuschritt. Wenn er auch noch nicht alle Einzelheiten kannte, so erriet er die, in die eine nahe Zukunft ihm genauen Einblick verschaffen sollte. Und als er den Kopf erhob, sah er, daß er nur noch hundert Meter von dem herrlichen Park entfernt war, dessen hohe Bäume ihr dichtes Grün ins endlose erstreckten. Er blieb stehen, und eine Gestalt tauchte in seiner Erinnerung auf, die Gestalt des Herrn Jerôme, des Gründers der Werke und des Familienreichtums, der ihm gestern in seinem von einem Diener geschobenen Rollstuhl am Tor der Hölle begegnet war. Er sah ihn vor sich, vom Schlage getroffen, mit erstorbenen Beinen und verstummtem Munde, mit seinen hellen Augen, die seit fünfundzwanzig Jahren auf die Schicksalsschläge blickten, von denen seine Familie betroffen wurde. Und noch immer schritt das Unheil vorwärts, eine zersetzende Gärung vollendete die Vernichtung des Hauses: diese Fernande, die hierhergekommen schien, um mit ihren kleinen weißen Zähnen die letzten Stützen des Familienbaues zu zernagen. In sein Stillschweigen eingeschlossen, hatte er alle diese Dinge mit angesehen. Verstand er sie? Empfand er sie? Man sagte, seine Geisteskräfte seien geschwächt, aber doch, mit welch hellen, durchsichtigen, unergründlichen Augen sah er in die Welt! Und wenn er denken konnte, welche Gedanken erfüllten ihn in den langen Stunden seiner Unbeweglichkeit ? Alle seine Hoffnungen waren zusammengestürzt. In drei Generationen war die schöpferische Potenz, die der Niederschlag so vieler Jahrhunderte des Elends und der Mühsal gewesen, hinweggeschmolzen und aufgezehrt. Mit dem Besitz und dem Genuß der reichen Siegesbeute war auch die nervöse Überreizung, die zerstörende Überfeinerung eingetreten. Das zu rasch und zu gierig gesättigte Geschlecht verfiel dem Taumel des Überflusses, überschlug sich in der Sinnlosigkeit des großen Reichtums. Und dieser königliche Besitz, diese Guerdache, die er gekauft hatte, erfüllt von der stolzen Zuversicht, sie eines Tages von seiner zahlreichen Nachkommenschaft bevölkert zu sehen, von glücklichen Paaren, die seines Namens mit Segenswünschen gedenken sollten – welch bitteres Leid mußte er empfinden, wenn er die Hälfte ihrer Räume heute leer stehen sah, welcher Zorn mußte ihn erfüllen, wenn er Zeuge war, wie sie jetzt dieser Fremden ausgeliefert wurde, die das letzte, tödliche Gift in den Falten ihres Kleides hereinbrachte! – Er lebte vollständig abgeschlossen von jedem Verkehr und unterhielt liebevolle Beziehungen nur zu seiner Enkelin Suzanne, der einzigen, der er gestattete, das große Zimmer im Erdgeschoß zu betreten, das er bewohnte. Einst, als sie zehn Jahre alt gewesen, hatte Suzanne ihn hier gepflegt, als zartfühlendes Kind, dem das traurige Schicksal des unglücklichen Großvaters zu Herzen ging. Und als sie dann nach dem Kaufe der Werke und des Gutes als Frau wiederkehrte, hatte sie darauf bestanden, daß der Großvater im Hause bleibe, obgleich er kein Vermögen mehr besaß. Sie konnte sich einer Regung von Gewissensbissen nicht erwehren, es schien ihr, als ob sie und ihr Mann, indem sie den Ratschlägen Delaveaus folgten, die beiden Übrigbleibenden der Familie, die Tante Laure und den kranken André benachteiligt hätten. Da deren Existenz jedoch gesichert war, umgab sie ihren Großvater Jérôme mit Zärtlichkeit und pflegte ihn wie ein guter Engel. Er aber zeigte in seinem kalten Gesicht mit den tiefeingegrabenen Zügen nur zwei wasserklare, unergründliche kleine Seen, wenn er auf das an ihm vorüberjagende atemlose Freudenleben der Guerdache blickte. Sah er? Dachte er? Und wenn er es tat, welche verzweifelte Bitterkeit erfüllte sein Denken?
Lucas war vor dem Gitter angelangt, und er brauchte nur die kleine Pforte aufzudrücken, um die herrliche Ulmenallee zu betreten. Diese führte gerade auf das Schloß zu, einen weitläufigen, vornehm-einfachen Bau aus dem siebzehnten Jahrhundert, mit zwölf Fenstern Front und zwei Stockwerken über einem erhöhten Erdgeschoß, das man auf einer zweiflügeligen, mit Vasen gezierten Freitreppe erreichte. Der Park, aus alten, hochstämmigen Bäumen und wohlgepflegten Rasenplätzen bestehend, war von der Mionne durchflossen, die auch einen großen, von Schwänen belebten Teich speiste.
Lucas wollte sich schon der Freitreppe zuwenden, als ein Lachen fröhlichen Willkommens ihn den Kopf wenden ließ. Unter einer Eiche, an einem von Holzbänken umgebenen Steintisch, saß Suzanne, und ihr Sohn Paul spielte zu ihren Füßen.
»Jawohl, lieber Freund, ich bin heruntergekommen, um hier meine Gäste zu erwarten. Wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie meine Einladung angenommen haben, mit der ich Sie so plötzlich überfiel!«
Sie streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. Sie war nicht hübsch, aber ungemein anziehend, eine kleine, zierliche Blondine mit einem feinen, runden Köpfchen, gekrausten Haaren und sanftblauen Augen. Ihr Gatte hatte sie stets unbedeutend gefunden, ohne anscheinend irgendwelches Verständnis zu besitzen für die unerschöpfliche Herzensgüte und den gesunden Verstand, die sich unter ihrer Einfachheit bargen.
Lucas hatte ihre Hand erfaßt und einen Augenblick zwischen seinen beiden Händen festgehalten.
»Ich habe Ihnen zu danken, daß Sie so liebenswürdig waren, meiner zu gedenken. Ich bin so glücklich, so glücklich, Sie wiederzusehen!«
Sie war um drei Jahre älter als er, und sie hatte ihn in dem armseligen Hause in der Rue-de-Bercy kennengelernt, das er damals bewohnte und das in der Nähe der Fabrik lag, in der er als Hilfsingenieur seine Laufbahn begonnen hatte. Im stillen ihre Wohltätigkeit ausübend, machte sie selbst ihre Besuche bei den Armen, und so war sie auch zu einem Maurer gekommen, der mit sechs Kindern, darunter zwei Mädchen in zartem Alter, Witwer geworden war. In der elenden Behausung des Maurers hatte sie nun, als sie eines Abends Brot und Wäsche hinbrachte, den jungen Mann angetroffen, der die zwei kleinen Mädchen auf den Knien hielt. So wurden sie bekannt, und er hatte bald Gelegenheit, in ihrem Haus im Park Monceau vorzusprechen, um ihre gemeinsamen wohltätigen Werke mit ihr zu beraten. Eine starke Sympathie hatte sie einander genähert, er wurde ihr Helfer, ihr geheimer Bote bei Besorgungen, von denen niemand außer ihnen wußte. Er war dann ein regelmäßiger Gast des Hauses geworden, war zwei Winter hindurch zu den Gesellschaften eingeladen worden und hatte dort auch die Geschwister Jordan kennengelernt.
»Wenn Sie wüßten, wie Sie uns fehlen!« begnügte er sich hinzuzufügen, als einzige Anspielung auf ihre einstige gemeinsame Tätigkeit. Sie erwiderte leise und bewegt:
»Wenn ich an Sie denke, bin ich tief betrübt, daß Sie nicht hier sind, wo es so viel zu tun gäbe!«
Der kleine Paul lief jetzt mit Blumen in der Hand herbei, und Lucas war erstaunt, ihn so gewachsen zu finden. Der Knabe, ein blondes, zartes, sanftes und heiteres Kind, ähnelte seiner Mutter sehr.
»Ja, ja«, sagte diese fröhlich, »er wird nun bald sieben Jahre alt und ist schon ein kleiner Mann.«
Lucas hatte sich zu ihr an den Tisch gesetzt, und sie plauderten geschwisterlich in der warmen Luft des herrlichen Septembertages, so vertieft in ihre gemeinsamen Erinnerungen, daß sie nicht einmal Boisgelin sahen, der die Freitreppe herab und auf sie zukam. Boisgelin, in eleganter leichter Joppe und das Einglas im Auge, war ein großer, hübscher, eitler Mann, der sich sehr aufrecht hielt. Er hatte graue Augen, eine kräftige Nase, und trug seine gewellten braunen Haare gegen die schmale Stirn gekämmt, die schon einen Ansatz von Kahlheit zeigte.
»Guten Morgen, mein lieber Froment!« sagte er in seinem schnarrenden Ton. »Sehr erfreut, daß Sie unser Gast sein wollen.«
Nach einem kurzen, kräftigen Händedruck wandte er sich sogleich an seine Frau:
»Sage, liebes Kind, du hast doch Auftrag gegeben, daß der Wagen zu Delaveau fährt?«
Suzanne war der Antwort enthoben, denn eben fuhr die Viktoria durch die Ulmenallee herein, und das Ehepaar Delaveau stieg am Steintisch aus. Delaveau war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem massigen Bulldoggkopfe, mit vorstehenden Kiefern, einer Stumpfnase, großen, hervorquellenden Augen, lebhaft gefärbten Wangen, die zur Hälfte von einem dichten schwarzen Bart bedeckt waren. Sein Wesen hatte etwas Militärisches, Strenges und Befehlshaberisches. Seine Frau, Fernande, bildete einen entzückenden Gegensatz zu ihm, eine Brünette mit blauen Augen, von großer, schlanker Gestalt, mit herrlicher Brust und tadellosen Schultern. Sie war besonders stolz auf die feine Form ihrer Füße, denn sie sah darin das unwiderlegliche Zeugnis für ihre fürstliche Abstammung.
Nach ihr entstieg dem Wagen ein Dienstmädchen, das ihr Töchterchen Nise auf den Armen trug, ein Kind von drei Jahren, ebenso blond, wie sie schwarz war, mit wirren, Locken, himmelblauen Augen und einem rosigen Munde, der immer lachte und dabei Grübchen in die Wangen zeichnete.
