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Drei Jahre gingen hin, und Lucas gründete seine neue Fabrik, die eine ganze Arbeiterstadt ins Leben rief. Ihr Gebiet umfaßte mehr als einen Quadratkilometer auf einem großen Gebiet unterhalb der vorspringenden Felswand der Monts Bleuses, das sich in sanfter Senkung vom Park der Crecherie bis zu den Gebäuden der Hölle erstreckte. Da der Anfang sich in bescheidenen Grenzen halten mußte, war zunächst nur ein Teil dieses Gebietes verwendet worden, das übrige war den erhofften Vergrößerungen der Zukunft vorbehalten.
Die Fabrikgebäude lehnten sich an die vorspringende Felswand, gerade unterhalb des Hochofens, mit dem die Werkstätten durch zwei Aufzüge verbunden waren. In Erwartung der Umwälzung, die die elektrischen Öfen hervorrufen sollten, hatte sich Lucas übrigens nur wenig mit dem Hochofen befaßt, hatte ihn lediglich in einigen Einzelheiten verbessert und ließ ihn sonst unter der Leitung Morfains in althergebrachter Weise betreiben. Aber in der Einrichtung der Fabrik hatte er alle erreichbaren Verbesserungen und Fortschritte in bezug auf Bauten und auf Maschinen durchgeführt, um die Leistungsfähigkeit des Werkes zu steigern und zugleich die Mühe der Arbeiter zu verringern. Und ebenso hatte er es darauf angelegt, daß die Häuser seiner Arbeiterstadt, deren jedes in einem Garten stand, behagliche Wohnstätten seien, in denen das Familienleben fröhlich blühen sollte. Etwa fünfzig solcher Häuser standen bereits auf dem an den Park der Crêcherie anstoßenden Gebiet, eine kleine Stadt, die gegen Beauclair hin vordrang. Denn jedes neue Haus war wie ein Schritt weiter zur Stadt der Zukunft, zur Eroberung des alten schuldbeladenen und verdammten Ortes. Inmitten des von den Häusern bedeckten Gebietes hatte Lucas das Gemeindehaus errichten lassen, ein großes Gebäude, in dem sich die Schulen, eine Bibliothek, ein Festsaal, ein Spielsaal und ein Bad befanden. Das war alles, was er von dem System Fouriers beibehalten hatte, während er sonst jeden, ohne ihn an eine bestimmte Linie zu binden, nach seinem Gefallen bauen ließ, und den Zwang der Gemeinschaft nur für gewisse öffentliche Dienste geltend machte. Und hinter dem Gemeindehaus endlich waren die allgemeinen Verkaufsstellen errichtet, die sich von Tag zu Tag erweiterten und in denen die Arbeiter ihr Gebäck, ihr Fleisch, alle sonstigen Genußmittel, Kleider, Utensilien und kleine Gebrauchsgegenstände kaufen konnten, eine gegenseitige Konsumgenossenschaft, die die Ergänzung der gegenseitigen Produktionsgenossenschaft bildete, die das Werk betrieb. Alles dies war natürlich nur ein kleiner Anfang, aber es wuchs und gedieh, und es war schon ein Urteil über das Gelingen des Werkes möglich. Lucas hätte so rasch nicht vorwärtskommen können, wenn er nicht den glücklichen Gedanken gehabt hätte, die Bauarbeiter ebenfalls an seiner Arbeit zu interessieren. Besondere Freude bereitete es ihm aber, daß es ihm gelungen war, die verschiedenen Quellen der oberen Felspartien zu fassen und zu vereinigen, so daß sie nun die entstehende Stadt und die Werkstätten mit einer Flut frischen und reinen Wassers durchrieselten, das die Bäder versorgte, die blühenden Gärten begoß und in jedes Haus Erquickung und Gesundheit brachte.
Eines Morgens kam Fauchard, der Zieher, nach der Crêcherie, um hier einige frühere Kameraden zu besuchen. Er, der willensschwache und unentschlossene Mensch, war in der Hölle geblieben, während Bonnaire seinen Schwager Ragu in die neuen Werke mit herüberbrachte, der wiederum Bourron bestimmt hatte, ihm zu folgen. Diese drei arbeiteten also hier, und zu ihnen kam Fauchard, um einige Fragen an sie zu stellen, da er unfähig war, einen Entschluß zu fassen, in der Stumpfheit, in die ihn fünfzehn Jahre derselben Arbeit, mit stets derselben Bewegung inmitten derselben Feuersglut versenkt hatten. Seine Entartung, seine geistige Trägheit waren so groß geworden, daß er seit Monaten diesen Besuch geplant hatte, ohne die Willenskraft zu finden, ihn auszuführen. Und als er nun die Crêcherie betrat, geriet er in Erstaunen.
Nach der schwarzen, schmutzigen, staubigen Hölle, deren plumpe, vernachlässigte Gebäude nur schwach durch kleine Fenster erhellt waren, wirkte es schon wie ein Wunder auf ihn, die leichten, weiten, aus Ziegeln und Eisen erbauten Hallen der Crêcherie zu betreten, durch deren große Fenster Luft und Licht in breiten Strömen eindrangen. Alle Fußböden waren mit Zement belegt, wodurch der schädliche Staub bedeutend vermindert wurde. Überall war Wasser im Überfluß vorhanden, so daß alles oft gewaschen werden konnte. Und da es fast keinen Rauch gab, herrschte überall die größte Reinlichkeit, die leicht aufrechtzuerhalten war. Die düstere Höhle des Riesen hatte weiten, hellen, sauberen und fröhlichen Werkstätten Platz gemacht, die die Härte der Arbeit milderten. Allerdings war die Verwendung der Elektrizität noch beschränkt, das Getöse der Maschinen war noch immer betäubend, die menschliche Anstrengung war nicht wesentlich verringert. Kaum ließen einige, bisher nicht erfolgreiche Versuche mit mechanischen Hilfsmitteln bei den großen Öfen und den Tiegelgußöfen die Hoffnung zu, daß es eines Tages gelingen werde, die menschlichen Arme von den allzu schweren Verrichtungen zu entlasten. Man war noch bei den ersten tastenden Schritten auf dem Wege zur Zukunft. Aber doch, welche Verbesserung bedeuteten schon diese einfache Reinlichkeit, diese von Licht und Luft durchfluteten weiten Hallen, diese Heiterkeit überall, die die Arbeit weniger qualvoll für den Arbeiter machte! Und welch drückender Gegensatz hierzu die finsteren, abstoßenden Höhlen, in denen die Arbeiter der alten benachbarten Fabriken sich in freudloser Mühe abquälten.
Fauchard dachte Bonnaire, den Werkmeister, an seinem Ofen zu finden, und war überrascht, als er sah, daß er in derselben Halle ein Schienenwalzwerk beaufsichtigte.
»Wie, du hast das Gießen aufgegeben?«
»Nein, aber wir machen hier alles. Das ist die Vorschrift: zwei Stunden diese Arbeit, zwei Stunden diese. Und wirklich, man ruht sich dabei etwas aus.« In Wirklichkeit bereitete es Lucas aber ziemliche Schwierigkeit, die von ihm angeworbenen Arbeiter dazu zu bringen, etwas anderes zu tun als ihre altgewohnte Verrichtung. Die vollständige Durchführung der Reform war erst in späterer Zeit möglich, nachdem die jungen Leute des Nachwuchses sich in der Lehre verschiedene Fertigkeiten nacheinander angeeignet hatten. Die Arbeit konnte nur anziehend gemacht werden, indem der Arbeiter seine Tätigkeit häufig wechselte und auf jede Art der Verrichtung nur wenige Stunden verwendete.
»Oh«, seufzte Fauchard, »das würde mir wohltun, wenn ich einmal was anderes tun dürfte als immer nur Tiegel aus meinem Ofen herauszuheben. Aber ich kann nicht, es geht nicht.«
Das klappernde Getöse der Walzwerke war so stark, daß er laut schreien mußte. Er schwieg und benutzte eine kurze Pause, um Ragu und Bourron zu begrüßen, die alle Hände voll zu tun hatten, um die Schienen in Empfang zu nehmen. Die ganze Prozedur war ihm fast wieder neu. In der Hölle wurden jetzt keine Schienen mehr gemacht, und er sah der Herstellung mit wirren Gedanken zu, denen er keinen Ausdruck hätte geben können. In seiner Verstumpfung, in seiner körperlichen und geistigen Verkommenheit litt er besonders unter dem unklaren Gefühl, daß er ein Mensch von Intelligenz und Willenskraft hätte sein können. Ein kleines Flämmchen brannte noch in ihm, wie das einer Nachtlampe, die nicht erlischt. Und welch traurig drückendes Bewußtsein, daß er hätte können ein freier, gesunder und fröhlicher Mensch sein, ohne den Kerker, in den die Lohnsklaverei ihn geworfen hatte! Die Schienen, die sich immerzu verlängerten und verlängerten, waren wie eine Straße, wie eine Bahn ohne Ende, auf der seine Gedanken hinglitten und sich in die Zukunft verloren, die keine Hoffnung für ihn barg und deren er sich nicht einmal klar bewußt war.
In der nächsten, der großen Gußhalle, befand sich ein Schmelzofen für schwere Stücke. Das geschmolzene Metall floß in große, mit Ton ausgekleidete Pfannen, aus denen es dann mechanisch in die Formen gegossen wurde. Elektrische Brückenkräne von außerordentlicher Kraft hoben dann die mächtigen Gußblöcke auf und brachten sie zu den Walzwerken und von dort in die Bohr- und Vernietungswerkstätten. Besonders für die großen Stücke, für die gewaltigen Brücken- und Bauträger aller Art, gab es riesige Walzwerke, die die Blöcke in die gewollte Form brachten und sie nach Bedarf auch bogen, so daß sie vollständig zum Aufmontieren bereit waren. Die Walzenstraßen für die gewöhnlichen Träger und Schienen, die in immer gleichbleibenden Profilen hergestellt werden, arbeiteten mit außerordentlicher Gleichmäßigkeit und Schnelligkeit. Aus dem Glühherd kam der Stahlblock kurz und dick wie ein menschlicher Rumpf, blendende Helle ausstrahlend, hervor und wurde in das erste Kaliber der sich gegeneinander drehenden Walzen gelegt. Verdünnt und gestreckt kam er in die Öffnung des zweiten Kalibers, aus dem er wieder dünner und gestreckter hervorging. Und so, von Kaliber zu Kaliber, formten die Walzen das Stück immer mehr, bis es endlich das richtige Profil der Schiene und die regelmäßige Länge von zehn Metern erhalten hatte. Alles dies vollzog sich unter betäubendem Getöse in den Zahnrädern und zwischen den Walzen, ähnlich dem Zähneknirschen eines Riesen, der all dieses Eisen zerkaute. Und Schienen folgten auf Schienen mit außerordentlicher Schnelligkeit, man konnte kaum den Verwandlungen des Rohstückes folgen, bis es als neue Schiene hervorquoll, um sich den anderen verlängernd anzuschließen, als ob sie als stählerne Bahnen sich immer weiter erstrecken und, alle noch unbekannten Länder durchdringend, einen Ring um die Erde schließen wollten.
