Emile Zola
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Emile Zola

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Dritter Teil

I

Auf der Guerdache wirkte der Schlag entsetzlich. Von einem Tag zum anderen war Vernichtung auf diesen Sitz der Freuden und des üppigen Genusses niedergesunken, wo bisher ein Fest dem anderen gefolgt war. Eine Jagd mußte abgesagt werden, die großen Dienstag-Diners konnten nicht mehr stattfinden. Ein großer Teil der zahlreichen Dienerschaft sollte entlassen werden, man sprach sogar schon vom Verkauf der Wagen, der Pferde und der Meute. Der Garten und der Park, die von fröhlichen, lärmenden Gästen belebt gewesen waren, lagen vereinsamt. Und das prächtige Wohnhaus selbst, die Salons, der Speisesaal, das Billardzimmer, das Rauchzimmer waren zu Einöden geworden, durch die der Hauch des Unheils zog. Das Ganze war eine vom Blitz getroffene Stätte, die in der Einsamkeit des plötzlichen Unglücks trauernd dalag.

Und durch diese unendliche Trostlosigkeit schleppte Boisgelin seine jammervolle Gestalt. Zerschmettert, aufgelöst, keines klaren Gedankens fähig, verbrachte er entsetzliche Tage, wußte nicht, was er mit seinem Körper anfangen sollte, irrte wie eine Seele im Fegefeuer unter den Trümmern seiner Freuden umher. Er war im Grunde nichts als ein armseliges Geschöpf, ein Sportsmann und Lebemann von durchschnittlicher Liebenswürdigkeit, dessen elegante Gestalt mit dem hochmütig-vornehmen Gesicht unter dem ersten kräftigen Schicksalshauch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zusammenknickte. Er, der bis jetzt nur seinen Vergnügungen gelebt hatte, die er für etwas Selbstverständliches hielt, der mit seinen beiden Händen nie das geringste getan hatte, und der glaubte, daß er ein Mensch aus besonderem Stoffe, ein Auserlesener und Bevorrechtigter sei, dem die Arbeit anderer Nahrung und Genuß verschaffen muß – wie hätte er die Logik der Katastrophe begreifen sollen, die ihn zermalmte? Die Religion seiner Eigensucht hatte einen zu schweren Schlag erlitten, und er stand betäubt vor der Zukunft, deren Drohung er noch nicht verstand. In dem dunklen Entsetzen, das ihn erfüllte, war zu oberst die Angst des Nichtstuers, des Ausgehaltenen, der sich vollkommen unfähig fühlt, selbst seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Delaveau war nicht mehr da: von wem sollte er nun die Zinsen verlangen, die sein Vetter ihm versprochen hatte, als er ihn dazu bewog, sein Kapital in der guten Spekulation mit den Stahlwerken anzulegen? Die Werke waren ein Raub der Flammen geworden, das Kapital war mit ihnen verbrannt – wovon sollte er morgen leben? Und er irrte wie ein Wahnsinniger durch den einsamen Garten, durch das öde Haus, ohne eine Antwort auf seine Fragen zu finden.

Am ersten Tage nach dem Brande konnte Boisgelin den Gedanken an das entsetzliche Ende Delaveaus und Fernandes nicht loswerden. Er selbst konnte über den Hergang nicht im Zweifel sein, denn er erinnerte sich, wie wuterfüllt sie ihn verlassen hatte, indem sie Drohungen gegen ihren Gatten ausstieß. Offenbar hatte bei einem heftigen Streite Delaveau selbst das Haus in Brand gesteckt, um sich samt der Schuldigen zu vernichten. Für den oberflächlichen Genußmenschen Boisgelin lag in dieser Tat eine düstere Wildheit, eine Maßlosigkeit furchtbarer Leidenschaften, die ihm Entsetzen einflößte. Und was ihn gänzlich jeden Halt verlieren ließ, war das Bewußtsein, daß er nicht über die Geistesgaben, über die Tatkraft verfügte, um ein wenig Ordnung in diese verwickelte Angelegenheit zu bringen. Von früh bis abend wälzte er wirre Pläne, ohne sich für etwas entscheiden zu können. Sollte er versuchen, das Werk wieder in Gang zu bringen, einen Direktor zu finden, Geld aufzunehmen, eine Gesellschaft zu gründen, die das Unternehmen weiterführen würde? Das schien eine fast unmögliche Aufgabe, denn die Verluste waren sehr bedeutend. Oder sollte er nach einem Käufer Umschau halten, der das Grundstück, die geretteten Maschinen und Vorräte auf eigene Rechnung übernahm? Er zweifelte sehr, ob er einen solchen Käufer finden würde, und besonders, ob er von ihm einen genügend großen Kaufschilling erhalten würde, um alle Verbindlichkeiten einlösen zu können. Und bei alledem blieb noch immer die Frage zu lösen, wovon er leben sollte auf dieser Guerdache, deren Unterhaltung schwere Kosten verursachte und wo es am Ende des Monats vielleicht nicht einmal mehr Brot für alle geben würde.