»Sie verzeihen, nicht wahr, liebe Suzanne, ich habe von Ihrer Erlaubnis Gebrauch gemacht, und meine Nise mitgebracht.«
»Daran haben Sie sehr recht getan«, erwiderte Suzanne. »Wie ich Ihnen schon sagte, werden wir ein Kindertischchen aufstellen.«
Die beiden Frauen schienen Freundinnen zu sein. Suzanne zuckte kaum merklich mit den Augenlidern, als sie sah, wie eifrig Boisgelin um Fernande bemüht war, die übrigens mit ihm zu schmollen schien, denn sie behandelte ihn in der kalten Weise, die sie stets annahm, wenn er versuchte, einer ihrer Launen zu widerstreben. Sichtlich verstimmt gesellte er sich zu Lucas und Delaveau, die sich seit dem letzten Frühjahr kannten und einander die Hände schüttelten. Der Direktor der Werke schien jedoch von der unerwarteten Anwesenheit des jungen Mannes in Beauclair einigermaßen betroffen.
»Sie sind seit gestern hier?« sagte er. »Natürlich haben Sie Jordan nicht angetroffen, da er durch ein Telegramm nach Cannes berufen worden ist. Ich weiß das zufällig, aber ich wußte nicht, daß er Sie hergebeten hat. Ja, er ist nun in großer Verlegenheit mit seinem Hochofen!«
Lucas war erstaunt über die Unruhe, die dem anderen so deutlich anzumerken war, daß er auf dem Punkte schien, zu fragen, warum Jordan ihn nach der Crêcherie berufen habe. Er verstand den Grund dieser Unruhe nicht, und erwiderte aufs Geratewohl:
»In Verlegenheit, glauben Sie? Es geht ja alles vortrefflich.«
Delaveau wechselte jedoch vorsichtigerweise das Gesprächsthema, indem er Boisgelin, den er duzte, mitteilte, daß China eine Partie fehlerhafter Geschosse gekauft habe, die schon zum Wiedereinschmelzen bestimmt gewesen waren. Dann entstand eine neue Ablenkung, als Lucas, der die Kinder ungemein liebte, zu seiner großen Erheiterung bemerkte, wie Paul galant seine Blumen Nise, seiner Herzensfreundin, anbot. Was für ein reizendes Kind, diese Nise, wie ein Sonnenstrahl, so blond war sie! Fernande, die Lucas bei der Vorstellung mit scharfem Blick geprüft hatte, um zu erkennen, ob da ein Freund oder ein Feind aufgetaucht sei, hatte es gern, wenn man fragte, warum ihr Töchterchen so blond sei. Sie antwortete dann stolz mit einer ziemlich unverblümten Anspielung auf ihren fürstlichen russischen Großvater:
»Ein schöner, blonder Mann mit weißem Teint. Ich bin sicher, daß Nise sein Ebenbild wird.«
Aber Boisgelin fand nun, daß es nicht guter Ton sei, seine Gäste unter einer Eiche zu empfangen, was sich bloß für auf dem Lande wohnende Kleinstädter gezieme. Und als nun alle sich anschickten, in den Salon zu gehen, trafen sie Herrn Jérôme in seinem Rollstuhl, den ein Diener vor sich her schob. Der Greis hatte verlangt, daß man ihn sein Leben vollkommen abgesondert führen lasse, in bezug auf seine Mahlzeiten und seine Spazierfahrten, sein Aufstehen und Schlafengehen. Er aß ganz allein, er wollte nicht, daß man sich irgendwie mit ihm befasse, und es hatte sich sogar die Regel herausgebildet, daß niemals jemand das Wort an ihn richtete. Alle begnügten sich daher, ihn schweigend zu grüßen, und nur Suzanne folgte ihm liebevoll mit den Augen. Herr Jérôme, der im Begriffe war, eine seiner langen Spazierfahrten anzutreten, auf denen er oft den ganzen Nachmittag fortblieb, hatte sie alle starr angesehen, ein Vergessener, der Welt Entfremdeter, der keinen Gruß mehr erwidert. Und Lucas wurde unter der kalten Klarheit dieses Blickes wieder von einem peinlichen Gefühle, von beängstigendem Zweifel ergriffen.
Der Salon war ein weiter, prächtiger Raum, mit rotem Brokat ausgeschlagen und reich im Stile Ludwigs XIV. möbliert. Alsbald kamen auch neue Gäste an: der Unterpräfekt Châtelard mit dem Bürgermeister Gourier, dessen Frau Leonore und deren Sohn Achille. Châtelard, ein hierher verschlagener Pariser, war ein noch schöner Mann von vierzig Jahren, kahl, mit gebogener Nase, feinem Munde und großen glänzenden Augen hinter Augengläsern. Nachdem er dem Pariser Leben seine Haare und seinen Magen geopfert hatte, hatte er sich durch einen guten Freund, der plötzlich und unversehens Minister geworden war, die Unterpräfektur von Beauclair als Altenteil verleihen lassen. Ohne Ehrgeiz, mit angegriffener Leber und einem lebhaften Bedürfnis nach Ruhe, hatte er das Glück gehabt, hier die schöne Frau Gourier zu finden, die ihn für immer in Beauclair festzuhalten schien, in einem wolkenlosen Verhältnis, das von seinen Untertanen mit wohlwollenden Blicken betrachtet und, wie es hieß, selbst von dem Gemahl, der andere Freuden suchte, willig geduldet wurde. Leonore, eine noch schöne, blonde Frau von achtunddreißig Jahren, mit starken, regelmäßigen Zügen, zeigte große Frömmigkeit und trug stets ein kaltes und sittenstrenges Wesen zur Schau, hinter dem eine nie erlöschende Glut weltlicher Begierden brannte. Gourier selbst, ein dicker, gewöhnlich aussehender Mensch mit einem Fettnacken und rotem Vollmondgesicht, schien jedoch davon keine Ahnung zu haben, denn er sprach von seiner Frau mit nachsichtigem Lächeln und zog ihr die Arbeiterinnen seines Unternehmens vor, einer bedeutenden Schuhfabrik, die er von seinem Vater geerbt und in der er selbst ein Vermögen verdient hatte. Das Ehepaar hatte seit fünfzehn Jahren getrennte Schlafzimmer, und das einzige Band, das noch zwischen ihnen bestand, war ihr Sohn Achille, ein junger Mann von achtzehn Jahren, der die regelmäßigen Züge und die schönen Augen seiner Mutter, aber schwarze statt ihrer blonden Haare hatte, und der eine Geistesfreiheit und Unabhängigkeit zeigte, die seine Eltern außer Fassung brachte und sie empörte. Die schöne Leonore hatte zwar nie den Fuß in die Schuhfabrik ihres Mannes gesetzt, aber sie lebten vor der Welt in vollkommenstem Einvernehmen, und besonders seitdem Châtelard das Haus betreten hatte, herrschte hier ein ungetrübtes Glück, das die Leute einander als Beispiel anführten. Der Unterpräfekt und der Bürgermeister waren unzertrennliche Freunde, die Verwaltung wurde dadurch wesentlich erleichtert, die ganze Stadt pries das segensreiche Verhältnis.
Bald trafen weitere Gäste ein: der Gerichtspräsident Gaume mit seiner Tochter Lucile und ihrem Verlobten, dem Hauptmann a. D. Jollivet. Gaume, ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren mit einem langen Gesicht, hoher Stirn und fleischigem Kinn, schien in dem abgeschiedenen Winkel Beauclair Verborgenheit und Vergessenheit zu suchen, seitdem ein schreckliches häusliches Drama sein Leben zerstört hatte. Eines Abends hatte seine Frau, die von einem Geliebten verlassen worden war, sich vor seinen Augen getötet, nachdem sie ihm ihre Schuld bekannt hatte. Unter seiner kalten und strengen Außenseite barg er die unheilbare, fressende Wunde, die dieses Ereignis ihm geschlagen hatte, und er litt nun auch noch durch seine Tochter, die er zärtlich liebte und die, je älter sie wurde, desto mehr Ähnlichkeit mit ihrer Mutter zeigte. Klein, fein und zierlich, mit liebedurstigen, unheilkündenden Augen unter ihrem goldbraunen Haar, erinnerte ihn Lucile an die Schande seiner Frau und erfüllte ihn mit solcher Angst, daß sie neue Schande über ihn bringen könnte, daß er sie, als sie zwanzig Jahre geworden war, mit dem Hauptmann Jollivet verlobt hatte, obgleich die Trennung von ihr bittere Einsamkeit für ihn bedeutete. Jollivet selbst, ziemlich verlebt mit fünfunddreißig Jahren, war trotzdem ein hübscher Mann, mit eckiger Stirn und kühnem Schnurrbart, der durch ein von Madagaskar heimgebrachtes Wechselfieber gezwungen worden war, den Dienst zu quittieren. Er hatte vor kurzem eine Rente von zwölftausend Frank geerbt und hatte sich entschlossen, sich in Beauclair, seiner Heimat, niederzulassen und Lucile zu heiraten, deren sehnsüchtige Turteltaubenart ihn um den Verstand gebracht hatte. Gaume, der kein Vermögen besaß und sehr bescheiden von seinem Richtergehalte lebte, konnte eine solche Partie nicht ausschlagen. Aber sein geheimer Kummer schien dadurch gewachsen. Er zeigte sich unbeugsamer denn je in der Anwendung des Gesetzes, bekundete in seinen Urteilsbegründungen die strengste Anschauung, machte unnachsichtig von den Mitteln der Justiz Gebrauch. Manche behaupteten, daß sich hinter diesem eisernen Richter ein Besiegter des Lebens, ein verzweifelter Pessimist berge, der an allem zweifle und besonders an der menschlichen Gerechtigkeit. Welche Seelenqual mußte dieser Mann erdulden, der im Namen dieser Gerechtigkeit Urteile sprach und der sich fragen mußte, ob er ein Recht besitze, die unglücklichen Gefallenen, die traurigen Opfer der Verbrechen aller zu verdammen!