»Für wen ist denn das alles bestimmt ?« fragte Fauchard betäubt.
»Für die Chinesen«, erwiderte Ragu scherzend.
In diesem Augenblicke kam Lucas an den Walzwerken vorbei. Er verbrachte gewöhnlich den Vormittag in den Werkstätten, warf einen Blick in jeden Raum und sprach kameradschaftlich mit den Arbeitern. Er war genötigt gewesen, die hergebrachte Rangordnung mit Werkmeistern, Aufsehern, Ingenieuren, Fabrikbeamten und kaufmännischer Direktion beizubehalten. Aber er war darauf bedacht, die Anzahl der Vorgesetzten und Beamten soviel wie möglich herabzusetzen, und erzielte damit erhebliche Ersparnisse. Seine ersten Erwartungen und Hoffnungen hatten sich übrigens bereits erfüllt: obgleich die einstigen reichen Erzadern noch nicht wieder aufgefunden worden waren, gab schon das jetzt geförderte Erz nach chemischer Behandlung brauchbares Roheisen mit billigen Gestehungskosten, und damit war die Herstellung von Schienen und Trägern lohnend genug geworden, um der Fabrik einen guten Ertrag zu sichern. Alle Beteiligten konnten leben, der Umsatz stieg von Jahr zu Jahr, und das war für ihn das Wesentliche, denn ihm war es darum zu tun, die Zukunft des Werkes zu sichern, und er war gewiß, den Sieg zu erringen, wenn die Arbeiter bei jeder Gewinnausschüttung ein Wachsen ihrer Wohlfahrt in größerer Lebensfreude und geringerer Mühe erkennen konnten. Trotzdem verging kein Tag ohne Aufregung und Kampf inmitten dieser komplizierten Schöpfung, die er zu lenken und zu überwachen hatte. Es galt, bedeutende Summen flüssig zu machen und richtig anzuwenden, ein ganzes kleines Volk zu führen und zu leiten, seine Sorgen waren gleichzeitig die eines Apostels, eines Ingenieurs und eines Finanzmannes. Der Enderfolg schien ihm allerdings sicher, aber welchen Gefahren, welchen Zufälligkeiten war er noch ausgesetzt!
Er blieb nur einen Augenblick inmitten des Getöses stehen und begrüßte mit freundlichem Lächeln Bonnaire, Ragu und Bourron, ohne Fauchard zu bemerken. Ihm gefiel es besonders in dieser Halle der Walzwerke. Er beobachtete mit Freude die Fabrikation der Träger und Schienen, Friedensarbeit, wie er heiter sagte, und stellte sie in Gegensatz zu der bösen Kriegsarbeit, der Arbeit der benachbarten Werke, in denen mit so hohen Kosten und unter soviel Sorgfalt Kanonen und Geschosse hergestellt wurden. Aufs höchste verfeinerte Werkzeuge, außerordentliche Geschicklichkeit der Hände vereinigten sich zu keinem anderen Zwecke, als um die grauenhaften Zerstörungsmaschinen zu bauen, die die Völker Milliarden kosten und die sie in Erwartung des Krieges zugrunde richten, wenn nicht der Krieg selbst sie verbluten läßt. Oh, mögen doch die eisernen Träger sich immerzu vermehren, nützliche Gebäude errichten, glückliche Städte bauen, Brücken über Täler und Flüsse schlagen, mögen die Schienen endlos aus den Walzwerken hervorquellen, ihre eisernen Bahnen über die Erde hin verlängern, die Grenzen der Länder verwischen, die Völker zusammenführen, die ganze Welt der brüderlichen Zivilisation der Zukunft erobern!
Während nun Lucas in die nächste Halle eintrat, in der der große Dampfhammer eben in Tätigkeit gesetzt wurde, um die einzelnen Teile einer mächtigen Brücke zu schmieden, wurde das Walzwerk abgestellt, da ein neues Profil eingelegt werden sollte. Und Fauchard konnte nun ein Gespräch mit seinen gewesenen Kameraden anknüpfen.
»Es geht also vorwärts hier, ihr seid zufrieden?« fragte er.
»O ja, wir sind zufrieden«, erwiderte Bonnaire. »Wir haben nur acht Stunden Arbeitszeit, und da wir die Arbeit immer wechseln, ist sie angenehmer, und man strengt sich weniger an.«
Der große, starke Mann mit dem breiten Gesichte voll Gutmütigkeit und Gesundheit war eine der festen Stützen des neuen Unternehmens. Er gehörte dem Direktionsrat an, und er bewahrte Lucas besondere Dankbarkeit dafür, daß er ihm Arbeit gegeben hatte zur Zeit, als er genötigt gewesen war, die Hölle zu verlassen, ohne zu wissen, woher er morgen Brot nehmen sollte. Sein starrer Sozialismus war jedoch unzufrieden mit dem System einfacher Beteiligung, das in der Crêcherie herrschte und in dem dem Kapital ein bedeutender Anteil eingeräumt war. Der Revolutionär in ihm empörte sich. Aber er war vernünftig, er arbeitete ehrlich und eifrig und veranlaßte die anderen, ebenso ehrlich und eifrig zu arbeiten, denn er hatte versprochen, die Ergebnisse des Versuches abzuwarten.
»Ihr verdient also viel hier?« fragte Fauchard wieder. »Doppelt soviel wie früher?«
Ragu lachte und erwiderte spottend:
»Doppelt soviel? Sage lieber hundert Frank täglich, ohne den Champagner und die Zigarren.«
Er war einfach Bonnaire gefolgt und hatte in der Crêcherie Arbeit genommen. Aber obgleich er sich hier nicht schlecht befand, sich im Gegenteil verhältnismäßig großer Behaglichkeit erfreute, schienen ihn zuviel Ordnung und Sicherheit in seinem Dasein unzufrieden zu machen, denn er sprach schon spottend und geringschätzig von seinem neuen Glück.
»Hundert Frank!« rief Fauchard betäubt. »Du verdienst hundert Frank?«
Bourron, nach wie vor der Schatten Ragus, trieb den Scherz noch weiter.
»Hundert Frank für den Anfang. Und am Sonntag bekommt man das Karussell bezahlt.«
Bonnaire zuckte geringschätzig und ernsthaft die Achseln bei den Späßen der beiden anderen.
»Du siehst ja, daß sie Unsinn reden und dich nur zum Narren halten. Alles in allem genommen, entfällt bei der Verteilung des Gewinnes nicht mehr täglich auf uns, als ihr bekommt. Aber der Gewinn wächst, und es ist sicher, daß wir mit der Zeit sehr schöne Anteile bekommen werden. Dann haben wir alle möglichen Vorteile, unsere Zukunft ist gesichert, unser Leben ist viel weniger teuer, dank unseren gemeinsamen Geschäften und den schönen kleinen Häusern, die wir fast umsonst bewohnen. Es ist allerdings noch nicht die volle Gerechtigkeit, aber wir sind auf dem Wege.«
Ragu lächelte noch immer spöttisch, und er fühlte jetzt das Bedürfnis, einem anderen Haß Genüge zu tun. Denn wenn er über die Crêcherie spottete, so sprach er von der Hölle nur mit verbissener Wut.
»Und Delaveau, was macht denn der für ein Gesicht, dieser Kerl? Mich freut nur das eine, daß diese neue Fabrik ihn gehörig ärgern muß, die man ihm da vor die Nase hingebaut hat und die ganz danach aussieht, als ob sie gute Geschäfte machen kann. Er ist wütend, was?«
Fauchard machte eine unbestimmte Gebärde.
»Freilich wird er toben, aber man sieht ihm nicht viel an. Und dann, weißt du, ich weiß gar nichts, ich habe selber zuviel Unannehmlichkeiten, als daß ich mich um die anderer Leute kümmern sollte. Ich habe sagen hören, daß er sich aus eurer Fabrik und aus der Konkurrenz nichts macht. Er sagt, er wird immer Kanonen und Geschosse zu fabrizieren haben, weil die Menschen dumm sind und sich immer umbringen werden.«
Lucas, der aus der Halle der großen Gußstücke zurückkam, hörte diese Worte. Seit drei Jahren, seit dem Tage, da er Jordan veranlaßt hatte, den Hochofen zu behalten und die Stahlwerke ins Leben zu rufen, wußte er, daß er in Delaveau einen Feind hatte. Es war ein zu harter Schlag gewesen, als dieser Mann, der gehofft hatte, die Crêcherie zu billigem Preise und auf lange Raten zu erwerben, zusehen mußte, wie sie in die Hände eines jungen, kühnen Menschen voll Tatkraft und Tüchtigkeit überging, der es unternahm, die Welt umzugestalten, und der über solche schöpferische Kraft verfügte, daß er damit begann, eine kleine Stadt aus dem Boden wachsen zu lassen. Nachdem jedoch der Zorn der ersten Überraschung vorüber war, fand Delaveau seine volle Zuversicht wieder. Er wollte mehr denn je das Hauptgewicht auf die Herstellung von Kanonen und Geschossen legen, die bedeutenden Gewinn abwarfen und in denen er keine Konkurrenz fürchtete. Als er vernahm, daß das neue Werk die Fabrikation von Schienen und Trägern wieder aufnehmen wollte, erfüllte ihn dies mit spöttischer Freude, denn er wußte noch nichts von der neuen Ausbeutung der Mine. Als er dann zu der Erkenntnis kam, welch bedeutenden Gewinn die chemische Behandlung des Erzes verhieß, spielte er den Großmütigen und erklärte jedem, der es hören wollte, daß die Erde Platz für alle Industrien habe und daß er seinem glücklichen Nachbar gern die Fabrikation der Schienen und Träger überlassen wolle, wenn dieser ihm die Kanonen und Geschosse überließ. Der Friede war also anscheinend nicht gestört, die Beziehungen zwischen hüben und drüben waren kühl und höflich. Aber auf dem Seelengrunde Delaveaus barg sich eine uneingestandene Unruhe, die Furcht vor diesem Herde gerechter und freier Arbeit, dessen Flamme eines Tages seine Werkstätten und seine Arbeiter ergreifen konnte. Und hierzu kam noch ein anderes Unbehagen, das nur halbbewußte Gefühl, daß das alte Gerüst unter ihm knisterte und knackte, daß Ursachen der Fäulnis da waren, über die er keine Macht hatte, und daß an dem Tage, da die Kraft des großen Kapitals versagte, das ganze Gebäude in sich zusammenstürzen würde, ohne daß seine starken, eigenwilligen Arme es länger halten könnten.