Nur ein Wesen fand sich, das Mitleid hatte mit diesem jammervollen, kraftlosen Menschen, der durch sein leeres Haus irrte wie ein verlorenes Kind, und das war Suzanne, seine Frau, die sanftmütige Heldin, der er so großen Kummer bereitet hatte. Anfangs, als er sie zwang, sein Verhältnis mit Fernande zu dulden, hatte sie sich zwanzigmal des Morgens mit dem festen Entschlusse erhoben, ein gewaltsames Ende zu machen und die Geliebte aus dem Hause zu jagen. Und jedesmal hatte sie doch wieder in ihrer gewollten Blindheit verharrt, da sie wußte, daß Boisgelin, wenn sie Fernande hinauswies, ihr folgen würde, so vollständig, so willenlos war er in den Banden dieses Weibes. Dann hatte das Verhältnis allmählich feste Formen angenommen, die Gatten schliefen in getrennten Zimmern, und sie war seine rechtmäßige Frau nur noch vor der Welt. Sie widmete sich nur der Erziehung ihres Sohnes Paul, dem zuliebe sie das Opfer gebracht hatte, den Schein aufrechtzuerhalten. Wäre dieses Kind nicht gewesen, das blond und sanft war wie sie, nie hätte sie soviel Kraft und Selbstüberwindung gefunden. Sie hatte ihn aber auch dem unwürdigen Vater weggenommen, hatte sich seinen Geist und sein Herz ganz zu eigen gemacht und fand ihren Trost darin, Klugheit und Güte in diesen Boden zu pflanzen. So waren die Jahre hingegangen, in der stillen Freude, den Knaben zu einem sanften und klugen Menschen heranwachsen zu sehen. Und sie hatte gleichsam aus der Ferne und ohne daran teilzunehmen das Drama, das sich abspielte, mit angesehen, den langsamen Niedergang der Hölle gegenüber dem steigenden Gedeihen der Crêcherie, den immer wilder werdenden Taumel der Genußsucht, der ihre Umgebung dem Abgrunde zutrieb. Endlich hatte ein letzter Wahnsinnsausbruch alles in ein vernichtendes Flammenmeer gestürzt, und sie zweifelte nicht, daß Delaveau, dem endlich die Augen geöffnet worden waren, selbst diesen Riesenscheiterhaufen entzündet hatte, um sich darauf mit der Schuldigen, der Verderberin, der Vergifterin zu verbrennen. Auch sie war von der Katastrophe tief erschüttert, und sie fragte sich, ob sie nicht einen Teil der Schuld daran trage, durch die Schwäche und die stille Ergebung, mit der sie so lange die Schande und den Verrat in ihrem Hause geduldet hatte. Wenn sie sich sofort aufgelehnt hätte, vielleicht wäre das Verbrechen nicht so weit gediehen. Diese Vorwürfe ihres Gewissens machten sie sehr unglücklich und öffneten ihre Seele dem Mitleid mit dem jammervollen Menschen, den sie seit dem schrecklichen Geschehnis in seiner Zerrüttung und Hilflosigkeit durch den verlassenen Garten und das verödete Haus irren sah.

Als sie eines Vormittags den Salon durchschritt, der der Schauplatz so vieler eleganter Feste gewesen war, sah sie ihn zusammengesunken in einem Sessel sitzen, laut schluchzend wie ein kleines Kind. Von tiefem Mitleid bewegt, näherte sie sich ihm, mit dem sie seit Jahren außer in Gegenwart von Fremden kein Wort mehr gewechselt hatte.

»Wenn du dich der Verzweiflung überläßt«, sagte sie, »wirst du nicht die Kraft finden, deren du bedarfst.«

Verwirrt darüber, daß sie mit ihm sprach, sah er sie durch seine Tränen an.

»Es hilft nichts, von früh bis abends herumzuirren«, fuhr sie fort. »Du mußt den Mut aus dir selbst holen, anderswo wirst du ihn nicht finden.«

Mit verzweifelter Gebärde erwiderte er leise:

»Ich bin so allein!«

Er war eigentlich kein schlechter, nur ein dummer und schwacher Mensch, eine jener feigen Naturen, die der Egoismus herzlos und grausam macht. Und es lag ein solcher Jammer in dem Tone, in dem er klagte, sie lasse ihn in seinem Unglück allein, daß sie tief gerührt war.

»Du willst sagen, daß du allein sein wolltest. Warum bist du, seitdem all das Schreckliche sich zugetragen hat, nicht zu mir gekommen?«

»Mein Gott«, flüsterte er, »könntest du mir verzeihen?«

Er ergriff ihre Hände, die sie ihm nicht entzog, und beichtete sein ganzes Vergehen in leidenschaftlicher Reue. Er gestand nichts, was sie nicht schon wußte: seine langjährige Untreue, sein Liebesverhältnis mit dem Weibe, deren Gesellschaft er ihr aufgezwungen hatte, die ihn toll gemacht, ihn in den Ruin gejagt hatte. Aber er klagte sich mit so rücksichtsloser Offenheit an, daß sie gerührt war wie von einem neuen, vollkommenen Geständnis, dessen Demütigung er sich hätte ersparen können. Und dann sagte er:

»Ja, ich habe dich viele Jahre hindurch gekränkt und beleidigt, ich habe schändlich gehandelt. Aber warum hast du mich auch mir selbst überlassen, warum hast du keinen Versuch gemacht, mich zurückzuführen?«

Damit berührte er den wunden Punkt ihres Gewissens, das ihr geheime Vorwürfe machte, daß sie vielleicht nicht ihre volle Pflicht getan hatte, indem sie ihn nicht in seinem Falle aufhielt. Und die Versöhnung, vom Mitleid angeregt, wurde vollendet durch dieses Gefühl schwesterlicher Nachsicht. Haben die reinsten, die seelenstärksten Menschen nicht oft einen Teil der Schuld, wenn die Schlechten und Schwachen neben ihnen der Sünde verfallen?

»Ja«, sagte sie, »ich hätte vielleicht mehr kämpfen sollen, ich habe zu sehr meinem Stolz und meinem Friedensbedürfnis gehorcht. Wir bedürfen beide des Vergessens, lassen wir die Vergangenheit begraben sein.«

Ihr Sohn Paul ging eben durch den Garten, und sie rief ihn herein. Er war nun ein hübscher, großer Junge von achtzehn Jahren, sehr klug und sehr gut, und besonders frei von allen Klassenvorurteilen, bereit, von seiner Hände Arbeit zu leben, sobald die Umstände es erforderten. Er hatte eine starke Liebe zur Erde gefaßt und verbrachte ganze Tage auf dem Pachthof, wo er sich für alle Verrichtungen des Ackerbaues interessierte und mit lebhaftem Anteil das Keimen und Wachsen der Bodenfrüchte beobachtete. Auch jetzt, als seine Mutter ihn rief, war er gerade auf dem Wege zu Feuillat, um einen neuen Pflug zu besichtigen.