Dann kamen noch Mazelles mit ihrer kleinen, dreijährigen Louise, auch einem Gaste des Kindertischchens. Zwei dicke Leute in ungefähr gleichem Alter von vierzig Jahren, durch inniges Zusammenleben einander ähnlich geworden, mit demselben rosigen und lächelnden Gesicht, demselben sanften und wohlwollenden Ausdruck. Sie hatten für hunderttausend Frank ein schönes, behagliches Bürgerhaus mit großem Garten nahe der Unterpräfektur gekauft, und lebten nun hier von einer Rente von fünfzehntausend Frank, die in guten Staatspapieren angelegt war: keine andere Anlage hätte ihnen genügende Sicherheit gewährt. Ihr wolkenloses Glück, die selige Behaglichkeit ihres in vollkommenem Nichtstun hinfließenden Lebens war sprichwörtlich geworden. »Ach, Mazelle, das ist ein Glückspilz! Gar nichts arbeiten müssen, das lass' ich mir gefallen!« Aber er erwiderte, daß er sich zehn Jahre lang geplackt habe, und daß sein Geld wohlerworben sei. In Wirklichkeit verhielt es sich so, daß er als kleiner Kohlenmakler, dem seine Frau fünfzigtausend Frank mitgebracht hatte, die richtige Witterung oder vielleicht einfach das Glück gehabt hatte, die Streiks vorherzusehen, durch deren Häufigkeit der Preis der französischen Kohle in den letzten zehn Jahren erheblich gestiegen war. Seine glückliche Idee war es nun gewesen, sich im Auslande gewaltige Mengen von Kohlen zu möglichst billigen Preisen zu sichern und sie mit sehr großem Gewinn an die französischen Industriellen zu verkaufen, die sonst gezwungen gewesen wären, infolge plötzlichen Fehlens des Heizmaterials den Betrieb einzustellen. Aber er war auch weise genug gewesen, sich mit ungefähr vierzig Jahren von den Geschäften zurückzuziehen, im Augenblicke, da er die sechsmalhunderttausend Frank in der Tasche hatte, die nach seiner Berechnung erforderlich waren, um aus ihm und seiner Frau ein vollkommen glückliches Paar zu machen. Er hatte sogar der Versuchung widerstanden, bis zur runden Million zu gehen, denn er fürchtete zu sehr irgendeinen boshaften Streich des Schicksals. Und niemals hatte glücklicher Egoismus einen größeren Triumph errungen, niemals hatte der Optimismus begründeteres Recht zu sagen, daß dies die beste aller Welten sei, als bei diesen braven Leuten, die einander herzlich liebten, die ihr spätgeborenes Töchterchen vergötterten und die in ihrem zufriedenen, gesättigten, von allem Ehrgeiz und allem Wunschfieber freien Dasein das Bild des vollkommenen Glückes darboten. Der einzige Stachel in diesem Glücke war, daß Frau Mazelle, eine sehr dicke, sehr blühend aussehende Frau, an einer schweren, undefinierbaren Krankheit zu leiden glaubte, was zur Folge hatte, daß ihr Gatte sie sehr bemitleidete und verhätschelte und daß er mit einer Art zärtlicher Eitelkeit sagte: »die Krankheit meiner Frau«, wie er hätte sagen mögen: »das Haar, das wundervolle Goldhaar meiner Frau«. Es entstand daraus weder Furcht noch Traurigkeit. Und ebenso frei von jedem unangenehmen Gefühle war das Staunen, mit dem sie das Aufwachsen ihres Töchterchens Louise beobachteten, die sich ganz verschieden von ihnen entwickelte, ein mageres, schwarzhaariges, lebhaftes Kind mit einem drolligen Ziegenköpfchen, schiefgestellten Augen und winzigem Näschen. Es war ein entzücktes Staunen, als ob das Kind als Geschenk vom Himmel gefallen wäre, um etwas Eigensinn und Lärm in ihr sonniges Haus zu bringen, das unter zu ungestörter Verdauung in Schläfrigkeit verfiel. Die feine Gesellschaft von Beauclair machte sich gern über Mazelles lustig, nannte sie Fleischtöpfe, Masthühner, aber sie achtete sie darum nicht minder hoch, grüßte sie und lud sie ein, denn sie waren solide Rentner, die ihr festbegründetes Vermögen weit über die Arbeiter und kleinen Beamten, ja selbst über die großen Kapitalisten stellte, die stets von der Gefahr einer Katastrophe bedroht waren.
Es fehlte nur noch der Abbé Marle, der Pfarrer von Saint-Vincent, der reichen Kirche von Beauclair. Er kam, als man sich gerade in den Speisesaal begeben wollte, und er entschuldigte sich wegen der Verspätung mit seinen Seelsorgerpflichten, die ihn solange zurückgehalten hatten. Er war groß, stark, mit kräftigen Zügen, einer Adlernase und einem großen, geradlinigen Mund. Noch jung, erst dreiunddreißig Jahre alt, hätte er gern für den Glauben gekämpft, aber er war daran behindert durch einen kleinen Sprachfehler, der ihm das Predigen erschwerte. Das erklärte auch, warum er sich in Beauclair begrub, während sein kurzgeschorenes Haar, der entschlossene Blick seiner schwarzen Augen den streitbaren Gotteskämpfer verrieten, der er hätte sein mögen. Aber es fehlte ihm nicht an kluger Beobachtungsgabe, und er erkannte klar, daß der Katholizismus eine schwere Krisis durchmache. Er verbarg die Befürchtungen, die in ihm aufstiegen, wenn er in seine schwachbesuchte Kirche blickte, er hielt sich streng an den Buchstaben der religiösen Dogmen, aber er wußte nur zu gut, daß der ganze alte Bau zusammenstürzen müsse an dem Tage, da die Wissenschaft und die freie Forschung Bresche in seine Mauern schlugen. Er nahm übrigens die Einladungen auf die Guerdache ohne jede Illusion in bezug auf die Tugenden des Bürgertums an, und er aß da zu Mittag oder zu Abend gleichsam in Ausübung einer Pflicht, um die geheimen Schwären, die es hier gab, mit dem Mantel der Religion zu bedecken.
Lucas war entzückt von der hellen Heiterkeit, dem geschmackvollen Luxus des Speisesaales, eines mächtigen Raumes, der eine Ecke des Erdgeschosses einnahm und dessen hohe Fenster auf die Rasenplätze und prächtigen Bäume des Parkes sahen. Es war, als gehörten diese Rasenplätze und Bäume mit zur Dekoration des Raumes, der, im Stile Ludwigs XVI. eingerichtet, mit perlgrauem Getäfel und zart wassergrünen Tapeten, dadurch zu einem vollendeten Festsaal für eine ländliche Feerie wurde. Und das reiche Gedeck, die blendende Weiße des Linnens, das Funkeln der Gläser und des Silbers, die Blumen, mit denen die Tafel überstreut war, das alles vereinigte sich zu einem überaus prächtigen Bilde voll Licht und Duft. So stark wirkte dieses Bild auf Lucas, daß es durch die Kraft des Gegensatzes die Erinnerung an den gestrigen Abend hervorrief, an die schwarze Masse der halbverhungerten Arbeiter, die durch den Kot der Rue-de-Brias hinstapften, an die Walzer und Zieher, deren Körper an den Höllenflammen der Öfen brieten, an die armselige Behausung Bonnaires und an die auf einer Treppenstufe sitzende bejammernswerte Josine, die nach vierundzwanzigstündigem Fasten ihren Hunger für einen Abend wieder stillen konnte. Auf wieviel Unrecht und Elend, auf welch fluchbeladener Arbeit, auf welch entsetzlichen Leiden beruhte der Luxus der Vornehmen und Glücklichen!
An der Tafel mit fünfzehn Gedecken saß Lucas zwischen Fernande und Delaveau. Der Vorschrift entgegen, hatte Boisgelin, der Frau Mazelle zu Tisch führte, Fernande zu seiner Linken. Diesen Platz hätte eigentlich Frau Gourier einnehmen sollen, aber in den befreundeten Häusern galt es ein für allemal als Regel, daß Leonore immer neben ihren Freund, den Präfekten Châtelard, gesetzt wurde. Dieser nahm natürlich den Ehrenplatz zur Rechten Suzannens ein, während zu ihrer Linken der Präsident Gaume sein Gedeck hatte. Den Abbé Marie hatte man Leonoren, seinem eifrigsten und geliebtesten Beichtkinde, an die Seite gegeben. Gourier saß neben Frau Mazelle, und Mazelle neben dem Präsidenten. Hauptmann Jollivet und Lucile endlich nahmen eine Schmalseite der Tafel ein, während an der gegenüberliegenden Seite der junge Achille Gourier schweigend zwischen Delaveau und dem Abbé saß. Suzanne hatte als sorgende Hausfrau angeordnet, daß das Kindertischchen hinter ihr aufgestellt werde, damit sie es besser überwachen könne. An diesem präsidierte der siebenjährige Paul zwischen der dreijährigen Nise und der dreijährigen Louise, die beide mit ihren Händchen in höchst beunruhigender Weise in ihren Gläsern und Tellern herumfuhren. Ein Stubenmädchen blieb übrigens immerfort an der Seite der Kleinen, während die Bedienung an der großen Tafel durch zwei Diener mit Unterstützung des Kutschers besorgt wurde.
Sobald die gefüllten Eier aufgetragen waren, entwickelte sich ein allgemeines Tischgespräch, das sich zuerst um das Brot drehte, das man in Beauclair buk.
»Ich kann mich nicht daran gewöhnen«, sagte Boisgelin. »Das Weißbrot ist ungenießbar, ich lasse meines aus Paris kommen.«
Er hatte das mit nachlässiger Selbstverständlichkeit gesagt, und alle sahen unwillkürlich ehrfurchtsvoll auf die Brötchen, die sie aßen. Aber man kam sogleich auf die betrübenden Stadtereignisse zu sprechen, die die Gedanken aller Anwesenden beschäftigten. Fernande rief aus:
»Ja richtig, Sie haben wohl gehört, daß gestern ein Bäckerladen in der Rue-de-Brias geplündert wurde?«
Lucas konnte sich nicht enthalten zu lachen.
»Geplündert! Ich war zufällig dabei. Ein armes Kind hat einen Laib Brot gestohlen!«
»Auch wir waren dabei«, erklärte Hauptmann Jollivet, durch den mitleidigen und nachsichtigen Ton gereizt, in dem der junge Mann gesprochen hatte. »Es ist sehr bedauerlich, daß der Junge nicht eingesperrt wurde, um ein Exempel zu statuieren.«
»Freilich, freilich«, stimmte Boisgelin bei. »Seit diesem verdammten Streik wird sehr viel gestohlen, wie es heißt. Ich habe erzählen hören, daß eine Frau die Kasse eines Fleischers erbrochen hat. Alle Kaufleute beklagen sich, daß herumstreifendes Gesindel sich an ihren Auslagen die Taschen füllt. Da wird nun wohl unser schönes neues Gefängnis Insassen bekommen, nicht wahr, Herr Präsident?«
Ehe Gaume antworten konnte, fiel der Hauptmann wieder heftig ein:
»Jawohl, der straflose Diebstahl erzeugt Raub und Mord. In der Arbeiterbevölkerung herrscht ein schreckenerregender Geist. Haben Sie alle, die gestern abend wie ich auf der Straße waren, nicht das Aufrührerische, das Drohende in der Haltung dieser Leute gefühlt, die zum Hervorbrechen bereite Gewalttätigkeit, vor der die Stadt zittert? Übrigens hat auch dieser Lange, der Anarchist, kein Hehl daraus gemacht, was er im Sinne führt. Er hat laut hinausgeschrien, daß er Beauclair in die Luft sprengen und seine Ruinen dem Erdboden gleich machen werde. Der Kerl ist ja übrigens dingfest gemacht worden, und ich hoffe, daß man es ihm ordentlich eintränken wird!«
Jollivets Heftigkeit war allen ziemlich peinlich. Wozu erinnerte er an diesen Geist der drohenden Gewalttätigkeit, von dem er sprach, dessen Regung die anderen gestern abend ebensogut wie er gefühlt hatten, hier an dieser gastfreundlichen Tafel, die mit so schönen und guten Dingen beladen war? Eine Kälte verbreitete sich, die Drohung der Zukunft erklang inmitten allgemeinen Stillschweigens in den Ohren dieser angstbeklommenen Reichen, während die Diener jetzt Forellen herumreichten.