In dem unvermeidlichen, von Tag zu Tag schärfer werdenden Kampfe, der sich zwischen der Crêcherie und der Hölle entwickelt hatte, empfand Lucas keinerlei Mitleid mit Delaveau. Er konnte allerdings dem Manne seine Achtung nicht versagen, er war ein unermüdlicher Arbeiter, ein tapferer Verteidiger seiner Anschauungen. Aber er verachtete die Frau, Fernande, ja er empfand eine Art Grauen vor ihr, denn er fühlte, was für eine furchtbare zerstörende und verderbliche Kraft diese Frau verkörperte. Der häßliche Vorgang, den er auf der Guerdache beobachtet hatte, die gebieterische Unterjochung Boisgelins, des armen schönen Mannes, dessen Vermögen unter den Händen der Verführerin dahinschmolz, erfüllten ihn mit wachsender Unruhe, denn er ahnte, daß noch Schweres und Tragisches hieraus entstehen werde. Und nur für die gute und sanfte Suzanne empfand er tiefes, herzinniges Mitgefühl, denn sie war das Opfer, die einzige, die er beklagte, daß sie in diesem Hause lebte, dessen Gebälke morsch war, dessen Decken eines Tages einstürzen mußten. Er hatte die Beziehungen zu ihr aufgeben müssen, er besuchte die Guerdache nicht mehr, er erfuhr von dort nur das, was der Zufall ihm zutrug. Die Dinge schienen sich dort immer mehr zu verschlimmern, die tollen Anforderungen Fernandes an ihren Geliebten steigerten sich von Tag zu Tag, ohne daß Suzanne eine andere Gegenwehr gefunden hätte als das Schweigen, in das sie sich aus Furcht vor einem Skandal verschloß. Als Lucas ihr eines Tages in einer Straße Beauclairs mit ihrem kleinen Paul begegnete, hatte sie ihm einen langen Blick zugesandt, in dem er ihren Kummer las und die Freundschaft, die sie ihm bewahrte, trotz des Kampfes, der sie voneinander trennte.
Als Lucas Fauchard erkannte, verhielt er sich, seinem Grundsatz entsprechend, ganz neutral, denn er wollte jeden unnützen Streit mit der Hölle vermeiden. Er nahm wohl die Arbeiter auf, die aus dem benachbarten Werk zu ihm kamen, aber er wollte nicht den Schein erwecken, daß er sie anlocke. Die Arbeiterschaft entschied allein über ihre Aufnahme. Und da Bonnaire ihm schon einigemal von Fauchard gesprochen hatte, tat er, als nähme er an, daß der Zieher gekommen sei, um sich anwerben zu lassen.
»Sie sind es? Sie kommen wohl, um zu sehen, ob Ihre früheren Kameraden Ihnen Stellung geben wollen?«
Wieder von Zweifeln ergriffen, in seinem Stumpfsinn zu jedem Entschluß unfähig, stammelte Fauchard unzusammenhängende Worte. Alles Neue, alles, was von dem gewohnten Kreise abwich, in dem er blind und mechanisch wie ein Zirkuspferd dahintrabte, erfüllte ihn mit Angst. So sehr war jeder eigene Antrieb in ihm ertötet, daß er außer der gewohnten Gebärde zu keiner anderen Handlung fähig war. Diese neue Fabrik, diese weiten, hellen und reinlichen Räume schüchterten ihn ein, erschienen ihm als ein furchtbares Reich, in dem er nicht leben könnte, erregten in ihm nur das Verlangen, so schnell wie möglich wieder in seine schwarze Höhle, zu seiner aufreibenden Verrichtung zurückzukehren. Ragu hatte ihn nur zum Narren gehalten. Wozu den Platz wechseln, wenn man nichts Sicheres bekam? Und vielleicht fühlte er auch unklar, daß es für ihn zu spät war.
»Nein, noch nicht ... Ich möchte gern, aber ich weiß noch nicht ... Später vielleicht, ich muß erst meine Frau fragen ...«
Lucas lächelte.
»Versteht sich, versteht sich, die Frau muß einverstanden sein. Auf Wiedersehen!«
Und Fauchard empfahl sich unbeholfen, selber erstaunt über diesen Ausgang seines Besuches, denn er war eigentlich mit der Absicht gekommen, um Arbeit zu bitten, wenn das Haus ihm gefiel und man da mehr verdiente als in der Hölle. Warum ergriff er nun die Flucht, geängstigt durch das zu Schöne, was er gesehen hatte, warum hatte er kein anderes Verlangen als sich zu verkriechen, sich noch mehr in den dumpfen Schlummer seines Elends zu versenken ?
Lucas wechselte mit Bonnaire einige Worte über eine Verbesserung, die er an den Walzwerken anbringen wollte. Da meldete sich Ragu mit einer Klage.
»Herr Lucas, ein Windstoß hat schon wieder drei Fensterscheiben in unserem Zimmer zerbrochen. Und dieses Mal werde ich sie nicht bezahlen. Unser Haus steht als erstes gegen den Wind, der von der Ebene her kommt, daher geschieht uns so viel, und wir erfrieren obendrein.«
Er hatte immer über etwas zu klagen, immer einen Vorwand zur Unzufriedenheit.
»Sie brauchen nur im Vorbeigehen bei uns einzutreten, Herr Lucas, um sich selbst zu überzeugen. Josine wird es Ihnen zeigen.«
Nachdem Ragu in der Crêcherie Arbeit genommen hatte, war Soeurette bemüht gewesen und hatte es auch erreicht, ihn zu bestimmen, daß er Josine heiratete. Das junge Paar bewohnte nun eines der kleinen Häuser in der neuen Arbeiterstadt, zwischen dem Hause Bonnaires und dem Bourrons. Bis jetzt schien das gute Einvernehmen zwischen ihnen nicht ernstlich gestört worden zu sein, da Ragu sich infolge des wohltätigen Einflusses seiner Umgebung wesentlich gebessert hatte. Nur hier und da gab es Zank wegen Nanets, der sich bei ihnen befand. Wenn übrigens Josine Kummer hatte und weinte, verschloß sie das Fenster, damit sie niemand höre.
Ein Schatten glitt über die Züge Lucas' und verdüsterte den frohen Ausdruck, den sie stets trugen, wenn er am Vormittag seinen Rundgang durch die Werkstätten machte.
»Es ist gut, Ragu«, erwiderte er ruhig. »Ich werde zu Ihnen kommen.«
Das Walzwerk wurde wieder in Gang gesetzt und machte durch sein furchtbares Getöse jedes weitere Gespräch unmöglich. Wieder faßte es die glühenden, blendenden Eisenstücke, dehnte sie und streckte sie, machte sie immer länger und dünner, bis sie schließlich als Schienen zwischen den Walzen hervorquollen. Und unaufhörlich schloß sich Schiene an Schiene, es war, als sollten sie die Erde in kurzer Zeit nach allen Richtungen durchkreuzen, damit auf ihren stählernen Bahnen das vermehrte, siegreiche Leben durch die Welt getragen werde.
Einen Augenblick stand Lucas noch bei der segensreichen Arbeit, lächelte Bonnaire zu, ermunterte Bourron und Ragu freundschaftlich, bemühte sich hier, wie in jeder Werkstatt, die Saat der Liebe aufgehen zu lassen, in der festen Überzeugung, daß nichts Dauerndes bestehen kann, wenn die Menschen sich nicht lieben. Dann verließ er die Werkstätten und begab sich, wie jeden Tag, in das Gemeindehaus, um die Schulen zu besichtigen. Wenn er sich gern in den Arbeitsräumen aufhielt, um dort im Geiste das Reich des Friedens entstehen zu sehen, wurde er von noch stärkerer Hoffnungsfreude erfüllt inmitten der kleinen Welt der Kinder, die die Zukunft darstellten.
Das Gemeindehaus war vorläufig nur ein einfacher, großer Bau, reinlich und sonnenhell, bei dessen Anlage man hauptsächlich bedacht gewesen war, möglichst viel Bequemlichkeit für möglichst wenig Geld zu erzielen. Die Schulen nahmen einen ganzen Flügel ein, der gegenüberliegende Flügel enthielt die Bibliothek, den Spielsaal und die Bäder, während der Festsaal und einzelne Büros im Mittelbau untergebracht waren. Die Schulen umfaßten drei Abteilungen: eine Krippe für die ganz Kleinen, wo die tagsüber beschäftigten Mütter ihre Kinder, selbst die kleinsten in Pflege geben konnten; eine eigentliche Schule von fünf Klassen, in der die Schüler vollständig ausgebildet wurden; und eine Reihe von Lehrwerkstätten, die die Schüler gleichzeitig mit den fünf Klassen besuchten und worin sie sich in den Handfertigkeiten vervollkommneten, in demselben Maße, in dem ihre allgemeinen Kenntnisse sich entwickelten. Die Geschlechter waren nicht getrennt, Knaben und Mädchen wuchsen Seite an Seite auf, von ihren Wiegen angefangen, die nebeneinander standen, bis zu den Lehrwerkstätten, die sie verließen, um sich zu verheiraten, durch alle Klassen hindurch, in denen sie auf denselben Bänken saßen, unterschiedslos miteinander vermischt, so wie sie es im Leben sein sollten. Die Kinder nach Geschlechtern trennen, sie in verschiedener Weise erziehen und unterrichten, jedes in Unkenntnis des anderen halten, heißt das nicht, sie zu gegenseitiger Feindschaft erziehen, durch das Geheimnisvolle ihren natürlichen Zug zueinander verderben und aufstacheln, so daß der Mann sich wild auf das Weib stürzt und das Weib ängstlich abwehrt, in einem gegenseitigen Mißverständnis ohne Ende? Nicht eher wird der Friede zwischen den Geschlechtern eintreten, als bis Mann und Weib als gute Kameraden, die einander von jeher kennen, die das Wissen des Lebens an derselben Quelle empfangen haben, zur Erkenntnis ihres gemeinsamen Interesses gelangen, sich miteinander auf den Weg durchs Leben machen, um es gesund und vernunftgemäß zu leben, wie es gelebt werden soll.