»Komm her, mein Kind, dein Vater hat Kummer, und ich möchte, daß du gut zu ihm bist.«

Vater und Sohn waren einander entfremdet, ebenso wie Mann und Frau, Ganz im Banne seiner Mutter, war Paul in kaltem Respekt vor diesem Manne aufgewachsen, in dem er den bösen Menschen, den Quäler seiner Mutter ahnte. Nun sah er, ein wenig außer Fassung, seine Eltern an, die beide bleich und so tief erregt waren. Er begriff, was geschehen war, und umarmte seinen Vater zärtlich, dann warf er sich an die Brust seiner Mutter, um auch sie innig in seine Arme zu schließen. Die Familie hatte sich wiedergefunden, sie durchlebten einen glücklichen Moment, der die Gewähr vollkommener Eintracht in sich zu schließen schien.

Als auch Suzanne ihn umarmt hatte, mußte sich Boisgelin Gewalt antun, um nicht wieder in Tränen auszubrechen.

»Nun sind wir wieder vereinigt! Ach, meine Lieben, das gibt mir ein wenig Mut. Wir befinden uns in einer schrecklichen Lage! Wir müssen uns beraten, müssen eine Entscheidung treffen.«

Sie blieben dann noch in langem Gespräch beisammen. Er empfand das Bedürfnis zu sprechen, sich der Frau und dem Sohne mitzuteilen, nachdem er so lange allein unter seiner Verzweiflung und Ratlosigkeit gelitten hatte. Er glaubte Suzanne in Erinnerung rufen zu sollen, wie sie seinerzeit die Werke für eine Million, die Guerdache für eine halbe Million Frank gekauft hatten, aus den zwei Millionen, die ihnen damals geblieben waren, wovon eine Million ihre Mitgift, die andere den Rest seines Vermögens gebildet hatte. Die übrigen fünfmalhunderttausend Frank waren dann Delaveau als Betriebskapital ausgehändigt worden. Ihr ganzes Vermögen war also festgelegt, und dazu kam noch, daß infolge der jüngst eingetretenen Schwierigkeiten eine Anleihe von sechsmalhunderttausend Frank hatte aufgenommen werden müssen, die das Unternehmen schwer belastete. Die Werke schienen verloren dadurch, daß eine Feuersbrunst sie eingeäschert hatte, denn man hätte erst die sechsmalhunderttausend Frank bezahlen müssen, ehe man an einen Wiederaufbau hätte denken können.

»Was gedenkst du also zu tun?« fragte Suzanne.

Er setzte ihr hierauf auseinander, daß er zwischen zwei Auswegen schwanke, ohne sich für den einen oder den anderen entscheiden zu können, da beide ungeheure Schwierigkeiten boten: entweder alles, was noch von den Werken übrigblieb, zu irgendeinem Preis verkaufen, der wahrscheinlich kaum die Schuld von sechsmalhunderttausend Frank decken würde, oder neue Geldmittel auftreiben und eine Gesellschaft gründen, in die er das Grundstück und die geretteten Maschinen und Vorräte als seine Einlage einbringen würde – eine Möglichkeit, die ihm sehr wenig Aussicht auf Verwirklichung zu haben schien. Und dabei wurde es immer dringender, eine Lösung zu finden, denn mit jedem Tage wurde der Verlust größer.

»Wir haben noch die Guerdache«, warf Suzanne ein. »Wir können die verkaufen.«

»Oh, die Guerdache verkaufen!« schrie er auf. »Diesen Besitz verkaufen, an den wir so gewöhnt sind, an dem wir mit allen Fasern unseres Daseins hängen! Und dann sollen wir uns in irgendein armseliges Nest vergraben! Wie qualvoll, wie entsetzlich wäre das wieder!«

Sie runzelte die Stirn, als sie sah, daß er sich noch immer nicht an den Gedanken eines stillen, einfachen Lebens gewöhnen konnte.

»Mein lieber Freund, damit müssen wir uns nun unter allen Umständen abfinden. Wir können unmöglich länger ein so kostspieliges Haus erhalten.«

»Gewiß, wir werden die Guerdache verkaufen, aber später, bei günstiger Gelegenheit. Wenn wir sie jetzt zum Verkauf ausböten, so würden wir nicht die Hälfte des Wertes dafür bekommen. Man würde sehen, daß wir in einer Zwangslage sind, und alles würde sich vereinigen, um uns auszubeuten und sich an uns zu bereichern. Im übrigen ist die Guerdache dein Eigentum. Wie aus den Verträgen hervorgeht, wurde die Hälfte deiner Mitgift zum Ankauf des Landsitzes, die andere Hälfte als Beitrag zum Kaufpreis der Werke verwendet. Diese gehören uns also gemeinsam, die Guerdache aber dir allein, und nur deinetwegen möchte ich sie so lange wie möglich erhalten.«

Suzanne wollte für den Augenblick nicht länger in ihn dringen, aber mit einer Gebärde drückte sie aus, daß sie seit langem zu allen Opfern entschlossen sei. Boisgelin sah sie an und schien sich plötzlich an etwas zu erinnern.