Delaveau, der fühlte, daß die Stille drückend wurde, sagte endlich:
»Ein gefährlicher Mensch, dieser Lange. Der Hauptmann hat recht: halten Sie ihn fest, da Sie ihn einmal haben!«
Aber der Präsident Gaume schüttelte den Kopf und erwiderte in seiner kalten, strengen Art, ohne daß man hätte sagen können, was sich hinter dieser beruflichen Undurchdringlichkeit verbarg:
»Ich muß Ihnen mitteilen, daß der Untersuchungsrichter diesen Mann nach einem einfachen Verhör auf meinen Rat heute morgen entlassen hat.«
Laute Ausrufe ertönten, die eine wirkliche Furcht unter scherzhafter Übertreibung verbargen:
»Herr Präsident, Sie wollen uns also alle ermorden lassen?«
Gaume erwiderte bloß mit einer leichten Handbewegung, die sehr viel besagen konnte. Die Klugheit gebot allerdings, daß man nicht durch einen Aufsehen erregenden Prozeß unüberlegt hinausgerufenen Worten eine Bedeutung und Verbreitung verleihe, durch die sie erst recht verderblich auf die Gemüter wirken konnten.
Jollivet war verstummt und biß sich auf den Schnurrbart. Er wollte seinem zukünftigen Schwiegervater nicht offen widersprechen. Aber der Unterpräfekt Châtelard, der sich bis jetzt begnügt hatte, mit dem liebenswürdigen Lächeln eines Menschen, der alles hinter sich hat, zuzuhören, sagte nun lebhaft:
»Wie gut begreife ich Sie, Herr Präsident. Sie haben da im Sinne ausgezeichneter politischer Klugheit gehandelt. Nein, meine Herrschaften, der Geist der Massen ist in Beauclair nicht schlechter als anderwärts. Derselbe Geist ist überall zu finden, man muß sich ihm eben anbequemen, und das beste ist, den gegenwärtigen Zustand der Dinge solange wie möglich aufrechtzuerhalten, denn es scheint mir zweifellos, daß es höchstens schlimmer werden kann.«
Lucas glaubte einen leichten überlegenen Spott im Ton des ehemaligen Pariser Lebemannes zu hören, den die geheime Angst dieser Spießbürger belustigte. Die ganze praktische Politik Châtelards war übrigens in diesem einen Wort zusammengefaßt: vollkommene heitere Gleichgültigkeit, gleichviel, welches Ministerium gerade an der Macht war. Die alte Regierungsmaschinerie ging kraft des ihr innewohnenden Beharrungsvermögens weiter, kreischte, stieß und klapperte und würde aus dem Gefüge gehen und in Staub zerfallen, sobald die neue Gesellschaftsordnung vorhanden war. Wenn die Komödie aus ist, fällt der Vorhang, pflegte er lachend in vertrautem Kreise zu sagen. Der Karren rollte weiter, weil er im Schwung war, aber beim ersten ernstlichen Anprall ging alles in Trümmer. Und alle vergeblichen Anstrengungen, die man machte, um die alte Baracke noch zu stützen, die schwächlichen Neuerungen, die man einführte, die nutzlosen Gesetze, die man erließ, ohne es auch nur zu wagen, die alten anzuwenden, das wilde Sichvordrängen der Eitelkeiten aller und einzelner, das Wüten und Toben der Parteien, all das beschleunigte und verschlimmerte nur den Todeskampf der heutigen Gesellschaft. An jedem neuen Tage wunderte sich das herrschende System, daß es noch nicht gestürzt war, und sagte sich, daß es morgen sicher stürzen würde. Und er, der kein Dummkopf war, richtete sich darauf ein, so lange zu bleiben, wie das System blieb. Als gemäßigter Republikaner, wie sich das gebührte, vertrat er die Regierung gerade nur in dem erforderlichen Maße, um seinen Posten zu behalten, tat nur das Notwendigste und wollte vor allen Dingen mit den seiner Fürsorge anvertrauten Staatsbürgern in Frieden leben. Und wenn dann einmal alles zusammenstürzte, so gedachte er sein möglichstes zu tun, um nicht unter den Trümmern begraben zu werden.
»Sie sehen ja«, schloß er, »daß dieser unglückliche Streik, der uns alle so beunruhigte, auf die schönste Weise beendet worden.«
Gourier, der Bürgermeister, besaß nicht die ironische Philosophie des Unterpräfekten, und obgleich beide stets in allen Dingen einig waren, konnte er nicht umhin zu widersprechen.
»Verzeihen Sie, verzeihen Sie, verehrtester Freund, zuviel Entgegenkommen würde uns zu weit führen. Ich kenne die Arbeiter, ich liebe sie, ich bin ein alter Republikaner, ein Demokrat vom alten Schlag. Aber wenn ich auch den Arbeitern das Recht zuerkenne, ihr Los zu verbessern, so werde ich nie aufhören, die grundstürzenden Theorien der Sozialisten zu bekämpfen, die einfach das Ende jeder zivilisierten Gemeinschaft bedeuten würden.''
Und in seiner Stimme zitterte noch die überstandene Angst nach, die Empörung des bedrohten Bürgers, das Bedürfnis nach Gewalt, das sich damals in dem Begehren geäußert hatte, das Militär herbeizurufen, um die Streikenden mit Flintenschüssen zur Arbeit zurückzutreiben.
»Ich habe in meiner Fabrik alles mögliche für die Arbeiter getan: Hilfskassen, Pensionskassen, billige Wohnungen, alle erdenklichen Wohltaten. Was also noch? Was wollen sie mehr? Das wäre ja das Ende der Welt, nicht wahr, Herr Delaveau?«
Der Direktor der Stahlwerke hatte sich bis jetzt darauf beschränkt, mit gesundem Appetit zu essen und zuzuhören, ohne sich in das Gespräch zu mischen.
»Oh, das Ende der Welt!« sagte er mit seiner ruhigen Festigkeit. »Ich will hoffen, daß wir die Welt nicht zugrunde gehen lassen werden, ohne ein wenig für ihren Fortbestand zu kämpfen. Ich bin der Ansicht des Herrn Unterpräfekten, der Streik ist in sehr zufriedenstellender Weise beendigt. Und ich habe sogar eine sehr gute Neuigkeit: Bonnaire, der Sozialist, Sie wissen ja, der Rädelsführer, den ich wieder aufzunehmen gezwungen war, der hat sich selbst gerichtet und gestern nacht die Werke verlassen. Er ist ein ausgezeichneter Arbeiter, aber ein überspannter Kopf, ein gefährlicher Schwärmer. Ja, ja, die Schwärmerei, die bringt den Menschen ins Verderben!«
Er war bestrebt, sich in seinen weiteren Reden als billig denkender, gerechter Mann zu zeigen. Jedermann habe das Recht, seine Interessen zu vertreten. Die Arbeiter hätten, indem sie in den Ausstand traten, geglaubt, ihre Interessen zu verfechten. Er, der Direktor der Werke, verfechte die Interessen des Kapitals, des Besitzes, den man ihm anvertraut habe. Und er sei sogar geneigt, hier einige Nachsicht walten zu lassen, da er sich als der Stärkere fühle. Seine einzige Pflicht sei, das Bestehende zu erhalten, die Fortdauer des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wie die Weisheit der Erfahrung es allmählich gestaltet habe, zu sichern. Das sei der einzige feste Grund und Boden, und alles, was diesen verlasse, sei verderbliche Schwärmerei. Er sprach auch von den Gewerkschaften, die er unerbittlich bekämpfte, da er in ihnen einen mächtigen Kriegsmechanismus spürte. Und wenn er schließlich triumphierend von der Beendigung des Kampfes sprach, so tat er dies lediglich als fleißiger Arbeiter, als guter Verwalter, der glücklich war, daß der Streik nicht mehr Schaden angerichtet hatte und nicht zur Katastrophe geworden war, die ihn verhindert hätte, dieses Jahr die Verpflichtungen zu erfüllen, die er gegen seinen Vetter übernommen hatte.
Die beiden Diener trugen eben gebratene Rebhühner auf, und der Kutscher, der für die Weine zu sorgen hatte, schenkte Saint-Emilion ein.
»Du kannst mir also bestimmt versichern«, sagte Boisgelin, »daß wir noch nicht zu Kartoffelnahrung verurteilt sind und daß wir ohne Gewissensbisse einen von diesen Rebhuhnflügeln essen dürfen?«
Dieser Scherz, den man ungemein geistreich fand, entfesselte allgemeines, lebhaftes Gelächter.
»Ich versichere es dir«, erwiderte Delaveau, ebenfalls lachend. »Schlafe und iß nur ruhig, die Revolution, die dein Einkommen vernichten wird, steht noch nicht vor der Tür.«
Lucas saß schweigend, während sein Herz höher schlug. So sah sie aus, die Lohnsklaverei, die die Arbeit der anderen ausbeutete. Das Kapital streckte fünf Frank vor, ließ den Arbeiter sieben daraus machen und verbrauchte den Überschuß von zwei Frank. Delaveau arbeitete wenigstens, setzte seine Geistes- und Körperkraft ein, aber Boisgelin, der nie das geringste geleistet hatte, mit welchem Rechte lebte er überhaupt? Lebhaften Eindruck machte auf Lucas auch die Haltung seiner Nachbarin, der schönen Fernande, die mit großem Anteil diesem für Frauen so wenig interessanten Gespräche folgte, während man ihr die freudige Erregung ansah über die Niederlage der Arbeiter, über den Sieg des Geldes, das sie mit ihren weißen Raubtierzähnen gierig zerbiß und verschlang. Ihre roten Lippen öffneten sich leicht und ließen ihre spitzen Zähne in einem Lächeln raffinierter Grausamkeit sehen, als ob sie endlich ihren Vergeltungs- und Schadensgelüsten Genüge getan hätte, zumal sie der sanften Frau gegenübersaß, die sie betrog, zwischen ihrem eleganten Geliebten, den sie beherrschte, und ihrem blinden Gatten, der ihr die erhofften Millionen erwarb. Sie schien berauscht von Blumenduft, Wein und Tafelgenüssen, berauscht besonders von der geheimen Wonne, ihre strahlende Schönheit als Werkzeug der Zerstörung und des Verderbens gebrauchen zu können.