Soeurette hatte Lucas bei der Schaffung der Schulen sehr wertvolle Hilfe geleistet. Während Jordan, nachdem er das versprochene Geld hergegeben hatte, sich in sein Laboratorium einschloß und sich weigerte, die Rechnungen zu prüfen, die zu ergreifenden Maßregeln mitzuberaten, bekundete seine Schwester ein leidenschaftliches Interesse für diese neue Stadt, die sie unter ihren Augen keimen und entstehen sah. Sie war eine geborene Kinderwärterin, Erzieherin und Krankenpflegerin. Und ihre Wohltätigkeit, die sich bisher nur auf einige Arme hatte erstrecken können, die ihr der Abbé Marle, der Doktor Novarre oder der Lehrer Hermeline bezeichneten, fand plötzlich ein unendlich erweitertes Feld in der großen Familie von Arbeitern, die ihr Lucas zum Geschenk machte und bei denen es so viel zu unterrichten, zu leiten, zu lieben gab. Sie wählte von den ersten Lebenstagen des Unternehmens ab ihren Platz, beteiligte sich am Aufbau der Schulen und Lehrwerkstätten, wendete jedoch ihre Sorgfalt vor allem der Krippe zu, wo sie ihre Vormittage in der Liebe zu den ganz Kleinen verbrachte. Wenn man ihr davon sprach, sich zu verheiraten, erwiderte sie ein wenig verlegen und verwirrt mit einem hübschen Lächeln auf ihrem reizlosen Gesicht: »Habe ich nicht die Kinder der anderen?« Sie hatte eine Helferin an Josine gefunden, die kinderlos geblieben war. Jeden Morgen stand diese ihr an den Bettchen zur Seite, und die beiden Frauen waren, trotz der großen Verschiedenheit ihrer Naturen und Verhältnisse, Freundinnen geworden, miteinander verbunden durch die liebevolle Pflege, die sie den Kindern widmeten.
Als jedoch Lucas an diesem Morgen den weißen, sauberen Raum betrat, fand er Soeurette allein.
»Josine ist nicht gekommen«, sagte sie. »Sie hat mir sagen lassen, daß sie krank ist, nur ein unbedeutendes Unwohlsein, wie es scheint.«
Ein unbestimmter Verdacht stieg in ihm auf, und wieder ging ein Schatten über seine Stirn. Er sagte jedoch ruhig:
»Ich muß ohnedies zu ihr, ich werde sehen, ob sie etwas braucht.«
Dann gingen sie mit innigem Vergnügen an die Wiegen und Bettchen. In dem großen hellen Raume standen diese längs der weißen Mauern aufgereiht, und rosige kleine Gesichtchen lächelten zu den Beschauern empor. Gutherzige, freiwillig dienstleistende Frauen mit großen weißen Schürzen wachten über diese kleinste Kindheit, über diese noch so zarten Menschheitskeime, die trotzdem die Zukunft in sich bargen. Außerdem war aber auch eine Schar größerer Kinder da, drei- bis vierjährige Knaben und Mädchen, die sich frei bewegten, die schwächeren in Rollstühlchen, die anderen auf die Kraft ihrer kleinen Beine angewiesen, wenn es auch nicht ohne manchen Fall abging. Der Raum öffnete sich auf eine blumengeschmückte Veranda, die wieder in einen Garten ging, und die ganze fröhliche Schar ergötzte sich inmitten von Sonnenschein und freier Luft. Spielzeuge, an Fäden aufgehängte Hampelmänner erfreuten die ganz Kleinen, während die größeren mit Puppen spielten, oder Pferde und Wagen mit großem Lärm über den Fußboden zogen, als kleine Helden, in denen der Tätigkeitstrieb sich regte. Es war köstlich und herzerquickend, diese kleine Welt so fröhlich und heiter aufwachsen zu sehen.
»Keine Kranken?« fragte Lucas, der mit inniger Freude in diesem morgenfrischen Raum verweilte.
»O nein, heute ist alles wohlauf«, erwiderte Soeurette. »Vorgestern haben wir zwei Masernkranke gehabt. Die habe ich nicht wiederkommen lassen, sie mußten isoliert werden.«
Sie traten auf die Veranda hinaus, um die nebenan befindlichen Schulklassen zu besuchen. Die Fenstertüren aller fünf Klassen lagen hier nebeneinander, alle auf das Grün des Gartens sehend, und da das Wetter warm war, waren alle weit geöffnet, so daß Lucas und Soeurette, ohne die Schulzimmer zu betreten, in jedes von der Schwelle aus hineinblicken konnten.
Die Lehrer unterrichteten hier nach einem neuen Programm. Von der ersten Klasse ab, in der sie das Kind, das noch nicht lesen konnte, in Empfang nahmen, bis zu der fünften, aus der sie es entließen, nachdem sie ihm die fürs Leben nötigen allgemeinen Kenntnisse beigebracht hatten, bemühten sie sich vor allem, das Kind mit den bestehenden Dingen und Tatsachen bekanntzumachen, damit es sein Wissen aus der lebenden Wirklichkeit schöpfe. Sie bemühten sich ferner, in ihm den Sinn für Ordnung zu erwecken, ihm eine Methode für die tägliche Verwertung seiner Erfahrungen beizubringen. Ohne Methode gibt es keine nützliche Arbeit, die Methode teilt das Wissen ein und ermöglicht es, immer Neues hinzuzufügen, ohne etwas von dem schon Erworbenen zu verlieren. Die Buchwissenschaft war somit, wenn auch nicht ganz verbannt, so doch auf den ihr gebührenden Platz verwiesen, denn das Kind lernt nur gut, was es sieht, was es berührt, was es vollständig begreift. Man beugte es nicht mehr sklavisch unter unfehlbare Dogmen, man zwang ihm nicht die Tyrannei der Persönlichkeit des Lehrers auf. Aus eigenem Antrieb sollte es die Wahrheit finden, sie durchdringen, sie sich zu eigen machen. Es gibt keine andere Art, Menschen zu bilden als diese, die die persönliche geistige Kraft jedes Schülers erweckt und steigert. Alle Arten Strafen und Belohnungen waren abgeschafft, man wandte weder Drohungen noch Lockungen an, um die Trägen zur Arbeit zu veranlassen. Es gibt keine trägen, es gibt nur kranke Kinder, Kinder, die schlecht verstehen, was man ihnen schlecht erklärt, in deren Köpfe man unsinnigerweise mit Gewalt Kenntnisse hineinpressen will, für die sie nicht geeignet sind. Wenn man gute Schüler haben will, braucht man nur den unendlichen Wissensdrang auszunützen, der in jedem Menschen lebt, die unstillbare Neugierde des Kindes für alles, was es umgibt, die es zu unablässigen Fragen an die Erwachsenen treibt. Der Unterricht hört auf, eine Folter zu sein und wird ein immer wieder erneutes Vergnügen, wenn man ihn dadurch anziehend und interessant macht, daß man nichts anderes tut, als die geistigen Kräfte des Kindes ins Spiel zu bringen und sie zu immer neuen, eigenen Entdeckungen anzuleiten. Jeder Mensch hat das Recht und die Pflicht, sich selbst zu formen. Und man muß das Kind sich inmitten der Erscheinungen der Welt selbst formen lassen, wenn man will, daß es später ein ganzer Mensch werde, mit tatfähiger Kraft und entscheidungsfähigem Willen.
In den fünf Klassen dieser Schule entwickelten sich denn auch die Geisteskräfte der Kinder von den ersten Begriffen bis zur vollständigen Beherrschung des Lehrstoffes in gerader und natürlicher Steigerung. Im Garten befand sich ein Platz zum Turnen, für Spiele und Leibesübungen aller Art, damit der Körper an Gesundheit und Kraft zunehme, in dem Maße, in dem der Geist sich an Wissensinhalt bereicherte. Nur in einem gesunden Körper kann ein aufnahmefähiger Geist wohnen. Besonders den unteren Klassen waren die freien Stunden reichlich zugemessen, man gab den Kindern anfangs nur kurze, häufig wechselnde, ihrem Begriffsvermögen angepaßte Aufgaben. Man war hauptsächlich darauf bedacht, sie so wenig wie möglich einzuschließen, man unterrichtete sie häufig unter freiem Himmel, auf Spaziergängen, inmitten der Dinge, die sie kennenlernen sollten, in den Fabriken, angesichts der Erscheinungen der Natur, der Tiere, der Pflanzen, der Gewässer, der Berge. Von der Wirklichkeit der Lebewesen und Dinge, vom Leben selbst sollten sie ihren eigentlichen Unterricht empfangen, denn alles Wissen hat nur den Zweck, das Leben wertvoller zu machen. Und neben den wirklichen Begriffen bemühte man sich, ihnen den Begriff der Menschheit als Ganzes, als Gemeinsamkeit einzuprägen. Sie wuchsen zusammen auf, sie sollten immer beisammen leben. Die Liebe allein bildet das Band der Einigkeit, der Gerechtigkeit, des Glücks. Sie ist der einzige, der ausreichende Menschheitsgrundsatz, denn es genügt, daß sich alle lieben, damit der ewige Friede herrsche. Diese allgemeine Liebe, die sich von der Familie auf die Nation, von der Nation auf die Menschheit erstreckt, wird das einzige Gesetz des glücklichen Reiches der Zukunft sein. Man entwickelte sie bei den Kindern, indem man sie aneinander interessierte, die Stärkeren die Schwächeren beschützen ließ, indem man sie anleitete, ihr Wissen, ihre Spiele, ihre erwachenden Leidenschaften gemeinschaftlich, neben- und füreinander ins Werk zu setzen. So wuchs die künftige Ernte heran, durch gesunde Übungen gekräftigte, durch freie Beobachtung der Wirklichkeit gebildete Menschen, die durch Gefühl und Vernunft einander verbünden, Brüder geworden waren.
Aus einer der Klassen drang Geschrei und Gelächter heraus, und Lucas wurde von einiger Unruhe ergriffen, denn die Dinge verliefen nicht immer ganz glatt. Im Vorbeigehen hatten sie Nanet mitten im Zimmer stehen sehen, und er war zweifellos die Ursache des Lärmes.
»Macht Ihnen Nanet noch immer zu schaffen?« fragte er Soeurette. »Er ist ein kleiner Teufel, der Junge!«
Sie machte lächelnd eine Gebärde nachsichtiger Entschuldigung.