»Ja, ich wollte dich schon immer fragen – hast du deinen ehemaligen Freund, Herrn Froment, nicht wiedergesehen?«

Sie bückte aufs höchste erstaunt auf. Als infolge der Gründung der Crêcherie und der daraus entstandenen scharfen Konkurrenz zwischen den beiden Unternehmungen der Bruch mit Lucas unvermeidlich geworden war, hatte diese Notwendigkeit ihr keinen geringen Kummer bereitet. Sie verlor in Lucas einen brüderlichen, treuen Freund, der sie getröstet und ihr beigestanden hätte. Aber sie nahm auch diesen schmerzlichen Verzicht auf sich, und sie hatte ihn seither nur hier und da auf ihren seltenen Spaziergängen gesehen, ohne je wieder ein Wort mit ihm zu sprechen. Er selbst befolgte dieses Beispiel der Zurückhaltung, und es schien für immer vorbei mit ihrer innigen Freundschaft von einst. Trotzdem brachte Suzanne dem Lebenswerke Lucas' ein leidenschaftliches Interesse entgegen, das sie vor aller Augen verbarg. Sie stand mit ihrem Herzen nach wie vor an seiner Seite, in seinen edeln Plänen, in seinem gewaltigen Ringen, ein wenig Gerechtigkeit und Liebe auf Erden heimisch zu machen. Sie hatte mit ihm gelitten, mit ihm triumphiert, und als man ihn infolge des Messerstichs Ragus verloren glaubte, hatte sie sich zwei Tage lang in ihr Zimmer eingeschlossen und keinen Menschen sehen wollen. Auf dem Grunde ihres Schmerzes hatte sie damals ein unerträglich qualvolles Gefühl entdeckt, entstanden aus dem Bewußtsein, daß er Josine liebte, wie sie gleichzeitig erfuhr. Hatte sie also Lucas geliebt, ohne es zu wissen? Hatte sie nicht von dem Glück, von der Seligkeit geträumt, einen Gatten zu haben wie ihn, der einen so herrlichen Gebrauch von seinem Reichtum gemacht hätte? Hatte sie sich nicht ausgemalt, wie sie ihm zur Seite gestanden hätte, welches Wunderwerk segensreicher Tätigkeit sie in Gemeinschaft mit ihm hätte vollbringen können? Aber er war ihr für immer verloren, er war nun der Gatte Josinens, und sie hatte entsagungsvoll ihr freudloses Dasein als verlassene Frau weitergeführt und ihr Leben nur noch ihrem Kinde gewidmet, Lucas hatte aufgehört, für sie zu existieren, und die Frage ihres Gatten griff in solche Fernen ihrer Vergangenheit zurück, daß sie wie aus einem langen Traum erwachend antwortete:

»Wie hätte ich Herrn Froment wiedersehen sollen? Du weißt, daß unsere Beziehungen seit mehr als zehn Jahren vollständig aufgehört haben.«

Boisgelin zuckte die Achseln.

»Trotz alledem hättet ihr einander begegnen und miteinander sprechen können. Ihr verstandet euch ja einmal so gut. Du stehst also in gar keiner Verbindung mehr mit ihm?«

»Nein«, erwiderte sie kurz, »wenn es der Fall wäre, wüßtest du es.«

Ihr Erstaunen wuchs, und zugleich fühlte sie sich verletzt über diese beharrlichen Fragen. Worauf wollte er hinaus? Weshalb wünschte er, daß sie in Verbindung mit Lucas geblieben wäre? Ihre Neugierde wurde rege.

»Warum fragst du mich das?«

»O nichts, es war nur eine flüchtige Idee, die mir im Augenblick gekommen ist.«

Nach kurzem Zögern verriet er trotzdem seine Gedanken.

»Es handelt sich nämlich um folgendes. Ich sagte dir, es gebe nur zwei Wege: entweder alles verkaufen oder eine Gesellschaft ins Leben rufen, der ich mit angehören würde. Mir ist jedoch eben ein drittes Mittel eingefallen, das eine Kombination der beiden anderen darstellt, nämlich unsere Werke von der Crêcherie ankaufen zu lassen und uns den größeren Teil des Reingewinnes zu bedingen. Verstehst du?«

»Nicht ganz.«

»Die Sache ist aber sehr einfach. Dieser Herr Lucas hat zweifellos lebhaftes Verlangen nach unserem Grundstück. Nun hat er uns ja genug Schaden zugefügt, nicht wahr, und es wäre nicht mehr als billig, wenn wir ihm einen recht großen Betrag abnehmen könnten. Das wäre dann unsere Rettung, besonders wenn wir uns einen Anteil am Ertrag der Werke vorbehielten, was uns ermöglichen würde, die Guerdache zu behalten und unser Leben auf bisherigem Fuße weiterzuführen.«

Suzanne wurde von großer Traurigkeit ergriffen, während sie ihm zuhörte. Er war also immer noch derselbe Mensch, die schreckliche Lehre hatte ihn um nichts gebessert. Er dachte immer noch daran, auf Kosten anderer zu spekulieren, aus der Zwangslage, in der die anderen sich befanden, Nutzen zu ziehen. Und seine Hauptsorge war nach wie vor, der Nichtstuer, der Ausgehaltene, der Kapitalist zu bleiben, der er bis jetzt gewesen war. Die Verzweiflung, die ihn seit der Katastrophe zu Boden drückte, hatte zur Ursache nur seine Angst, seinen Abscheu vor der Arbeit, die quälende Frage, wie er es ermöglichen sollte, weiterzuleben, ohne etwas zu tun, und unter seinen kaum getrockneten Tränen kam plötzlich wieder der Genußmensch zum Vorschein.

Sie wollte jedoch alles wissen, was er dachte.