»Gibt es denn nicht bald ein Wohltätigkeitsfest auf der Präfektur?« fragte Suzanne liebenswürdig, sich an Châtelard wendend. »Wie wär's, wenn wir nun von anderen Dingen als von Politik redeten?«
Der galante Unterpräfekt stimmte ihr lebhaft bei.
»Selbstverständlich, selbstverständlich, das ist unverzeihlich von uns! Ich will alle Feste geben, die Sie wünschen, gnädige Frau!«
Die Unterhaltung zersplitterte sich nun, und jeder sprach von dem, was seinem Interesse zunächst lag. Der Abbé Marie hatte sich begnügt, einzelne Sätze Delaveaus mit leichtem zustimmenden Nicken zu begleiten. Er trat mit großer Vorsicht auf in dieser Gesellschaft, die in ihm peinliche Gefühle erweckte durch die Zügellosigkeit des Hausherrn, durch den Skeptizismus des Unterpräfekten und die offene Feindschaft des Bürgermeisters, der antiklerikale Ideen zur Schau trug. Oh, wie der Groll in ihm gärte, gegen diese Gemeinschaft, zu deren Unterstützung er berufen war und die einem solchen Zusammenbruch zutrieb! Sein einziger Trost war die fromme Anhänglichkeit seiner Nachbarin, der schönen Leonore, die sich ausschließlich mit ihm befaßte und ihm liebenswürdige Worte sagte, während die anderen redeten. Freilich, auch sie lebte in der Sünde, aber sie beichtete ihre Sünden. Und schon hörte er sie sich vor dem Tribunal des Beichtstuhls anklagen, sie habe an den Genüssen der Tafel zuviel Wohlgefallen gefunden und nicht minder an der Nachbarschaft ihres Freundes Châtelard, dessen Knie während des Mahles liebevoll gegen ihr Knie gedrückt war. Ebenso hatte der gute Mazelle, der unbeachtet zwischen dem Präsidenten Gaume und dem Hauptmann Jollivet saß, den Mund nur geöffnet, um tüchtige Bissen hineinzustecken, die er langsam kaute, damit er sich den Magen nicht verderbe. Politische Fragen interessierten ihn nicht mehr, seitdem er, dank seiner Rente, vor allen Stürmen geborgen war. Aber er war gezwungen, den Theorien des Hauptmanns ein aufmerksames Ohr zu leihen, der mit Eifer die Gelegenheit ergriff, sich einem so wohlwollenden Zuhörer gegenüber ganz auszusprechen. Die Armee sei die Schule der Nation, Frankreich könne, seiner untilgbaren Tradition nach, nur ein kriegerischer Staat sein, der erst an dem Tage sein Gleichgewicht wiederfinden würde, da er ganz Europa erobert haben und mit dem Säbel beherrschen werde. Es ist Unsinn, den Militärdienst anzuklagen, daß er der Arbeit verderblich sei. Welcher Arbeit übrigens, wessen Arbeit? Was versteht man denn eigentlich darunter? Der Sozialismus ist nur ein kolossaler Schwindel. Es wird immer Soldaten geben und, weiter unten, Leute, die die unangenehmen Geschäfte besorgen müssen. Den Säbel kann man wenigstens sehen, aber wer hat je die Idee gesehen, die vielgerühmte Idee, die angebliche Beherrscherin der Welt? – Er lachte über seine eigene witzige Rede, und der gute Mazelle, der vor der Armee tiefen Respekt empfand, lachte gefällig mit, während Lucile, die Verlobte des Hauptmanns, ihren verschleierten Rätselblick auf ihm ruhen ließ und ihn schweigend, mit einem leichten, eigenartigen Lächeln beobachtete, als denke sie belustigt daran, wie er sich als Gatte ausnehmen werde. Und am anderen Ende der Tafel saß der junge Achille Gourier ebenfalls schweigend, Zeuge und Richter in einer Person, in den Augen den funkelnden Strahl der Verachtung, die ihm seine Familie ebenso einflößte wie ihre Freunde, mit denen sie ihn zwang, an einem Tische zu sitzen.
Aber da erhob sich wieder eine Stimme, die von allen gehört wurde, als man gerade eine Entenleberpastete, ein wahres Wunderwerk der Kochkunst, auftrug. Es war die Stimme der Frau Mazelle, die bis jetzt stumm über ihren Teller gebeugt gesessen hatte, nur damit beschäftigt, den Anforderungen ihrer Krankheit Genüge zu tun, die ihr reichliche und kräftige Nahrung vorschrieb. Und da Boisgelin, der sich ganz Fernanden widmete, sie vernachlässigte, hielt sie sich an Gourier, beschrieb diesem ihr Eheleben und betonte, wie vollständig sie mit ihrem Mann über die Erziehung einig sei, die sie ihrer Tochter Louise geben wollten.
»Ich will nicht, daß man ihr den Kopf mit zu vielerlei Kram beschwert. Fällt mir nicht ein! Wozu sie unnötigerweise quälen? Sie ist unser einziges Kind und wird einmal alles erben, was wir besitzen.«
Ohne klare Absicht, lediglich einer kleinen boshaften Regung nachgebend, der er nicht widerstehen konnte, warf Lucas hier plötzlich ein:
»Wissen Sie denn nicht, gnädige Frau, daß das Erbrecht aufgehoben werden wird? Und sehr bald sogar, sobald die neue Gesellschaftsordnung eingeführt ist.«
Alle Gäste hielten dies natürlich für Scherz, aber die Verblüffung von Frau Mazelle war so komisch zu sehen, daß alle ihr beizustehen trachteten. Das Erbrecht aufgehoben, welche Ungeheuerlichkeit! Das vom Vater erworbene Geld sollte den Kindern entrissen, diese sollten gezwungen werden, ihr Brot wieder selber zu verdienen? Selbstverständlich, entgegnete Lucas, das sei die logische Konsequenz des Sozialismus. Und als Mazelle seiner Frau erregt zu Hilfe kam und ausrief, daß er unbesorgt sei, sein ganzes Vermögen sei in Renten angelegt, und man werde es nie wagen, an das Staatsschuldenbuch zu rühren, erwiderte Lucas gelassen:
»Da sind Sie eben sehr im Irrtum, verehrter Herr. Das Staatsschuldenbuch wird verbrannt, die Renten werden für ungültig erklärt. Diese Maßregel ist beschlossene Sache.«
Dem Ehepaar Mazelle verging der Atem. Die Renten für ungültig erklärt! Das schien ihnen ebenso unmöglich, wie daß der Himmel auf ihre Köpfe niederstürze. Sie waren so fassungslos, so entsetzt durch diese Androhung des Umsturzes aller heiligsten Gesetze, daß Châtelard sich veranlaßt fühlte, sie mit spottender Gutmütigkeit zu beruhigen. Er wandte sich halb gegen das Kindertischchen, an dem trotz Pauls gutem Beispiel Nise und Louise sich nicht besonders gut aufgeführt hatten.
»Nicht doch, nicht doch«, sagte er, »das kommt noch nicht von heut auf morgen, und Ihre Kleine wird mittlerweile noch Zeit haben, groß zu werden und Kinder zu bekommen. Nur wäre es einstweilen gut, wenn man ihr das Gesicht abwischte, denn sie hat sich, wie es scheint, ordentlich beschmiert.«
Damit war wieder der Übergang zu Lachen und Fröhlichkeit gefunden. Alle hatten jedoch den Hauch des Kommenden, den Windstoß der Zukunft gefühlt, der wieder über diese Tafel hingefahren war und ihren aus Unrecht entstammten Luxus, ihre vergiftenden Genüsse hinweggefegt hatte. Und alle stellten sich als Schutzwehr vor die Rente, das Kapital, die bürgerliche und kapitalistische Gesellschaftsordnung, die auf der Lohnsklaverei beruht.
»Die Republik begeht einen Selbstmord an dem Tage, an dem sie an das Eigentum rührt«, sagte Gourier, der Bürgermeister.
»Wir haben Gesetze, und alles bricht zusammen, wenn sie nicht mehr angewendet werden«, sagte der Präsident Gaume.
»Auf alle Fälle ist die Armee da, und sie wird dafür sorgen, daß das Gesindel nicht zu Herren der Welt wird«, sagte der Hauptmann Jollivet.
»Vertrauen wir auf Gott, er ist die Güte und die Gerechtigkeit«, sagte der Abbé Marle.
Boisgelin und Delaveau begnügten sich damit, beizustimmen, denn ihnen eilten alle sozialen Mächte zu Hilfe. Und Lucas erkannte deutlich, wie die Regierung, die Beamtenschaft, die Justiz, die Armee, die Geistlichkeit mit allen Kräften die sterbende Gesellschaftsordnung stützten, das entsetzliche Gerüst der Ungerechtigkeit zu erhalten suchten, das die mörderische Arbeit der ungeheuren Mehrzahl zur Grundlage hat. Die schreckliche Vision des gestrigen Abends setzte sich hier fort. Nachdem er die Unterseite gesehen, sah er nun die Oberseite dieser in Auflösung begriffenen Gesellschaft, deren Bau auf allen Seiten klaffende Risse bekam. Und selbst hier, inmitten dieses Luxus, dieses triumphierenden Glanzes, hörte er das Knistern und Knacken, er sah sie alle von Unruhe ergriffen, sich betäuben, dem Abgrunde zueilen, wie alle Verblendeten, die von den Revolutionen weggeschwemmt werden. Um dem Ehepaar Mazelle wieder das volle Gefühl der Behaglichkeit zurückzugeben, stieß man, als der Champagner kam, auf das Nichtstun an, auf das göttliche Nichtstun, das nicht von dieser Welt ist. Und inmitten dieses prächtigen, fröhlichen Speisesaales, über den die großen Bäume draußen ein mildes grünes Licht streuten, versank Lucas in tiefes Sinnen. Ein mächtiger Gedanke, von dem er unbewußt erfüllt gewesen, begann klar und klarer in ihm zu werden: gerade angesichts dieser Leute, die die ungerechte und tyrannische Macht der Vergangenheit verkörperten, erkannte er die heilige Pflicht, für die Befreiung der Zukunft zu wirken.