»Oh, er ist nicht ganz leicht zu behandeln. Und wir haben noch einige, die nicht minder ungebärdig sind. Sie balgen sich und prügeln sich und gehorchen nicht gern. Aber es sind trotzdem gute kleine Kerle. Nanet ist ein prächtiger Junge, mit einem tapferen und guten Herzen. Wenn die Kinder übrigens zu still sind, so beunruhigt uns das, wir fürchten dann, daß sie krank sind.«
Sie wandten sich nun den Lehrwerkstätten zu, die auf der anderen Seite des Gartens lagen. Hier wurden die wichtigsten Handwerke gelehrt und die Kinder in deren Verrichtungen eingeführt, weniger damit sie sie gründlich erlernten, als damit sie einen allgemeinen Begriff davon bekämen und sich für einen Beruf entscheiden könnten. Diese Unterweisungen gingen übrigens parallel mit dem Unterricht in der Schule. Sobald dem Kinde die ersten Begriffe von Lesen und Schreiben beigebracht waren, wurde es auf die andere Seite des Gartens geführt und ihm ein Werkzeug in die Hand gegeben. Am Vormittag lernte es Grammatik, Rechnen, Geschichte und bildete seinen Geist, am Nachmittag arbeitete es mit seinen kleinen Armen, um seinen Muskeln Kraft und Geschmeidigkeit beizubringen. Die Arbeit war eine nützliche Erholung, eine Entlastung des Gehirns, ein freudiges Spiel der Kräfte. Es wurde als Grundsatz festgehalten, daß jeder ein Handwerk kennen müsse, und der Schüler hatte, wenn er die Schule verließ, nur das ihm am besten zusagende Handwerk zu wählen, um sich sodann in einer wirklichen Werkstatt zu vervollkommnen. Und auch die Schönheiten des Lebens wurden nicht vergessen, die Kinder wurden in Musik, Zeichnen, Malerei und Bildnerei unterrichtet, ihre Seelen den höheren Genüssen des Daseins erschlossen. Selbst denen, die bei den ersten Elementen stehenbleiben mußten, wurde dadurch die Welt erweitert, alles auf der Erde bekam Leben und Stimme, auf die bescheidensten Existenzen fiel der Goldglanz der Kunst. Am Abend schöner Tage, im zauberischen Licht des Sonnenuntergangs vereinigte man die Kinder im Garten, ließ sie Lieder von Frieden und Glück singen, begeisterte ihre jungen Seelen an Bildern der Wahrheit und Schönheit.
Lucas war mit seinem Rundgang zu Ende, als jemand herbeikam, um ihn zu benachrichtigen, daß zwei Bauern aus Combettes, Lenfant und Yvonnot ihn in dem kleinen Büro erwarteten, das an den großen Festsaal stieß.
»Sie kommen wohl wegen des Baches?« fragte Soeurette.
»Jawohl. Sie haben mich um eine Unterredung gebeten, aber ich selbst habe sehr gewünscht, mit ihnen zusammenzukommen, denn ich habe neulich wieder mit Feuillat gesprochen, und ich bin mehr denn je überzeugt, daß ein Einvernehmen zwischen der Crêcherie und Combettes nötig ist, wenn wir siegen wollen.«
Sie hörte ihm lächelnd zu, denn sie kannte alle seine weitreichenden Pläne. Dann drückte sie ihm zum Abschied die Hand und kehrte mit ihren leichten, gelassenen Schritten zu ihren weißen Bettchen zurück, aus denen sich das Volk der Zukunft erheben sollte, dessen er bedurfte, um seinen Traum zur Tat werden zu lassen.
Feuillat, der Pächter auf der Guerdache, hatte schließlich seinen Vertrag mit Boisgelin erneuert, unter Bedingungen, die für beide Teile schädlich waren. Man muß wohl leben, sagte er, aber das Pachtsystem war so schlecht geworden, daß es keinen rechten Ertrag mehr abwerfen konnte. Die Erde hatte Bankerott gemacht. Daher arbeitete Feuillat in seiner zähen, beharrlichen Weise weiter an der Ausführung des Gedankens, von dem er mit niemand sprach, an dem Projekt, das er so gern neben seinem Pachtgut verwirklicht gesehen hätte: an der Versöhnung der durch alten Haß entzweiten Bauern von Combettes und der Vereinigung ihrer kleinen Bodenlappen zu einem einzigen großen Gute, das, nach modernen Prinzipien bewirtschaftet, reichen Ertrag abwerfen mußte. Und sein letzter Gedanke mochte wohl sein, daß er, wenn der Versuch gelang, Boisgelin würde bestimmen können, in die neue Vereinigung mit einzutreten. Wenn Boisgelin widerstrebte, so würden die Umstände ihn bald zum Nachgeben zwingen. In dem wortkargen Feuillat, der still das Unvermeidliche auf sich nahm, war etwas von einem geduldigen, zähen Apostel, der Schritt für Schritt seinem Ziele entgegenstrebte, ohne je zu ermatten. Sein erster Erfolg war, daß er vor kurzem endlich den Frieden zwischen Lenfant und Yvonnot hergestellt hatte, deren Familien seit Jahrhunderten im Streite lagen. Lenfant war nämlich zum Gemeindevorstand gewählt worden und Yvonnot zu seinem Stellvertreter, und Feuillat hatte ihnen begreiflich gemacht, daß sie beide die Herren sein würden an dem Tage, da sie einig miteinander wären. Dann hatte er sie allmählich mit seiner Idee einer allgemeinen Vereinigung befreundet, die allein bewirken konnte, daß die Gemeinde aus dem Elend der althergebrachten schlechten Wirtschaft herauskomme und in der Erde wieder eine Quelle unerschöpflicher Kraft finde. Gerade damals wurden die neuen Werke der Crêcherie gegründet, und Feuillat hielt sie ihnen als Beispiel vor, wies auf ihr steigendes Gedeihen hin und brachte schließlich Lenfant und Yvonnot in persönliche Verbindung mit Lucas, als es eine Wasserfrage zwischen Combettes und der Crêcherie zu regeln gab. So kam es, daß der Gemeindevorstand und sein Stellvertreter heute in der Fabrik vorsprachen.
Lucas bewilligte ihnen sofort das, was sie begehrten, mit einer gutmütigen Bereitwilligkeit, die ihr stets waches Bauernmißtrauen ein wenig zerstreute.
»Einverstanden, meine Herren, die Crêcherie wird die Wasserläufe aus den Bergen, die gefaßt worden sind, vereinigen und das Wasser, das wir nicht brauchen, in den Grand-Jean-Bach leiten, der Ihre Gemeinde durchfließt, ehe er sich in die Mionne ergießt. Wenn Sie einige Behälter anlegen, die nicht viel kosten, so haben Sie eine reichliche Berieselung, die den Wert Ihrer Äcker verdreifachen würde.«
Der dicke, untersetzte Lenfant schüttelte seinen großen Kopf langsam und nachdenklich.
»Das würde noch immer zuviel kosten.«
Und der kleine, magere Yvonnot mit den finsteren Augen und dem zornigen Munde rief:
»Und dann würden wir uns wieder alle in den Haaren liegen, wenn es sich darum handelte, wie das Wasser geteilt werden soll. Sie sind gewiß ein guter Nachbar, daß Sie es uns geben, und wir danken Ihnen sehr dafür. Aber wie sollen wir es anstellen, daß jeder sein Teil bekommt, ohne daß er glaubt, daß die anderen ihn bestehlen?«
Lucas lächelte, erfreut über diese Frage, die es ihm ermöglichte, von dem Gegenstand zu sprechen, von dem er erfüllt war und um dessentwillen er so sehr gewünscht hatte, mit den beiden Bauern zusammenzukommen.
»Das Wasser, das befruchtet, muß allen gehören, wie die Sonne, die leuchtet und wärmt, wie die Erde selbst, die trägt und nährt. Die beste Art zu teilen ist die, gar nicht zu teilen, sondern das gemeinsam zu benützen und zu genießen, was die Natur allen Menschen gemeinsam geschenkt hat.«
Die beiden Bauern verstanden. Sie blieben eine kleine Weile stumm, die Augen auf den Boden geheftet. Lenfant, der Klügere, sprach zuerst wieder.
»Ja, ja, wir wissen, der Pächter von der Guerdache hat uns davon gesprochen. Es ist gewiß ein guter Gedanke, daß sich alle miteinander vertragen sollen, wie Sie es hier gemacht haben, den Boden und das Geld, die Arbeit und die Werkzeuge zusammenzulegen und gemeinschaftlich zu benutzen und dann den Gewinn zu teilen. Aber es ist doch auch viel dabei gewagt, und ich glaube, es wird noch vieler Reden bedürfen, ehe wir alle dazu zu haben sind in Combettes.«
»Das will ich meinen«, stimmte Yvonnot mit einer raschen Handbewegung bei. »Wir zwei, verstehen Sie, sind ja nun so ziemlich einig, und wir sind dem Neuen nicht sehr entgegen. Aber um die anderen handelt es sich, und die herumzukriegen, wird ein hartes Stück Arbeit sein, das sage ich Ihnen im voraus.«
Dieses Mißtrauen des Bauern gegen jede Neuerung, und besonders gegen eine, die an die bestehende Form des Eigentums rührt, kannte Lucas sehr gut. Er war darauf vorbereitet, und er lächelte wieder. Seinen Fleck Erde, an dem er seit Jahrhunderten, vom Vater auf den Sohn, in Liebe gehangen, von dem sollte der Bauer sich losreißen, ihn mit den Flecken aller anderen vereinigen lassen! Aber der immer schlechter werdende Ertrag, der Bankerott des in zu kleine Teile zerschnittenen Bodens mußte ihn schließlich doch überzeugen, daß es kein anderes Heil gibt als in der Einigkeit, in dem Zusammenschließen der Äcker einer ganzen Gemeinde zu einem einzigen großen Gut. Lucas setzte das den beiden auseinander, bewies ihnen, daß der Erfolg heute nur im Zusammenschluß liege, daß man die Felder im großen bewirtschaften müsse, mit Maschinen für das Pflügen, das Säen und das Mähen, mit in der Nähe erzeugtem, reichlichen künstlichen Dünger, mit genau geregelter, vom Zufall unabhängiger Bewässerung. Die Mühe des einzelnen kleinen Bauers genügte nicht, um seinen Hunger zu stillen, aber alle müßten reich werden, wenn die Bauern eines Dorfes zusammenständen, um mit vereinten Kräften die Maschinen, den Dünger, das Wasser zu beschaffen. Man kann den Boden fruchtbar machen, indem man ihn von Steinen befreit, ihn düngt und bewässert. Man könnte es selbst einmal erreichen, ihn zu heizen, so daß es keine Jahreszeiten mehr gäbe. Ein Hektar würde genügen, um zwei oder drei Familien zu nähren. Selbst auf verhältnismäßig kleinen Flächen erzielte man schon wunderbare Ergebnisse, ein ununterbrochenes Wachstum von Gemüsen und Getreide. Die Bevölkerung Frankreichs könnte sich verdreifachen, und der Boden könnte sie noch immer reichlich ernähren, wenn er mit Verstand, unter dem Zusammenwirken aller schöpferischen Kräfte bebaut würde. Und wie schön wäre es auch, daß der Bauer dann kaum ein Drittel so schwere Arbeit zu leisten hätte, daß er endlich befreit wäre von der uralten Fron, von dem Wucherer, der ihn aussaugt, vom Großgrundbesitzer und dem Staat, die ihn erdrücken.