»Was habe ich aber mit dieser Sache zu tun?« fragte sie. »Warum wolltest du wissen, ob ich mit Herrn Froment in Verbindung geblieben bin?«

»Mein Gott«, antwortete er gelassen, »weil mir das die Schritte erleichtert hätte, die ich einleiten will. Du begreifst, nach so vielen Jahren der Entzweiung ist es nicht leicht, mit einer Geschäftssache an jemand heranzutreten, während die Schwierigkeit bedeutend verringert würde, wenn der Jemand dein Freund geblieben wäre. Du hättest dann die Angelegenheit sehr leicht einleiten können...«

Sie unterbrach ihn mit rascher Handbewegung.

»Niemals hätte ich unter solchen Umständen mit Herrn Froment gesprochen! Du vergißt, daß ich ihm wie eine Schwester zugetan war.«

Der Unglückliche! Er sank bis zu der Niedrigkeit herab, auf die Zuneigung zu spekulieren, die Lucas für sie bewahrt haben mochte, und er wollte sie dazu gebrauchen, den Gegner zu erweichen, um ihn dann um so leichter zu besiegen!

Er sah wohl an ihrer Blässe und hörte in ihrem Ton, daß er sie verletzt hatte und daß sie sich wieder von ihm zurückzog, und er versuchte, den schlechten Eindruck zu verwischen.

»Du hast recht, geschäftliche Angelegenheiten gehen die Frauen nichts an, und du hättest tatsächlich eine solche Aufgabe nicht übernehmen können. Trotzdem bin ich erfreut, daß mir dieser Einfall gekommen ist, denn je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr scheint es mir, daß hier unsere einzige Rettung liegt. Ich werde meinen Angriffsplan entwerfen und werde schon ein Mittel finden, um mich mit dem Direktor der Crêcherie in Verbindung zu setzen. Wenn ich es nicht etwa anstellen kann, daß er den ersten Schritt tut. Das wäre noch klüger.«

Er war wieder von Zuversicht erfüllt durch die Hoffnung, einen anderen zu benachteiligen und sein Wohlbehagen dadurch zu sichern, wie er es bisher getan hatte. Das Leben hatte noch seine Reize, wenn man es mit weißen, untätigen Händen leben konnte. Er erhob sich mit einem Seufzer der Erleichterung und blickte durchs Fenster auf den großen Park, der sich im klaren Licht des Wintertages weiter zu erstrecken schien als je und den er im Frühling wieder mit festlichem Treiben zu erfüllen gedachte. »Wir wären dumm, wenn wir uns quälen würden!« rief er aus. »Sind Leute wie wir dazu gemacht, im Elend zu leben?«

Suzanne war sitzengeblieben, und ihr Herz zog sich zusammen in wachsender Traurigkeit. Einen Augenblick hatte sie gehofft, diesen Mann zu einem besseren Menschen wandeln zu können, und nun mußte sie einsehen, daß Stürme und Umwälzungen über ihn hinweggingen, ohne daß er sich änderte, ohne daß er die neue Zeit auch nur begriff. Die uralte Ausbeutung des Menschen durch den Menschen lag ihm im Blute, und er konnte nur leben und genießen auf Kosten anderer. Er blieb, was auch geschehen mochte, ein großes, unvernünftiges Kind, das ihr einmal zur Last fallen würde, wenn je die Gerechtigkeit zur Herrschaft gelangte. Sie gab ihn auf und empfand nur noch mit Bitterkeit gemischtes Mitleid für ihn.

Während dieses langen Gespräches war Paul unbeweglich sitzengeblieben und hatte seinen Eltern mit seinem klugen und sanften Gesichtsausdruck zugehört. In seinen großen, gedankenvollen Augen spiegelten sich alle Gefühle, die seine Mutter bewegten. Er litt wie sie unter der Unwürdigkeit des Gatten und Vaters. Sie bemerkte seine schmerzliche Verlegenheit und fragte:

»Wohin wolltest du eben gehen, mein Kind ?« »Auf den Pachthof, Mutter. Feuillat muß nun den neuen Pflug für die Wintersaaten bekommen haben.«

Boisgelin lachte laut auf.

»Und das interessiert dich?«

»Ja, Vater. In Combettes haben sie Dampfpflüge, die mehrere Kilometer lange Furchen auf ihren Äckern ziehen, die sie zu einem großen Gute vereinigt haben. Und das ist so wunderschön, wenn man sieht, wie die Erde bis in ihr Inneres aufgerührt und befruchtet wird.«

Er hatte mit jugendlicher Begeisterung gesprochen. Seine Mutter lächelte ihm zärtlich zu.

»Geh, mein Kind, sieh dir den neuen Pflug an und arbeite, du wirst dich nur um so wohler fühlen.«

In den folgenden Tagen bemerkte Suzanne, daß ihr Gatte sich nicht sehr beeilte, seinen Plan zur Ausführung zu bringen. Es schien ihm zu genügen, daß er das Mittel gefunden hatte, das nach seiner Meinung alle retten mußte, und er war wieder in seine Untätigkeit zurückverfallen. Im übrigen hatte sie noch ein großes Kind auf der Guerdache, dessen Art und Weise ihr seit kurzer Zeit Sorgen verursachte. Herr Jérôme, der Großvater, der nun, trotz des lebenden Todes, in dem ihn die Lähmung gefangenhielt, sein achtundachtzigstes Jahr erreicht hatte, führte nach wie vor sein abgesondertes, lautloses Leben und hatte keine andere Verbindung mit der Außenwelt als seine täglichen Spazierfahrten in dem von einem Diener geschobenen Rollstuhl. Nur Suzanne kam in sein Zimmer, pflegte ihn und umgab ihn mit der zärtlichen Sorgfalt, die sie ihm schon als kleines Mädchen vor dreißig Jahren in diesem gleichen Zimmer mit den auf den Park gehenden Fenstern gewidmet hatte. Sie war so gewöhnt an die Augen des Greises, an diese grundlosen, wasserklaren Augen, daß sie die flüchtigsten Gedanken darin lesen konnte. Seit den letzten Ereignissen hatten sich jedoch diese Augen verdunkelt, es schien, als ob eine aus der Tiefe aufsteigende Sandwolke sie trübe. Seit langen, langen, sich gleichbleibenden Jahren hatte sie sich über sie gebeugt, ohne etwas darin zu sehen, und hatte sich gefragt, ob das Denken nicht für immer aus ihnen entflohen sei, da sie stets hell und leer blieben. Kehrte das Denken nun wieder? Bedeuteten diese aufsteigenden Schatten, diese neue Fieberunruhe nicht etwa ein Wiedererwachen seines ganzen Wesens? Vielleicht war sogar sein Bewußtsein die ganze Zeit wach und ungetrübt gewesen, und vielleicht lockerte sich nun durch ein Wunder das eiserne Band der Lähmung und befreite ihn, kurz vor dem Ende, ein wenig von dem Schweigen und der Unbeweglichkeit, in der er so lange eingeschlossen gewesen war. Und sie folgte mit Staunen und wachsender Beklemmung dem Fortschreiten dieser langsamen Befreiung.