Nach dem Kaffee, der im Salon gereicht wurde, schlug Boisgelin einen Spaziergang durch den Park bis zum Pächterhof vor. Während der ganzen Mahlzeit hatte er sich eifrig um Fernande bemüht, die ihn nach wie vor abweisend behandelte. Sie entzog ihm ihren Fuß unter dem Tisch, sie antwortete ihm nicht einmal und widmete ihr strahlendes Lächeln ausschließlich dem Unterpräfekten ihr gegenüber. Das dauerte nun schon acht Tage. Sie verweigerte ihm jede Zärtlichkeit, sobald er sich einmal erlaubte, irgendeine ihrer Launen nicht augenblicklich zu erfüllen. Der Grund ihrer gegenwärtigen Verstimmung war, daß sie verlangt hatte, er solle eine Parforcejagd veranstalten, lediglich weil sie das Vergnügen haben wollte, dabei in einem neuen Kostüm zu erscheinen. Er hatte sich erlaubt, nein zu sagen, denn die Kosten waren sehr groß. Obendrein hatte Suzanne, als sie von dem Plane hörte, ihn inständig gebeten, doch vernünftig zu sein. Damit war nun der Kampf zwischen den beiden Frauen erklärt, und es handelte sich darum, wer den Sieg davontragen würde, die Geliebte oder die Gattin. Während der Mahlzeit war dem sanften, traurigen Blicke Suzannens nichts von der gespielten Kälte Fernandens, noch von der ängstlichen Beflissenheit ihres Mannes entgangen. Als dieser daher den Spaziergang vorschlug, begriff sie sofort, daß es sich für ihn lediglich darum handelte, ein Alleinsein mit Fernande herbeizuführen, um sich zu verteidigen und sie wiederzugewinnen. Verletzt, außerstande, einen solchen Kampf zu führen, zog sie sich zurück und sagte, daß sie hierbleiben wolle, um Mazelles Gesellschaft zu leisten, die aus Gesundheitsrücksichten nach Tische niemals einen Schritt gingen. Präsident Gaume, seine Tochter Lucile und Hauptmann Jollivet erklärten ebenfalls, daß sie es vorzögen, ruhig sitzenzubleiben. Das hatte zur Folge, daß der Abbé Marle dem Präsidenten vorschlug, eine Partie Schach zu spielen. Der junge Achille Gourier hatte sich schon verabschiedet, glücklich, wieder mit seinen Gedanken allein durchs freie Feld schweifen zu können, indem er vorgab, sich für eine Prüfung vorzubereiten. Es beteiligten sich also an dem Spaziergang nur Boisgelin, der Unterpräfekt, das Ehepaar Delaveau, das Ehepaar Gourier und Lucas, und sie gingen langsam durch die hohen Bäume des Parkes dem Pächterhof zu.
Auf dem Hinweg teilte sich die Gesellschaft sehr korrekt: die fünf Herren gingen in einer Gruppe, und Fernande und Leonore folgten, anscheinend in ein vertrauliches Gespräch vertieft. Boisgelin erging sich in Klagen über das Unglück, das die Landwirtschaft verfolge: die Erde mache Bankerott, alle Landwirte gingen einem nahen Untergang entgegen. Châtelard und Gourier waren darüber einig, daß ein drohendes Problem, für das noch keine Lösung gefunden worden, sich hier auftue, denn damit der industrielle Arbeiter herstellen könne, müsse das Brot billig sein, und wenn das Korn billig sei, kaufe der verarmte Bauer die Industrieprodukte nicht. Delaveau glaubte, die Lösung sei in einem wohlangewendeten Schutzzollsystem zu suchen. Und Lucas, den diese Frage tief berührte, drängte alle zum Reden, erfuhr besonders manches von Boisgelin, der schließlich das Geständnis machte, daß seine Unzufriedenheit auf die Schwierigkeiten mit seinem Pächter, Feuillat, zurückzuführen war, dessen Ansprüche sich von Jahr zu Jahr steigerten. Er würde wohl gezwungen sein, sich anläßlich der Pachterneuerung von ihm zu trennen, da der Pächter eine zehnprozentige Ermäßigung des Pachtzinses verlange. Das schlimmste sei aber, daß der Pächter, da er fürchte, daß der Vertrag nicht erneuert werde, den Äckern keine Sorgfalt mehr zuwende und sie nicht mehr genügend dünge, indem er sagte, daß er nicht nötig habe, für den Gewinn seines Nachfolgers zu arbeiten. Dadurch werde der Boden unfruchtbar, dem langsamen Absterben überlassen.
»Und so ist es überall«, sagte Boisgelin. »Es kommt zu keinem Einverständnis mehr, die Arbeiter wollen sich an Stelle der Eigentümer setzen, und die Landwirtschaft leidet unter dem Streite. Zum Beispiel in Combettes – Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie da alles im Hader miteinanderliegt, welche Anstrengungen jeder Bauer macht, um seinem Nachbar zu schaden, wobei er sich zugleich selbst lähmt. Ach, die Feudalherrschaft hatte doch ihr Gutes! Alle diese Kerle würden arbeiten, wie sich's gebührt, wenn sie nichts hätten und überzeugt wären, daß sie niemals etwas haben werden!«
Über diesen unerwarteten Schluß mußte Lucas lächeln. Aber das unwillkürliche Eingeständnis, daß die fehlende Einigkeit allein schuld an dem angeblichen Bankerott der Erde trage, machte starken Eindruck auf ihn. Und nun traten sie aus dem Parke heraus, und sein Blick schweifte über die weitgedehnte Ebene der Roumagne, diesen wegen seiner Fruchtbarkeit einst so berühmten Boden, den man heute anklagte, daß er erkalte und seine Leute nicht mehr nähre. Zur Linken erstreckten sich die Felder des Pachthofes, während rechts die armseligen Dächer von Combettes sichtbar waren, umgeben von ungemein kleinen Äckern, durch Erbschaften immer noch mehr zerschnittenen Lappen, die dem Boden das Aussehen eines aus lauter Flicken zusammengesetzten Teppichs gaben. Wie sollte man es nur anstellen, daß die Einigkeit wiederkehre, daß alle qualvollen Anstrengungen sich zu der herrlichen Kraftwirkung der Gemeinsamkeit zusammenschließen, um durch alle das Glück aller zu fördern!
Als die Gesellschaft sich dem Pächterhofe näherte, drang aus dem ziemlich großen und gutgehaltenen Hause lauter, heftiger Streit heraus, begleitet von Flüchen und Faustschlägen auf den Tisch. Gleich darauf traten zwei Bauern in die Tür, der eine dick und schwerfällig, der andere mager und cholerisch. Nachdem sie sich noch zuletzt Drohworte zugerufen hatten, ging jeder auf einem anderen Wege querfeldein nach Combettes zu.
»Was gibt es denn, Feuillat?« fragte Boisgelin den Pächter, der auf der Schwelle des Hauses stand.
»Ach nichts, Herr Boisgelin. Wieder zwei Leute aus Combettes, die wegen eines Grenzsteins im Streit liegen und die mich gebeten hatten, ihr Schiedsrichter zu sein. Seit Jahren und Jahren, vom Vater auf den Sohn, leben die Lenfants und die Yvonnots in Zank und in Hader, so daß sie vor Wut aus der Haut fahren möchten, wenn sie sich nur sehen. Sie haben ja eben gehört, wie sie aufeinander losfahren. Und wie vernagelt diese Leute sind! Wie gedeihlich es für beide wäre, wenn sie nur ein bißchen nachdenken und sich vertragen würden!«
Gleich darauf schien es ihn aber zu reuen, daß er sich diesen Gedanken hatte entschlüpfen lassen. Sein Blick verschleierte sich, sein Gesicht verlor jeden Ausdruck, und er sagte in schwerfälligem Bauerntone:
»Wollen die Herren und Damen vielleicht hereinkommen und ein wenig ausruhen?«
Aber Lucas hatte das Funkeln seiner Augen gesehen. Er beobachtete mit Interesse den Mann, der, etwa vierzig Jahre alt, mit seiner hohen, hageren Gestalt, seinem erdfarbenen, scharf geschnittenen Gesicht wie von der heißen Sonne der Felder ausgetrocknet schien. Er verfügte offenbar über ungewöhnliche Intelligenz, wie aus dem Gespräch hervorging, das er nun mit Boisgelin führte. Dieser hatte ihn in heiterem Tone gefragt, ob er über die Frage der Pachterneuerung nachgedacht habe, und der Pächter antwortete kopfschüttelnd in kurzen, zurückhaltenden Worten, wie ein Diplomat, der die ernste Absicht hat, einen Erfolg zu erringen. Offenbar verbarg er seine eigentlichen Gedanken: die Erde für die, die sie bebauten, die Erde für alle, damit der Bauer sie wieder liebe und fruchtbar mache. Die Erde lieben? Er zuckte die Achseln. Sein Großvater und sein Vater hatten an ihr gehangen mit Leib und Seele. Was hatte es ihnen genützt? Er selber wollte sich ihr erst dann in Liebe zuwenden, wenn er sie für sich und die Seinen bearbeiten konnte, und nicht für einen Besitzer, dessen einziger Gedanke war, einen möglichst hohen Pachtzins einzustecken, und der sich beeilen würde, den Zins zu erhöhen im Augenblick, da es ihm, dem Pächter, gelungen war, eine reiche Ernte zu erzielen. Und noch eine Reihe von Gedanken barg sich hinter seinen Worten, lag in seinem hellen, vorausschauenden Blicke: Einigkeit der Bauern, Zusammenschließung aller dieser kleinen Bodenteile, gemeinschaftliche, intensive Bewirtschaftung mit modernen Maschinen. Diese nicht gewöhnlichen Ideen hatte er nach und nach in sich entwickelt, er verbarg sie vor den Städtern, die nichts davon zu wissen brauchten, aber sie schlugen doch manchmal unversehens in seinen Reden durch.