»Das ist zu schön«, sagte Lenfant in seiner bedächtigen Weise.
Aber Yvonnot fing leichter Feuer.
»Himmelherrgott! Wenn das wahr wäre, so wären wir wirklich zu dumm, wenn wir die Sache nicht einmal probierten!«
»Sehen Sie nur uns hier auf der Crêcherie an«, fuhr Lucas fort, der sich diesen Hinweis auf das praktische Beispiel bis zuletzt aufgespart hatte. »Wir bestehen jetzt kaum drei Jahre, und unsere Geschäfte gehen gut, unsere zu einer Genossenschaft vereinigten Arbeiter essen Fleisch, trinken Wein, haben keine Schulden und keine Sorge um die Zukunft. Befragen Sie sie einmal, besuchen Sie unsere Werkstätten, unsere Wohnhäuser, unser Gemeindehaus, alles, was wir in kurzer Zeit gebaut und geschaffen haben. Das ist die Frucht der Einigkeit, ihr werdet Wunder vollbringen, wenn ihr einig seid.«
»Ja, ja, wir haben schon alles gesehen, wir wissen das alles«, erwiderten die Bauern.
In der Tat hatten sie, ehe sie Lucas rufen ließen, die Crêcherie mit Interesse besichtigt, hatten den Wert des schon Erworbenen überschlagen, waren erstaunt gewesen über diese mit solcher Schnelligkeit entstehende glückliche Stadt und hatten sich gefragt, was es ihnen wohl für Gewinn bringen würde, in derselben Art gemeinsame Sache zu machen. Die überzeugende Kraft des Erfolges durchdrang sie und besiegte sie allmählich.
»Nun also, da Sie alles wissen, so ist die Sache um so einfacher«, sagte Lucas heiter. »Wir brauchen Brot, unsere Arbeiter können nicht leben, wenn ihr nicht das nötige Getreide anbaut und erntet. Ihr wieder braucht Werkzeuge, die Spaten und Pflüge und Maschinen, die aus dem Stahl gemacht werden, den wir fabrizieren. Da ist nun die Lösung ganz leicht, wir brauchen uns nur miteinander zu verständigen, wir liefern euch den Stahl, ihr liefert uns das Getreide, und so ergänzen wir einander und leben alle glücklich. Da wir Nachbarn sind, da eure Felder an unsere Fabrik stoßen, und da wir einander notwendig brauchen, ist es nicht das beste, als Brüder miteinander zu leben, uns alle für das Wohl aller zu vereinigen, so daß wir nur eine einzige Familie bilden?«
Der gemütvolle Ton, in dem Lucas sprach, wirkte angenehm auf Lenfant und Yvonnot. Noch nie war ihnen das Ersprießliche der Einigkeit zwischen Bauer und Arbeiter so deutlich vor Augen gestellt worden. Seitdem das Unternehmen auf der Crêcherie ins Leben gerufen war und sich entwickelte, dachte Lucas daran, in seine Genossenschaft einmal alle kleineren Fabriken, alle die verschiedenen Industrien, die von ihr und neben ihr lebten, mit einzubeziehen. Rings um den Zentralherd, der ihnen das Rohmaterial, das Eisen und den Stahl lieferte, entstanden alsbald eine Reihe von Niederlassungen verschiedener Art. Da war die Fabrik Chodorge, die Nägel schlug, die Fabrik Hausser, die Sensen erzeugte, die Fabrik Mirande, die landwirtschaftliche Maschinen herstellte. In einer Schlucht der Monts Bleuses arbeitete sogar noch ein Strecker, Hordoir, mit zwei Hämmern, die durch Wasserkraft in Bewegung gesetzt wurden. Alle diese würden wohl eines Tages gezwungen sein, sich mit den Brüdern von der Crêcherie zu vereinigen, ohne die sie nicht leben konnten. Selbst die Bauhandwerker, oder die Hersteller von Kleidungsstücken, wie zum Beispiel die Schuhfabrik des Bürgermeisters Gourier, würden dem allgemeinen Zuge nicht widerstehen können und sich schließlich mit der Genossenschaft vereinigen, der sie Häuser, Kleider und Schuhe liefern würden, um dafür Werkzeuge und Brot von ihr zu empfangen. Das Reich der Zukunft konnte nur verwirklicht werden durch diese Einigkeit aller, durch die Gemeinsamkeit der Arbeit.
»Alles ganz recht, Herr Lucas«, sagte Lenfant endlich in seiner überlegten Weise. »Das sind zu wichtige Dinge, als daß wir sie auf der Stelle entscheiden könnten. Aber wir versprechen Ihnen, daß wir darüber nachdenken und unser mögliches tun werden, damit Einigkeit in Combettes herrsche, so wie sie hier bei Ihnen herrscht.«
»Jawohl, Herr Lucas«, stimmte Yvonnot bei. »Nachdem wir beide, Lenfant und ich, uns dazu gebracht haben, uns zu vertragen, so müssen wir wohl das Unsrige tun, damit auch die anderen sich vertragen. Und Feuillat, der ein gescheiter Kopf ist, wird uns helfen.«
Ehe sie gingen, sprachen sie nochmals von dem Wasser, das Lucas in den Grand-Jean leiten wollte. Es wurde alles geregelt und vereinbart, und die beiden fühlten, daß sie in ihrem Feldzuge für die Vereinigung einen starken Bundesgenossen in dieser Bewässerungsfrage hatten, die die Gemeinde zwingen würde, nur ein Interesse und einen Willen zu haben.
Lucas begleitete sie durch den Garten, in dem ihre Kinder Arsène und Olympe, Eugénie und Nicolas sie erwarteten, die sie mitgenommen hatten, um ihnen die Crêcherie, von der die ganze Gegend sprach, zu zeigen. Die Schulzeit war gerade zu Ende, und die Schüler der fünf Klassen erfüllten den Garten mit fröhlichem Tumult. Die Mädchenröcke flatterten in der hellen Sonne, die Knaben liefen und sprangen um die Wette, Geschrei und Gelächter erscholl von allen Seiten, über die Rasenplätze, zwischen den Bäumen jauchzte und tollte die glückliche Jugend.
Inmitten einer Gruppe blonder und brauner Köpfe sah Lucas Soeurette stehen, offenbar erzürnt und scheltend. In der ersten Reihe der Kinder stand Nanet, nun bald zehn Jahre alt und bedeutend gewachsen, mit vollem, munteren und dreisten Gesicht und wirren, haferblonden Haaren, und hinter ihm die vier kleinen Bonnaires: Luden, Antoinette, Zoë und Séverin, und die zwei Bourrons: Sébastien und Marthe. Alle waren offenbar bei etwas Unrechtem ertappt worden, von den kleinsten mit fünf Jahren bis zu den ältesten mit zehn, und Nanet war sicherlich der Führer der Schar gewesen. Er verteidigte sich und widersprach lebhaft.
»Was gibt es ?« fragte Lucas.
»Nanet ist schon wieder drüben in der Hölle gewesen, obgleich es ihm ausdrücklich verboten worden ist«, erwiderte Soeurette. »Ich höre eben, daß er gestern abend die alle hier mit hinübergenommen hat, und diesmal sind sie sogar über die Mauer geklettert.«
Eine Grenzmauer schied das Gebiet der Crêcherie von dem der Hölle, und in ihr befand sich eine Tür an der Ecke, in der Delaveaus Garten lag. Diese Tür war durch einen Riegel zu verschließen, der stets vorgeschoben war.
Aber Nanet widersprach.
»O nein, wir sind nicht alle über die Mauer geklettert. Ich bin allein hinübergeklettert und habe den anderen die Tür geöffnet.«
Nun wurde auch Lucas böse.
»Weißt du nicht, daß man dir wenigstens schon zehnmal verboten hat, dort hinüberzugehen? Ihr werdet uns noch große Unannehmlichkeiten zuziehen, und ich sage euch, dir und den anderen, daß das sehr schlimm ist, was ihr getan habt, sehr häßlich!«
Nanet sah ihn mit großen Augen an. Es ging ihm zu Herzen, daß er Lucas so empört sah, denn er war im Grunde ein guter Junge. Aber er verstand die Ursache nicht. Er war nur über die Mauer geklettert und hatte den anderen die Tür geöffnet, weil Nise Delaveau mit Paul Boisgelin, Louise Mazelle und noch einigen sehr lustigen Kindern gestern drüben gewesen waren, mit denen sie hatten spielen wollen. Nise Delaveau war so lieb, und die anderen auch.
»Warum sehr häßlich?« fragte er verdutzt. »Wir haben niemandem was Böses getan und haben uns sehr gut miteinander unterhalten.«
Er erzählte, welche Kinder dagewesen waren, und berichtete wahrheitsgemäß, was sie getan hatten. Sie hatten nur gespielt und nichts Böses angestellt, weder Pflanzen abgerissen noch Steine in die Blumenbeete geworfen.«
»Nise verträgt sich sehr gut mit uns«, schloß er. »Sie hat mich gern, und ich habe sie gern, seitdem wir Freunde geworden sind.«
Lucas unterdrückte ein Lächeln. Es wurde ihm warm ums Herz, und eine schöne Vision tauchte vor ihm auf, als er sah, daß diese Kinder zweier verschiedener Klassen sich trotz der Abschließung fanden, miteinander spielten und lachten, während Kampf und Haß die Väter trennte. Blühte in ihnen schon der künftige Friede auf ?