Eines Abends hielt der Diener, der Herrn Jérômes Wagen schob, Suzanne an, als sie gerade das Zimmer des Greises verließ, tief bewegt von dem sprechenden Blick, mit dem er sie bis zur Tür verfolgt hatte.

»Gnädige Frau, ich muß Ihnen etwas mitteilen. Ich glaube, daß der alte Herr nicht mehr derselbe ist. Heute hat er gesprochen.«

»Wie, er hat gesprochen?« rief sie bestürzt.

»Ja, schon gestern schien es mir, als hörte ich ihn mit halber Stimme undeutliche Worte lallen, als wir auf der Straße nach Brias vor der Hölle ein wenig anhielten. Aber heute, als wir an der Crêcherie vorüberkamen, hat er ganz sicher gesprochen.«

»Und was hat er gesagt?«

»Ich konnte es nicht verstehen, gnädige Frau, ich glaube, es waren nur Worte ohne Zusammenhang und ohne Sinn.«

Von da an überwachte Suzannens besorgte Zärtlichkeit den Großvater noch mehr als bisher. Der Diener erhielt den Auftrag, ihr jeden Abend zu berichten, was sich während des Tages ereignet hatte. Und so konnte sie genau das Wachsen der unruhigen Bewegung verfolgen, von der Herr Jérôme ergriffen schien. Er legte ein lebhaftes Verlangen zu sehen und zu hören an den Tag, er verlängerte die Dauer seiner Spazierfahrten immer mehr, als könne er nicht genug von dem beobachten, was sich auf den Straßen seinen Blicken bot. Und besonders ließ er sich täglich an zwei Orte führen: vor die Hölle und vor die Crêcherie, und wurde nicht müde, stundenlang die schwarzen Ruinen der einen, die helle Fröhlichkeit der anderen zu betrachten. Er bedeutete dem Diener, seinen Schritt zu verlangsamen, er ließ ihn wiederholt dieselbe kleine Strecke zurücklegen und stammelte dabei immer vernehmlicher jene Worte, deren Sinn man noch nicht begriff. Suzanne, die dieses langsame Erwachen in angstvolle Bestürzung versetzte, sandte endlich nach Doktor Novarre, um seine Meinung zu hören.

»Sie können sich nicht vorstellen, Herr Doktor«, sagte sie, nachdem sie ihm alle Einzelheiten geschildert hatte, »mit welchem Schrecken mich das erfüllt. Mir ist, als sähe ich dem Erwachen eines Scheintoten zu. Mein Herz zieht sich zusammen, das alles kommt mir vor wie ein Wunderzeichen, das große Ereignisse ankündigt.«

Novarre lächelte über diese Frauennervosität und wollte vor allen Dingen selbst sehen und beobachten. Aber es war nicht so leicht, an Herrn Jérôme heranzukommen, der seine Tür den Ärzten ebenso verschlossen hatte wie allen übrigen Menschen. Und da sein Zustand keine Behandlung erforderte, hatte der Doktor seit Jahren tatsächlich keinen Versuch gemacht, sich ihm zu nähern. Er erwartete ihn also im Park, bis er seine gewohnte Spazierfahrt antrat, grüßte ihn und folgte ihm in einiger Entfernung. Dann wagte er es sogar, ihn anzusprechen, und die Augen des Greises belebten sich, seine Lippen öffneten sich zu gestammelten, unverständlichen Worten. Der Arzt war erstaunt und bewegt.

»Sie haben recht, gnädige Frau«, sagte er zu Suzanne, »es ist ein sehr merkwürdiger Fall. Wir haben es hier offenbar mit einer starken Krisis zu tun, die einer heftigen seelischen Erregung entstammen muß.«

»Und was ist Ihre Meinung, Herr Doktor?« fragte sie ängstlich. »Was sollen wir tun?«

»Wir können nichts tun, gnädige Frau, das steht leider fest. Und was die Entwicklung eines solchen Falles betrifft, so würde ich es nicht wagen, irgend etwas mit Sicherheit vorherzusagen. Ich kann Ihnen nur das eine sagen, daß solche Beispiele allerdings selten, aber nicht unerhört sind. So habe ich einmal im Armenhaus von Saint-Cron einen alten Mann behandelt, der seit nahezu vierzig Jahren dort gelebt hatte, ohne daß die Wärter ihn je ein einziges Wort hätten sprechen hören. Plötzlich schien er zu erwachen, sprach zuerst verwirrt, dann sehr klar und verständlich, und bald erging er sich stundenlang in einem Strom ununterbrochenen Redens. Aber das merkwürdigste war, daß dieser alte Mann, den man für schwachsinnig gehalten hatte, während der vierzig Jahre seines scheinbaren Geistesschlummers alles gesehen, alles gehört, alles verstanden hatte. Und was er nun in einem nicht enden wollenden Schwall von Worten hervorsprudelte, das war gerade die Wiedergabe seiner Empfindungen, seiner Erinnerungen, die sich während des vierzigjährigen Aufenthaltes im Armenhause in ihm angehäuft hatten.«

Suzanne erbebte und suchte die heftige Erregung zu verbergen, in die dieses Beispiel sie versetzte.