Die Gesellschaft hatte sich für eine Weile im Hause niedergelassen, und Lucas fand hier dieselben kahlen, getünchten Wände, denselben Geruch von Arbeit und Armut, die gestern bei den Bonnaires in der Rue des Trois-Lunes sein Herz so bedrückt hatten. Hier sah er auch die Frau Feuillats, hager und erdfarbig wie ihr Mann, wortkarg und ergeben, und ihren einzigen Sohn Léon, einen großen Jungen von zwölf Jahren, der seinem Vater schon mit an die Hand ging. Überall, beim Bauer wie beim Fabrikarbeiter, fand er die drückende, von Verwünschungen begleitete, zur Unehre, zur Schmach gewordene Arbeit, die den Sklaven nicht einmal genügend ernährte, der an seine mechanische Verrichtung wie an eine Galeere geschmiedet war. Im benachbarten Dorfe, in Combettes, war die Not noch größer: hier lebten in armseligen Hütten die Lenfants mit ihrem Arsène und ihrer Olympe, die Yvonnots mit ebenfalls zwei Kindern, Eugénie und Nicolas, auf dem Düngerhaufen des Elends zusammengedrängt, ihre Leiden noch durch wütenden Kampf untereinander vermehrend. Und Lucas beobachtete, hörte, sah in diese soziale Hölle hinein, indem er sich sagte, daß die Lösung des Problems nur hier liege, denn an dem Tage, da eine neue menschliche Gesellschaft aufgerichtet sein werde, müsse man auch zur Erde zurückkehren, zur ewigen Allmutter und Allernährerin, die allein den Menschen das tägliche Brot gewähren kann.
Als sie das Haus verließen, sagte Boisgelin zu Feuillat:
»Nun, Sie werden sich die Sache noch reiflich überlegen, mein Freund. Der Boden ist wertvoller geworden, und so ist es nur billig, daß auch ich meinen Vorteil dabei habe.«
»Ich habe alles reiflich überlegt, Herr Boisgelin«, erwiderte der Pächter. »Ich will ebenso gern auf der Straße verhungern wie auf Ihrem Pachthof.«
Auf dem Rückweg nach der Guerdache schlug die Gesellschaft einen anderen, einsameren und schattigeren Weg durch den Park ein, und neue Gruppen bildeten sich. Der Unterpräfekt und Leonore gingen langsam und blieben bald weit zurück, begnügten sich jedoch, ruhig miteinander zu plaudern. Boisgelin und Fernande bogen seitwärts ab und waren schließlich ganz verschwunden, um auf einsamen Waldpfaden ein sehr lebhaftes Gespräch zu führen. Mit gleichmäßig ruhigen Schritten setzten Gourier und Delaveau ihren Weg fort und unterhielten sich über einen Artikel über das Ende des Streiks, den das »Journal de Beauclair« gebracht hatte, ein Blatt, das in fünfhundert Exemplaren gedruckt wurde, dessen Herausgeber ein gewisser Lebleu, ein kleiner klerikaler Buchhändler war, und für das der Abbé Marle und Hauptmann Jollivet zuweilen Artikel schrieben. Der Bürgermeister beklagte es, daß man den lieben Gott in die Sache hineingezogen habe, obschon er selbstverständlich gleich dem Direktor von Herzen mit dem Triumphgesang des Blattes einverstanden war, das mit lyrischem Schwung den Sieg des Kapitals über die Arbeiter feierte. Lucas, der neben ihnen ging, wurde des Gespräches bald so überdrüssig, daß er zurückblieb und dann aufs Geratewohl in den Wald einbog, ohne sich viel Sorgen darüber zu machen, ob er den Rückweg zum Herrenhause finden würde.
Welche herrliche Einsamkeit inmitten dieser hohen Stämme, durch deren Laubdach der warme Goldregen der Septembersonne rieselte! Eine Weile ging er achtlos vor sich hin, glücklich, endlich allein zu sein, in der reinen Natur aufatmen zu können, wie befreit von der Last, mit der diese Leute ihm Kopf und Herz bedrückt hatten. Trotzdem dachte er eben daran, sich ihnen wieder anzuschließen, als er plötzlich auf die weiten Wiesen hinaustrat, die an der Straße nach Formeries lagen und in deren Mitte der von einem Seitenarm der Mionne gespeiste große Teich lag. Und hier bot sich ihm eine Szene, die ihn sehr belustigte, die zugleich anmutig und voller Verheißung war.
Paul Boisgelin hatte die Erlaubnis erhalten, seine beiden kleinen Gäste Nise Delaveau und Louise Mazelle, deren dreijährige Füßchen einer weiten Wanderung nicht gewachsen waren, bis hierher zu führen. Die Mädchen, denen sie anvertraut waren, saßen in einiger Entfernung unter einer Weide, schwatzten miteinander und überließen die Kinder sich selbst. Aber das abenteuerliche war, daß der künftige Erbe der Guerdache und die beiden Miniaturdämchen den Teich von drei Kindern aus dem Volke besetzt fanden, drei unternehmenden kleinen Barfüßlern, die offenbar eine Mauer überklettert oder eine Hecke durchkrochen hatten, um hierher zu gelangen. Lucas erkannte zu seiner Überraschung Nanet, das Haupt und die Seele der Expedition, und mit ihm Lucien und Antoinette Bonnaire, die er sicherlich verleitet und dank dem freien Sonntag so weit von der Rue des Trois-Lunes weggeführt hatte. Und der Zweck ihres Eindringens in den Park war dem Zuschauer bald klar. Lucien hatte ein kleines Schiff erfunden, das von selber ging, und Nanet hatte sich erboten, ihn zu einem Teich zu führen, den er kannte, einem schönen Teich, an dem man niemals jemand traf. Das kleine Schiff lief nun tatsächlich von selber über das spiegelglatte Wasser. Es war ein Wunderding.
Lucien hatte nämlich die einfache und geniale Idee gehabt, das Triebrad eines Rollwägelchens, eines Kinderspielzeuges, auf seinem Schiffe, das aus einem ausgehöhlten Stück Fichtenholz bestand, zu befestigen und es mit dem Schaufelrad, das er daran angebracht hatte, in Verbindung zu bringen. Das Schiffchen lief gute zehn Meter weit, ehe es wieder aufgezogen werden mußte. Das unangenehme war nur, daß er es, wenn es abgelaufen war, mit Hilfe einer Stange wieder zurückholen mußte, wobei er jedesmal beinahe ins Wasser fiel.
Starr vor Staunen und Bewunderung waren Paul und seine beiden Gäste am Rande des Teiches stehengeblieben. Louise besonders, deren Augen in ihrem winzigen, launenhaften Gesichtchen leuchteten, war alsbald die Beute einer unzähmbaren Begierde. Sie streckte die Händchen aus und schrie:
»Mir geben! Mir geben!«
Sie lief zu Lucien hin, der das Schiffchen eben mit der Stange hereingeholt hatte, um es wieder aufzuziehen. Die Unverdorbenheit ihrer Naturen, die gemeinsame Freude an dem Spielzeug machte sie sofort vertraut.
»Das hab' ich selber gemacht, weißt du?«
»Oh, laß sehen, gib mir's!«
Aber er wollte nicht, er verteidigte sein Eigentum gegen die zerstörenden Händchen.
»O nein, dieses nicht, es war sehr schwer, es zu machen. Du wirst es zerbrechen, laß los!«
Aber bald gab er nach, denn er fand sie reizend, sie war so lustig, so fein und roch so gut.
»Ich mach' dir auch eins, wenn du willst.«
Dann setzte er das Schiffchen wieder aufs Wasser, und als die Schaufeln sich drehten und das Fahrzeug hinglitt, klatschte sie begeistert in die Hände und rief, ja, sie wolle auch eins. Sie war nun vollständig erobert, setzte sich zu ihm ins Gras und wich ihm nicht von der Seite.
Paul, der älteste von allen, der mit seinen sieben Jahren schon ein kleiner Mann war, fühlte jedoch unklar die Verpflichtung, sich ein wenig zu unterrichten. Er hatte sein Augenmerk auf Antoinette gerichtet, deren fröhliches, gesundes und hübsches Gesicht ihm Zuversicht einflößte.
»Wie alt bist du denn?«
»Ich bin vier Jahre alt, aber Vater sagt, daß ich aussehe wie sechs.«
»Vater ist Vater, was fragst du so dumm!«
Sie lachte so lustig dabei, daß er sich mit der Antwort zufrieden gab und nicht weiter fragte. Er hatte sich ebenfalls neben sie gesetzt, und sie waren bald die besten Freunde. Er bemerkte nicht, daß sie ein ärmliches und gar nicht feines Wollkleidchen trug, so sehr zog ihn ihre frische, gesunde Art und ihre fröhliche Unbekümmertheit an.
»Und dein Vater? Gehören ihm alle diese Bäume? Oh, wieviel Platz hast du da zum Spielen! Wir sind durch ein Loch in der Hecke durchgekrochen, weißt du.«
»Du, das ist verboten. Es ist mir auch verboten, hierherzukommen, weil ich ins Wasser fallen könnte. Und hier ist's so lustig! Es darf niemand wissen, daß wir da sind, sonst werden wir alle bestraft.«
Da ereignete sich ein kleines Drama. Nanet mit den blonden, krausen Haaren hatte sich in Nise vergafft, deren Kopf noch blonder und krauser war als seiner. Die beiden Kleinen, die zwei Spielzeugen glichen, gingen ohne weiteres aufeinander zu, als ob ihre Begegnung eine notwendige Sache wäre und sie einander erwartet hätten. Sie faßten sich an den Händen und stießen sich spielend hin und her, indem sie einander anlachten. Nanet, der den Tapferen spielte, sagte:
»Der mit seinem Schiff, ich brauchte keine Stange, um es zu holen! Ich würde ganz einfach ins Wasser steigen.«
Nise, die ebenfalls eine Freundin ungewöhnlicher Spiele war, nahm den Gedanken mit Begeisterung auf.
»Ja, ja, wir steigen alle ins Wasser! Ziehn wir uns alle die Schuhe aus!«
Aber als sie sich vorbeugte, wäre sie beinahe ins Wasser gefallen. Ihr ganzer Kinderübermut verließ sie im Augenblick, als sie die Nässe an den Schuhen spürte, und sie stieß einen durchdringenden Schrei aus. Nanet jedoch faßte sie mutig mit seinen schon kräftigen kleinen Armen, hob sie auf und trug sie wie eine Trophäe einige Schritte weit, wo er sie ins Gras niedersetzte. Der kleine Schreck war augenblicklich vergessen, sie lachte wieder und kugelte gleich darauf mit ihrem neuen Freunde fröhlich durch das Gras. Aber der schrille Schrei hatte die Dienstmädchen aus ihrer schwatzenden Vergeßlichkeit aufgestört. Sie eilten herbei und sahen mit Entsetzen die barfüßigen Proletarierkinder, die weiß Gott woher gekommen waren und die frech genug waren, sich mit den vornehmen, ihrer Hut anvertrauten Kindern zu vergnügen und sie zu verführen. Sie sahen so wütend und unheilverkündend aus, als sie herbeiliefen, daß Lucien eiligst sein Schiffchen ergriff und davonrannte, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, hinter ihm Antoinette und Nanet, die instinktiv seinem Beispiel folgten. Sie liefen bis zur Hecke, warfen sich zu Boden, schlüpften durch und verschwanden, während die beiden Dienstmädchen die drei Kinder nach der Guerdache zurückführten, indem sie ihnen einschärften, ja nichts von dem Geschehenen zu sagen, damit niemand Schelte bekomme.