»Es ist möglich«, sagte er, »daß Nise sehr lieb ist und daß ihr euch gut vertragt. Aber es ist nun einmal so angeordnet, daß sie drüben bleibt und ihr hier, damit niemand Ursache zur Klage hat.«
Soeurette, ebenfalls von dem Zauber dieser kindlichen Unschuld besiegt, sah ihn mit so besänftigtem, verzeihenden Blicke an, daß er in gütigem Tone schloß:
»Nun geht, Kinder, ich weiß, ihr werdet's nicht wieder tun, weil ihr uns damit Kummer macht.«
Als nun Lenfant und Yvonnot die Crêcherie verlassen hatten, zusammen mit Arsene und Olympe, Eugénie und Nicolas, die sich an den Spielen beteiligt hatten und ungern schieden, dachte Lucas daran, in seine Wohnung zurückzukehren, denn sein täglicher Rundgang war beendet. Vorher mußte er aber noch bei Josine vorsprechen, wie er es sich vorgenommen hatte. Der Vormittag war gut gewesen, sein Herz war erfüllt von Hoffnung und Zuversicht. Zunächst einmal hatte ihn das Gemeindehaus mit seinem Dach aus glasierten Ziegeln und seinem bescheidenen Fayenceschmuck voll glücklicher, gedeihlicher Fröhlichkeit mit Zuversicht erfüllt. In den Werkstätten pulsierte die lebendige Arbeit, die Lager strotzten von Vorräten. Dann hatte er die Hoffnung, daß es gelingen werde, die Bauern von Combettes zu vereinigen und seinem Unternehmen anzugliedern, dem sie das Korn liefern sollten im Austausch für Werkzeuge und Maschinen. Und welch erquickenden Ausblick eröffneten die Schulen, der von lustigem Lärm belebte Garten mit seiner glücklichen Jugend, in der die Zukunft heranblühte! Und nun durchschritt er seine heranwachsende Stadt mit den hübschen weißen Häuschen, die sich mitten im Grün auf allen Seiten erhoben. Der Städtegründer, der in ihm lebte, empfand innige Freude bei jedem neuen Bau, der sich zu den anderen gesellte und das junge Gemeinwesen vergrößerte. War dies nicht seine Mission? Sollten nicht die Menschen und die Dinge sich nach seinem Wort erheben und zueinanderstehen? Er fühlte die Kraft in sich, den Steinen zu gebieten, daß sie sich auftürmten, sich zu menschlichen Behausungen, zu öffentlichen Gebäuden ordneten, in denen die Brüderlichkeit, die Wahrheit, die Gerechtigkeit wohnen sollten. Freilich war er erst beim Säen, er hielt noch bei der Grundlegung, bei den ersten zögernden Anfängen. Aber an manchen Tagen glücklicher Seelenstimmung sah er im Geiste die vollendete Stadt, und das Herz jubelte ihm in der Brust.
Das Haus, in dem Ragu und Josine wohnten, eines der ersten der Anlage, befand sich nahe am Park der Crêcherie, zwischen den Häusern Bonnaires und Bourrons. Als Lucas die Straße überschritt, sah er von weitem an einer Ecke drei Frauen in eifrigem Gespräch. Er erkannte bald die Frauen Bonnaire und Bourron und die Fauchard, die heute mit ihrem Mann herübergekommen war, um zu sehen, ob die Crêcherie wirklich das Schlaraffenland sei, von dem man erzählte, und die sich nun offenbar bei den anderen Rat holte. Die Frau Bonnaire, mit der scharfen Stimme und den heftigen Gebärden, mochte wohl das Bild nicht allzu rosig ausmalen. Sie war immer wütend, immer unzufrieden, konnte niemals Freude empfinden und vergällte sich und anderen das Leben. Zuerst war sie froh gewesen, als ihr Mann Arbeit in der Crêcherie gefunden hatte, dann aber hatte sie sich in den Gedanken hineingelebt, daß ihnen sofort reichlicher Gewinn zufallen werde, und sie war nun voll verbissenen Grimmes, daß es vielleicht sehr lange dauern werde und daß sie sich noch immer nicht die Uhr kaufen konnte, nach der sie seit Jahren Sehnsucht hatte. Babette Bourron im Gegenteil, glücklich und zufrieden wie immer, erging sich in Lobpreisungen ihrer jetzigen Lage und war besonders erfreut darüber, daß ihr Mann sich nicht mehr in Gesellschaft Ragus betrank. Und zwischen den beiden stand nun die Frau Fauchard, bleicher, magerer und verhärmter denn je, ratlos, was sie glauben sollte, aber mehr zu der trostlosen Auffassung von Frau Bonnaire neigend, so überzeugt war sie, daß es für sie keine Freude mehr im Leben gebe.
Der Anblick dieser Frauen, wie sie mit düsteren Mienen beisammenstanden und plauderten, erweckte ein unangenehmes Gefühl in Lucas. Seine frohe Laune war verdorben, denn er wußte sehr gut, daß die Frauen einen störenden Einfluß in seinen keimenden Staat der Arbeit, des Friedens und der Gerechtigkeit brachten. Er kannte ihren starken Einfluß, durch sie und für sie hätte er sein Reich gründen mögen, und sein Mut sank, wenn er unter ihnen mißgünstige, feindliche oder einfach nur gleichgültige Frauen traf, die, anstatt die erwartete Hilfe zu bringen, das Hindernis, das zerstörende Element werden konnten, das alles gefährdete. Er ging grüßend vorüber, und die Frauen schwiegen mit verlegenen Mienen, als wären sie bei etwas Schlechtem ertappt worden.
Als Lucas die Wohnung Ragus betrat, fand er Josine mit einer Näharbeit am Fenster sitzen. Aber sie hatte die Arbeit auf den Schoß sinken lassen und saß in so tiefes Sinnen verloren da, daß sie ihn nicht hörte. Er blieb stehen und betrachtete sie eine Weile. Es war nicht mehr das armselige, schlecht gekleidete Mädchen, das er damals auf der Straße herumirrend getroffen hatte, halb verhungert, mit blassem, verhärmten Gesicht und unordentlichen Haaren. Sie war nun einundzwanzig Jahre alt und sah ungemein anmutig aus in dem einfachen blauleinenen Kleid, das ihre schlanke, geschmeidige, zarte aber nicht magere Gestalt umschloß. Ihre schönen blonden, seidenweichen Haare waren ebenso angenehm wie ihr reizendes Gesichtchen mit den lachenden blauen Augen und dem kleinen, frischen Munde. Und wie ein wohlgestimmter Rahmen umgab sie das helle, reinliche, mit gestrichenen Möbeln eingerichtete Eßzimmer, ihr liebster Raum in dem kleinen Hause, das sie so glücklich betreten hatte und das sie seit nun drei Jahren mit soviel Freude bewirtschaftete und zu verschönern sich bemühte.
Woran dachte Josine, während sie mit traurigem Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht in tiefem Sinnen dasaß? Als Bonnaire Ragu bewogen hatte, ihm zu folgen und sich der Genossenschaft der Kameraden anzuschließen, hatte sie geglaubt, daß nun alles Leid vorüber sei. Sie sollte nun ein hübsches Haus für sich haben, das tägliche Brot war gesichert, und Ragu selbst würde sicher ein besserer Mensch werden, wenn er in seiner Arbeit nicht mehr soviel Plage und Verdruß hatte. Und ihre Erwartungen wurden nicht getäuscht, Ragu hatte sie sogar, auf den ausdrücklichen Wunsch Soeurettes, geheiratet, freilich, ohne daß sie hierüber so glücklich gewesen wäre, wie sie einmal, zu Anfang ihres Verhältnisses, geglaubt hätte. Sie hatte sogar nicht eher eingewilligt, als bis sie Lucas befragt hatte, der ihr Retter, ihr Herr, ihr Gott war. Und im tiefsten Herzen barg sie die köstliche Erinnerung, daß er durch diese Bitte um Erlaubnis in Verwirrung gesetzt worden war, daß er, wie sie fühlte, eine Minute des Schmerzes durchgemacht hatte, ehe er seine Einwilligung gab. Aber war das nicht die beste, die einzig mögliche Lösung? Sie konnte nur Ragu heiraten, da dieser sich dazu bereiterklärte. Lucas mußte um ihretwillen froh über diese Wendung sein, und er bewahrte ihr auch nach ihrer Heirat dieselbe Zuneigung, sandte ihr, sooft er sie sah, ein Lächeln zu, als ob er sie fragen wollte, ob sie glücklich sei. Und ihr armes Herz verging, verzehrte sich in unbefriedigter Sehnsucht nach Zärtlichkeit.
Mit einem leichten Zusammenzucken erwachte Josine aus ihrem trüben Sinnen, als ob ein Hauch ihr die Nähe dessen angekündigt hätte, an den sie dachte. Sie wandte sich um und sah Lucas, der sie mit teilnahmsvollem Lächeln betrachtete.
»Ich bin gekommen, liebes Kind, weil Ragu mir sagte, daß Sie sich in diesem Hause sehr schlecht befinden, daß es dem vollen Windanfall von der Ebene her ausgesetzt ist und daß der Sturm wieder drei Scheiben in Ihrem Schlafzimmer zerbrochen hat.«
Sie hörte ihn verwirrt und betroffen an und wußte nicht, was sie sagen sollte, um ihren Mann nicht Lügen zu strafen und doch auch selbst nicht zu lügen.
»Ja, Herr Lucas, es sind einige Scheiben zerbrochen, aber ich weiß nicht gewiß, ob das der Wind getan hat. Freilich, wenn der Wind von der Ebene her weht, bekommen wir unser gutes Teil davon.«
Ihre Stimme zitterte, sie konnte zwei schwere Tränen nicht zurückhalten, die ihr über die Wangen herabrollten. Ragu war es, der in einem Wutanfall die Scheiben zerbrochen hatte, als er alles zum Fenster hinauswerfen wollte.
»Wie, Josine, Sie weinen? Was fehlt Ihnen? Sagen Sie mir alles, Sie wissen, daß ich Ihr Freund bin.«
Er hatte sich neben sie gesetzt, sehr bewegt, als er sie unglücklich sah. Aber schon hatte sie ihre Tränen getrocknet. »Nein, nein, es ist nichts. Verzeihen Sie meine Torheit. Sie treffen mich gerade in einem schlechten Augenblick, wo ich mir dumme Gedanken mache und mich unnötig abhärme.«
Aber sosehr sie sich auch sträubte, er brachte sie dazu, daß sie ihm ihr Herz ausschüttete. Ragu konnte sich in diese friedliche und geordnete Lebensweise, in das langsame und ausdauernde Emporarbeiten zu einer besseren Existenz nicht hineinfinden. Er schien Heimweh zu haben nach dem Elend und den Leiden der Lohnsklaverei, an die er sich gewöhnt hatte, für die er Trost in der Schenke und in ohnmächtigen Worten der Empörung fand. Er vermißte die schwarzen und schmutzigen Werkstätten, den stillen, geheimen Kampf mit den Vorgesetzten, die brutalen Streitigkeiten mit den Kameraden, die Tage voll Haß und Wut, die damit endeten, daß man zu Hause das Weib und die Kinder schlug. Nachdem er sich zuerst in Spottreden Luft gemacht hatte, war er nun bei den Schimpfreden angelangt, nannte die Crêcherie eine große Kaserne, ein Gefängnis, in dem man gar keine Freiheit hatte, nicht einmal die, einmal ein Gläschen mehr zu trinken, wenn man Lust dazu bekam. Dabei verdiente man gar nicht mehr als in der Hölle und hatte obendrein allerlei Sorgen, war der Gefahr ausgesetzt, daß das ganze Unternehmen schief ging, daß bei der Gewinnausschüttung gar nichts auf einen kam. So liefen seit zwei Monaten sehr böse Gerüchte um, es hieß, daß man sich dieses Jahr werde sehr einschränken müssen, weil neue Maschinen anzuschaffen wären. Und in den Genossenschaftsmagazinen ging es auch oft genug sehr unordentlich zu. Manchmal sandten sie einem Kartoffeln, wenn man Petroleum bestellt hatte. Manchmal vergaßen sie die Bestellung ganz, und man mußte dreimal hinlaufen, ehe man endlich bekam, was man wollte. So höhnte er und schmähte er, nannte die ganze Crêcherie eine elende Bude, der er sobald wie möglich den Rücken kehren werde.