»Und was ist aus dem Unglücklichen geworden?« fragte sie.

Novarre zögerte einen Augenblick.

»Er starb drei Tage danach. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, gnädige Frau, daß diese Krisen fast immer das Anzeichen des nahen Endes sind. Es ist das alte Bild von der Lampe, die noch einmal heller aufflackert, ehe sie erlischt.«

Ein tiefes Schweigen folgte. Sie war sehr bleich geworden, der Schauer des Todes hatte sie angeweht. Aber mehr noch als das nahe Ende des unglücklichen Großvaters bereitete ihr ein anderer Gedanke schmerzliche Qual. Hatte auch er, gleich dem alten Mann in Saint-Cron, alles gesehen, alles gehört, alles verstanden? Sie wagte noch eine Frage.

»Halten Sie auch die Geisteskräfte unseres teuren Kranken für gelähmt, Herr Doktor? Glauben Sie, daß er versteht, was um ihn vorgeht, daß er denkt?«

Der Doktor machte die unbestimmte Gebärde des Mannes der Wissenschaft, der nur das fest behauptet, was zweifellos bewiesen ist.

»Da fragen Sie mich zuviel, gnädige Frau. Alles ist möglich in dem geheimnisvollen Behältnis des Gehirns, in das wir fast noch gar nicht eingedrungen sind. Die Denkkraft kann unbeeinträchtigt geblieben sein, wenn auch die Sprache gelähmt ist. Wenn jemand nicht spricht, so beweist das noch nicht, daß er auch nicht denkt. Gleichwohl hätte ich eine Abschwächung auch der geistigen Fähigkeiten Herrn Jérômes angenommen, ich hätte ihn für in greisenhafte Kindlichkeit verfallen gehalten.«

»Aber Sie sagen, es ist möglich, daß er noch im Besitze seiner vollen Geisteskräfte sei?«

»Sehr möglich, und ich halte es jetzt sogar für wahrscheinlich, angesichts dieses Wiedererwachens seines ganzen Wesens, das mit einer allmählichen Rückkehr des Sprechvermögens verbunden zu sein scheint.«