Lucas lachte still in sich hinein, voll innigen Vergnügens an der hübschen Szene, die er da unter der mütterlichen Sonne, in der freien, wohlwollenden Natur beobachtet hatte. Ach, wie schnell verstanden sie sich, die lieben Kleinen, wie leicht lösten sie alle Schwierigkeiten in Unkenntnis der brudermörderischen Kämpfe der Erwachsenen, welch herrlichen Zukunftstraum verkörperten sie in ihrer unverfälschten Menschlichkeit!
Fünf Minuten später war Lucas beim Herrenhause und damit wieder mitten in die abscheuliche, von Egoismus vergiftete Gegenwart versetzt, die zum Schauplatze der erbitterten Kämpfe aller Leidenschaften geworden ist. Es war vier Uhr, und die Gäste nahmen Abschied.
Einige Schritte links von der Freitreppe sah Lucas wieder Herrn Jérôme in seinem Rollstuhl. Er war von seiner Spazierfahrt zurückgekehrt und hatte dem Diener ein Zeichen gegeben, an dieser Stelle zu halten, als wollte er hier, in der warmen, schon tiefstehenden Sonne, die Verabschiedung der Gäste mit ansehen. Auf der Treppe warteten Suzanne und alle anderen nur noch auf den Hausherrn und Fernande, die noch nicht da waren. Erst nach einigen Minuten kamen sie langsam und ruhig plaudernd heran, als sei dieses lange Alleinsein zu zweien die natürlichste Sache von der Welt. Suzanne forderte keine Erklärung, aber Lucas sah das leichte Zittern ihrer Hände und den bitteren Zug in dem liebenswürdigen Lächeln, das sie als Hausfrau ihren Gästen zeigen mußte. Und, aufs tiefste verletzt, konnte sie sich nicht enthalten, zusammenzuzucken, als Boisgelin sich an Hauptmann Jollivet wandte und ihm sagte, daß er demnächst bei ihm vorsprechen werde, um mit seinem Rat und unter seiner Mithilfe die Parforcejagd zu veranstalten die er schon lange geplant habe, ohne bisher ganz entschlossen gewesen zu sein. So war es also entschieden, die Gattin war geschlagen, die Geliebte hatte den Sieg errungen und die Erfüllung ihrer tollen und verschwenderischen Laune durchgesetzt. Eine heftige Empörung wallte in Suzanne auf. Warum nahm sie nicht ihr Kind und ging aus dem Hause? Dann beherrschte sie sich und nahm wieder ihre ruhige Würde an, bewahrte die Ehre ihres Namens und ihres Hauses mit der Selbstverleugnung der anständigen Frau, verschloß sich wieder in das heldenhafte Schweigen, das sie als Schutzwehr gegen den sie umgebenden Schmutz aufgerichtet hatte. Und Lucas, der alles erriet, fühlte ihre Seelenqual nur noch in dem Zittern der armen, fieberheißen Hand, die sie ihm zum Abschied reichte.
Herr Jérôme blickte auf alle diese Vorgänge mit seinen starren, wasserklaren Augen, die die Frage aufwarfen, ob hinter ihnen noch Gedanken, noch ein Geist lebte, der begriff und beurteilte. Dann blickte er auf die Abfahrt der Gäste, wie auf einen Aufzug aller gesellschaftlichen Machtfaktoren, aller sozialen Autoritäten, aller Herren, die dem Volke als Beispiel dienen. Châtelard nahm außer Gourier und seiner Frau auch den Abbé Marle mit, dem Leonore den Platz an ihrer Seite anbot, während der Unterpräfekt und der Bürgermeister ihnen freundschaftlich gegenübersaßen. Hauptmann Jollivet entführte seine Braut Lucile und deren Vater, den Präsidenten Gaume, dessen Blicke voll Unruhe die Turteltaubenbewegungen seiner Tochter verfolgten. Endlich bestiegen Mazelles den großen Landauer, der sie hergeführt hatte, um darin wie in einem weichen Bett ihre Verdauung zu vollenden. Und Herr Jerôme, den alle nach der Sitte des Hauses schweigend grüßten, folgte ihnen mit den Blicken, wie ein Kind vorüberziehenden Schatten nachblickt, ohne daß irgendein Gefühl die Linien seines kalten Gesichtes veränderte.
Es blieben nur noch das Ehepaar Delaveau und Lucas, und der Direktor wollte durchaus Lucas in Boisgelins Wagen mitnehmen, damit er den Weg nicht zu Fuß machen müsse. Es sei das einfachste Ding von der Welt, ihn zu Hause abzusetzen, da sie ja an der Crêcherie vorbeiführen. Da der Wagen nur noch einen Klappsitz enthielt, so wollte Fernande die Kleine auf den Schoß nehmen, und das Dienstmädchen sollte beim Kutscher sitzen. Delaveau drang mit großer Liebenswürdigkeit in Lucas:
»Wirklich, Herr Froment, es ist mir ein Vergnügen, Sie mitzunehmen.«
Lucas mußte schließlich annehmen. Boisgelin sprach taktloserweise wieder von der Parforcejagd und erkundigte sich beflissen, ob der junge Mann noch lange genug in Beauclair bleibe, um daran teilzunehmen. Lucas erwiderte, daß er darüber noch nichts Bestimmtes wisse, daß Boisgelin aber wohl nicht auf ihn werde zählen können. Suzanne hörte ihm mit schwachem Lächeln zu und drückte ihm dann nochmals die Hand, die Augen von dem Gefühl ihrer gegenseitigen geschwisterlichen Sympathie befeuchtet.
»Auf Wiedersehen, lieber Freund!«
Und als der Wagen sich endlich in Bewegung setzte, begegnete Lucas zum letzten Male den Augen Herrn Jêrômes, dessen Blick langsam von Fernande zu Suzanne zu wandern schien, wie in stummer Beobachtung der letzten Zerstörung, von der sein Geschlecht bedroht war. War dies nicht bloß eine Täuschung, erschien nicht vielmehr in seinen Augen einfach das einzige Gefühl, das zuweilen kaum merklich darin erwachte, wenn er seine geliebte Enkelin ansah, die einzige, die er liebte und noch erkennen wollte?
Als sie miteinander nach Beauclair fuhren, verstand Lucas sehr bald, warum Delaveau solchen Wert darauf gelegt hatte, ihn mitzunehmen. Der Direktor brachte das Gespräch sofort wieder auf seine plötzliche Berufung nach Beauclair, wollte erfahren, zu welchem Zwecke er gekommen sei und was Jordan in bezug auf die Direktion seines Hochofens zu veranlassen gedenke, da Laroche, der alte Ingenieur, gestorben sei. Delaveau nährte schon lange den geheimen Plan, den Hochofen, sowie das große Gebiet, das zwischen diesem und seinen Werken lag, anzukaufen, um den Wert der Werke dadurch zu verdoppeln. Aber dazu bedurfte es großer Summen, die er in nächster Zeit nicht zur Verfügung haben konnte, und er hatte daher stets nur auf eine langsame und allmähliche Ausdehnung gerechnet. Der plötzliche Tod Laroches hatte jedoch seine Begierde entflammt und in ihm die Hoffnung erweckt, daß es ihm vielleicht gelingen könnte, mit Jordan ein Abkommen zu treffen, der, wie er wußte, das Verlangen empfand, sich von einem Unternehmen zu befreien, dessen Führung ihm eine Last war. Daher erregte das plötzliche Eintreffen Lucas' eine große Unruhe in ihm, denn er fürchtete, daß Lucas sein Projekt durchkreuzen könnte. Schon nach den ersten, in gutmütig vertraulichem Tone gestellten Fragen wurde Lucas mißtrauisch, obgleich er noch nicht alles durchschaute, und er antwortete ausweichend:
»Ich weiß gar nichts, ich habe Jordan seit mehr als einem halben Jahr nicht gesehen. Die Leitung seines Hochofens wird er wohl ganz einfach irgendeinem tüchtigen jungen Ingenieur anvertrauen.«
Er bemerkte, daß Fernande den Blick nicht von ihm wandte, während er sprach. Die schlafende Nise auf dem Schoße, saß sie schweigend da und hörte mit gespanntem Interesse zu, als ob sie ahnte, daß ihr Schicksal sich hier entscheide. Sie heftete ihre Augen auf diesen jungen Mann, in dem sie sofort einen Feind gewittert hatte. Hatte er nicht Partei für Suzanne ergriffen, hatte sie nicht beobachten können, wie vertraut sie miteinander waren, wie geschwisterlich ihre Hände sich vereinigt hatten? Und nun fühlte sie, daß der Krieg zwischen ihm und ihr erklärt war, und auf ihrem schönen Gesichte erschien ein leichtes, grausames Lächeln, der Widerschein des festen Entschlusses, den Sieg zu erringen um jeden Preis.
»Ich spreche nur davon«, sagte Delaveau und trat den Rückzug an, »weil ich oft gehört habe, daß Jordan daran denkt, sich nur seinen Forschungen zu widmen. Er hat schon wunderbare Erfindungen gemacht.«
»Wunderbare Erfindungen!« wiederholte Lucas begeistert.
Der Wagen hielt am Tor der Crêcherie, Lucas stieg ab, dankte und war allein. Er fühlte sein ganzes Wesen verwandelt, durchzittert von dem Schauer der zwei Tage, die ein wohltätiges Schicksal ihn seit seiner Ankunft in Beauclair hatte erleben lassen. Er hatte die beiden Seiten der verabscheuungswürdigen Welt gesehen, deren morsches Gebälk in allen Fugen krachte: das ungerechte Elend der einen, den vergiftenden Reichtum der anderen. Die schlecht bezahlte, verachtete, ungerecht verteilte Arbeit war zur Qual und zur Schande geworden, während sie der Schmuck, die Gesundheit, die Ehre des Menschen sein sollte. Sein Herz wollte zerspringen, sein Hirn fieberte im Vorgefühl der Geburt des Gedankens, den er seit Monaten in der Seele trug. Ein Schrei nach Gerechtigkeit löste sich aus seinem ganzen Wesen, er fühlte, daß er keine andere Aufgabe im Leben hatte, als den Unglücklichen zu Hilfe zu eilen und alles daran zu setzen, um ein wenig Gerechtigkeit auf Erden zu erobern.