Es folgte ein peinliches Schweigen. Lucas' Stirn hatte sich verdüstert, denn es lag ein Körnchen Wahrheit in allen diesen Beschuldigungen. Das waren die unvermeidlichen Reibungen und Hemmungen der noch neuen Maschine. Und besonders die Gerüchte, die über die Schwierigkeiten dieses Jahres umliefen, gingen ihm um so mehr zu Herzen, als er in der Tat fürchtete, daß er werde von den Arbeitern einige Opfer verlangen müssen, um das Gedeihen des Unternehmens nicht zu gefährden.
»Und Bourron stimmt in das Geschrei Ragus mit ein, nicht wahr?« sagte er. »Aber Sie werden noch nicht gehört haben, daß Bonnaire sich beklagt hat?«
Josine schüttelte den Kopf. In diesem Augenblicke drangen die lauter gewordenen Stimmen der draußen stehenden drei Frauen durchs Fenster herein. Am lautesten die von Frau Bonnaire, die in ihrer gewohnten boshaften Art keifte und zeterte. Wohl schwieg Bonnaire, der gelassene, überlegte Mann, der klug genug war, den Erfolg eines langwierigen Versuches abwarten zu können, aber die Zunge seiner Frau genügte, um sämtliche Weiber des heranwachsenden Gemeinwesens aufzuhetzen. Und Lucas sah sie wieder vor sich, wie sie der Fauchard allen Mut benahm und den baldigen Untergang der Crêcherie vorhersagte.
»Also Sie sind nicht glücklich. Josine?« fragte er langsam.
Sie versuchte wieder zu leugnen.
»Oh, Herr Lucas, wie sollte ich nicht glücklich sein, nach allem, was Sie für mich getan haben!«
Aber sogleich stiegen ihr wieder die verräterischen Tränen in die Augen und rollten über ihre Wangen herab.
»Sie sehen, Josine, Sie können es nicht leugnen, daß Sie nicht glücklich sind.«
»Nein, ich bin nicht glücklich, Herr Lucas. Aber Sie können es nicht ändern, es ist nicht Ihre Schuld. Sie sind mein guter Engel gewesen, aber was soll man tun, wenn nichts das Herz dieses unglücklichen Mannes bessern kann. Er ist wieder so böse wie früher, er kann Nanet nicht leiden, er hat gestern abend alles zerbrechen wollen und hat mich geschlagen, weil das Kind ihm angeblich ungebührliche Antworten gibt. Kümmern Sie sich nicht darum, Herr Lucas, diese Sachen gehen mich allein an, und ich verspreche Ihnen, daß ich sie mir sowenig wie möglich zu Herzen nehmen werde.« Sie hatte mit schwacher, bebender Stimme gesprochen und brach nun in Schluchzen aus. Lucas fühlte schmerzlich seine Ohnmacht und wurde von wachsender Traurigkeit erfaßt. Alle freudigen Gefühle des heutigen Vormittags waren verflogen, ein eisiger Hauch des Zweifels, der Mutlosigkeit durchkältete ihn, obwohl er sonst so tapfer war und dessen Kraft in seiner fröhlichen Zuversicht lag. Die Dinge gehorchten ihm, der materielle Erfolg kündigte sich in hoffnungsvoller Weise an, und nur die Menschen wollten sich nicht umbilden lassen, in ihrem Herzen wollte die göttliche Liebe, die fruchtbare Blüte der Güte und der Solidarität nicht gedeihen! Wenn die Menschen haßerfüllt und gewalttätig blieben, konnte er sein Werk nicht vollenden. Und wie die Liebe in ihnen erwecken, wie ihnen den Begriff des wahren Glückes beibringen? Josine, die er aus so tiefer Not befreit, die er aus so entsetzlichem Elend gerettet hatte, war das Bild seines ganzen Werkes. Solange sie nicht glücklich war, hatte sein Werk keinen Bestand. Sie war das Weib, das unglückliche Weib, die Sklavin, das Lasttier, die Genußware, deren Retter zu werden der Traum seines Lebens war. Durch sie und für sie, unter allen Frauen, sollte das Reich der Zukunft entstehen. Und wenn Josine noch immer unglücklich war, so bewies ihm dies, daß noch nichts Festes gegründet war, daß noch alles zu tun übrigblieb. Kummervollen Herzens blickte er in die Zukunft, sah schwere, leidensvolle Tage voraus, fühlte deutlich, daß noch ein schrecklicher Kampf zwischen der Vergangenheit und der Zukunft herrsche und daß dieser Kampf ihn Blut und Tränen kosten werde.
»Weinen Sie nicht, Josine, fassen Sie Mut, ich schwöre Ihnen, daß Sie glücklich sein werden, weil Sie es werden müssen, weil alle Welt glücklich werden muß.«
Er hatte das so sanft und gütig gesagt, daß sie wieder ein Lächeln fand.
»Ja, ich werde den Mut nicht verlieren, Herr Lucas, ich weiß, daß Sie mich nicht verlassen und daß Sie schließlich Ihren Willen durchsetzen werden, weil Sie gut und stark sind. Ich werde warten, ich schwöre es Ihnen, und müßte ich mein ganzes Leben warten.« Es war wie ein Gelöbnis, wie ein Austausch von feierlichen Versprechungen im Erhoffen des kommenden Glückes. Er war aufgestanden, hatte ihre Hände ergriffen, die er zärtlich drückte, und er fühlte ihren Gegendruck. Mit dieser einfachen Berührung von wenigen Sekunden nahmen sie Abschied. Wie freundlich und sauber war das kleine Zimmer mit den gestrichenen Möbeln, wie einfach, wie friedlich und glücklich könnte das Leben darin verfließen!
»Auf Wiedersehen, Josine!«
»Auf Wiedersehen, Herr Lucas!«
Lucas wandte sich seiner Wohnung zu. Er nahm den Weg über die Terrasse, unter der die Straße nach Combettes sich hinzog, als er plötzlich innehielt. Unten auf der Straße sah er Herrn Jérôme, der sich in seinem Rollstuhl vorbeifahren ließ. Diese Begegnung erinnerte ihn an zahlreiche andere, die er mit dem in seinem Wagen sitzenden gelähmten Greise gehabt hatte, besonders an die erste, als er ihn gesehen hatte, wie er an den Gebäuden der Hölle vorbeigerollt wurde und mit seinen wasserhellen Augen auf die rauchende, tosende Fabrik blickte, die er begründet hatte. Nun kam er an der Crêcherie vorbei und betrachtete ihre neuen, im Sonnenlicht blinkenden Gebäude mit denselben hellen, ausdruckslosen Augen. Warum hatte er sich hierher fahren lassen, warum umkreiste er das Werk wie zu einer eingehenden Prüfung? Was dachte er, was urteilte er, welchen Vergleich wollte er anstellen? Vielleicht war es aber auch nichts als eine absichtslose Spazierfahrt, die Laune eines armen, in Kinderei zurückverfallenden Greises. Der Diener hatte seinen Schritt verlangsamt, und Herr Jérôme erhob sein großes, von weißen Haaren umgebenes Gesicht mit den markanten, regelmäßigen Zügen und sah ernst und unbewegt auf jede Einzelheit, auf jede Fassade, auf jeden Schornstein, als wollte er sich ein genaues Bild einprägen von dieser neuen Stadt, die da neben dem Werke, das er einst gegründet hatte, emporwuchs.
Da geschah etwas, was die Bewegung Lucas' verstärkte. Ein anderer alter, ebenfalls gelähmter Mann, der sich noch mühevoll auf seinen geschwollenen Beinen weiterschleppen konnte, kam die Straße entlang und auf den Rollstuhl zu. Es war der alte Ragu, dick und schwammig, den die Bonnaires zu sich genommen hatten und der an sonnigen Tagen kleine Spaziergänge in der Nähe der Werke machte. Zuerst mochte er mit seinen geschwächten Augen Herrn Jérôme nicht gesehen haben. Plötzlich fuhr er zusammen, wich zur Seite und drückte sich gegen die Mauer, als ob die Straße nicht breit genug für sie beide wäre. Dann zog er seinen Strohhut, neigte sich tief und grüßte demütig. Es war der Ahnherr der Qurignons, der Chef und Begründer der Fabrik, dem der älteste Ragu, Lohnarbeiter und Vater von Lohnarbeitern, seine Ehrfurcht bezeigte. Jahre und hinter ihm Jahrhunderte der Arbeit, des Leidens und des Elends krümmten sich in diesem untertänigen Gruße. Beim Anblick des Herrn, ob er auch gelähmt war, knickte der alte Sklave, dem die Unterwürfigkeit jahrhundertealter Knechtschaft im Blute steckte, zusammen und beugte sich tief. Und Herr Jérôme, der ihn nicht einmal sah, wurde weitergerollt wie ein seelenloses Götzenbild, während er fortfuhr, die neuen Gebäude der Crêcherie anzublicken, vielleicht ohne sie zu sehen.
Lucas war erbebt. Eine wie alte Vergangenheit galt es zu zerstören, welch bösartiges, überwucherndes, vergiftendes Unkraut galt es auszurotten in den bisherigen Menschen! Er sah auf seine Stadt, die eben erst aus dem Boden zu sprießen begann, er fühlte, unter wieviel Mühen und Schmerzen, über wieviel Hindernisse hinweg, sie nur werde wachsen und gedeihen können. Nur die Liebe, das Weib und das Kind konnten den endgültigen Sieg erringen helfen.