Die Folge dieser Unterredung war ein vorherrschendes Gefühl schmerzlicher Angst in der Seele Suzannens. Sooft sie liebevoll im Zimmer des Großvaters verweilte, konnte sie nicht ohne geheimes Entsetzen seine Wiederauferstehung beobachten. Wenn er alles gesehen, alles gehört, alles verstanden hatte, in der stummen Starrheit, in die er durch die Lähmung gebannt war, welch entsetzliches Drama hatte sich unter der Decke seines Schweigens in seiner Seele abgespielt! Seit mehr als dreißig Jahren war er ein unbeweglicher Zeuge des Verfalles seines Geschlechts, sahen seine hellen Augen den Untergang seiner Familie mit an. Zwei Generationen hatten genügt, um am verzehrenden Feuer der Genußsucht das von ihm und seinem Vater geschaffene Vermögen zu verbrennen, das er für festbegründet gehalten hatte. Er hatte gesehen, wie sein Sohn Michel, Witwer geworden, sich durch kostspielige Frauen ruinierte und dann seinem Leben durch eine Revolverkugel ein Ende machte, während seine Tochter Laure, in Mystizismus versunken, sich im Kloster begrub, und sein zweiter Sohn Philippe, der eine Dirne geheiratet hatte, nach einem wüsten Leben im Duell fiel. Er hatte gesehen, wie sein Enkel Gustave, der Sohn Michels, diesen zum Selbstmord trieb, indem er ihm zugleich die Geliebte und hunderttausend Frank stahl, die der Vater für Fälligkeiten beiseitegelegt hatte, während Sein anderer Enkel André, der Sohn Philippes, in der Zelle eines Irrenhauses endete. Er hatte gesehen, wie Boisgelin, der Gatte seiner Enkelin Suzanne, das dem Untergang nahe Werk gekauft und einem armen Vetter, Delaveau, zur Leitung anvertraut hatte, der es selbst in Asche legte, als es abermals vor dem Ruin stand und als er von dem Verrat seiner Frau Fernande und des schönen Lebemannes Boisgelin erfahren hatte, die in ihrer tollen Gier nach Luxus und Genuß sich selbst und alles um sie herum ins Verderben gestürzt hatten. Er hatte die Stahlwerke, seine geliebte Schöpfung, die Fabrik, die er so klein aus den Händen seines Vaters übernommen hatte, unter seinen Händen sich vergrößern und ins riesenhafte wachsen sehen, und er hatte gesehen, wie diese Werke, aus denen sein Geschlecht eine ganze Stadt, ein mächtiges Reich des Eisens und des Stahles machen sollte, wie diese Werke so rasch dem Untergang anheimfielen, daß schon nach der zweiten Generation kein Stein mehr auf dem anderen geblieben war. Und er hatte gesehen, wie sein Geschlecht, in dem sich langsam, in einer langen Reihe vom Elend bedrückter Arbeitergenerationen, die Schöpferkraft angesammelt hatte, die dann in seinem Vater und ihm hervorgebrochen war, er hatte gesehen, wie dieses Geschlecht sofort durch den Mißbrauch des Reichtums verdorben, entartet, zerstört wurde, wie schon in seinen Enkeln nichts mehr von der gewaltigen Arbeitskraft der Qurignons zu spüren war. Welche furchtbare Menge von Erinnerungen waren in dem Kopfe dieses achtundachtzigjährigen Greises aufgehäuft, welche lange Folge schrecklicher Ereignisse, welch ein Überblick über ein Jahrhundert des Mühens und Ringens, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Familie! Und welch ein grauenhaftes Behältnis, dieser Kopf, in dem die Erinnerungen, die bisher zu schlafen schienen, langsam erwachten, und der nun alles in einem mächtigen Strom von Wahrheit wiedergeben zu wollen schien, wenn die noch stammelnden Lippen erst klare Worte zu formen imstande wären. Diesem entsetzlichen Erwachen sah Suzanne mit steigender Angst entgegen. Sie und ihr Sohn waren die Letzten des Geschlechts, Paul war der letzte männliche Abkömmling der Qurignons. Tante Laure war im Kloster der Karmeliterinnen gestorben, wo sie mehr als vierzig Jahre gelebt hatte, und auch der Vetter André war schon seit Jahren tot, nachdem er seit seiner Kindheit tot für die Welt gewesen war. Wenn Paul manchmal seine Mutter zum Großvater begleitete, sah ihn dieser lange an mit seinen Augen, in denen ein immer klarerer Ausdruck erwachte. Dies war nun der einzige, zarte Zweig der starken Eiche, von der er einst gehofft hatte, daß sie sich mächtig entwickeln und ausbreiten werde. Strotzte der Familienbaum nicht von jungen Säften, von Gesundheit und Lebenskraft, die das Erbteil von Generationen derber Arbeiter waren? Mußte seine Nachkommenschaft sich nicht vermehren und verbreiten, um siegreich alle Güter und alle Genüsse dieser Erde zu erobern? Und schon bei seinen Enkeln waren die Säfte verdorrt, das sinnlose Leben des Reichtums hatte in weniger als einem halben Jahrhundert die lange aufgespeicherten Kräfte zahlloser Geschlechter verzehrt. Welche Bitterkeit mußte den unglücklichen Großvater erfüllen, den letzten Zeugen, der noch aufrecht stand inmitten so vieler Ruinen, wenn er keinen anderen Erben seines Blutes vor sich sah als den sanften, zarten Paul, ein letztes Geschenk des Lebens, das den Qurignons diesen kostbaren Sproß gelassen zu haben schien, damit er in neuer Erde wurzeln und blühen könne! Und welche schmerzliche Ironie des Schicksals, daß heute nur noch dieses sanftmütige, klug überlegende Kind übrig war auf der weitgedehnten Guerdache, dem königlichen Landsitz, den Herr Jérôme seinerzeit erworben hatte, in der stolzen Hoffnung, ihn eines Tages mit seiner zahlreichen Nachkommenschaft zu bevölkern. Er sah im Geiste seine weiten Gemächer von zehn Ehepaaren bewohnt, er hörte das fröhliche Lachen einer unaufhörlich wachsenden Schar von Knaben und Mädchen, dies sollte der prächtige, glückliche Familiensitz werden, auf dem das immer stolzer erblühende Geschlecht der Qurignons herrschte. Aber er mußte im Gegenteil sehen, wie die Zimmer sich jeden Tag mehr leerten. Trunkenheit, Wahnsinn, Tod waren eingedrungen und hatten ihr Zerstörungswerk getan, und schließlich war noch die Verderberin gekommen, die den vollständigen Untergang des Hauses herbeiführte. Seit der letzten Katastrophe waren zwei Drittel der Zimmer geschlossen. Der ganze zweite Stock war dem Staub überlassen, die Empfangsräume im Erdgeschoß wurden nur jeden Samstag geöffnet, um gelüftet zu werden. Das Geschlecht mußte erlöschen, wenn Paul es nicht neu begründete, und der Wohnsitz, auf dem es hätte residieren sollen, war nur noch ein großes leeres Haus, das das entzweite Ehepaar nicht aufrechterhalten konnte und das vollkommen zerfallen mußte, wenn man ihm nicht neues Leben einflößte.

Wieder verging eine Woche. Der Diener konnte nun einzelne Worte in dem Gestammel Herrn Jérômes verstehen. Dann tauchte ein Wort immer häufiger, immer deutlicher auf, und der Diener berichtete es Suzannen.

»Es war nicht leicht zu verstehen, aber jetzt kann ich der gnädigen Frau bestimmt versichern, daß der alte Herr heute vormittag einigemal gesagt hat: ›Zurückerstatten, zurückerstatten!‹«

Suzanne blieb ungläubig. Das hatte keinen Zusammenhang. Was sollte man zurückerstatten?

»Hören Sie recht aufmerksam zu und suchen Sie genau zu verstehen, was er sagt«, trug sie dem Diener auf.

Am nächsten Tag war der Mann seiner Sache noch gewisser.

»Ich versichere der gnädigen Frau, daß der alte Herr gesagt hat: ›Zurückerstatten, zurückerstatten!‹ und zwar zwanzigmal, dreißigmal hintereinander, mit leiser, aber angestrengter Stimme, als ob er alle Kraft darauf wendete, die ihm geblieben ist.«

An diesem Abend entschloß sich Suzanne, selbst den Großvater zu überwachen, um womöglich zu erkunden, was er sagen wollte. Am nächsten Tag konnte er sich nicht mehr erheben. Während das Gehirn sich befreite, wurden die Beine und bald darauf der Oberkörper gänzlich gelähmt, wie bereits vom Tode ergriffen. Voll Schrecken sandte sie abermals nach Doktor Novarre, der aber machtlos war und sie sanft darauf vorbereitete, daß das Ende nahe sei. Von da ab verließ Herr Jérôme sein Zimmer nicht mehr.

Es war ein weiter, schwer getäfelter, mit dicken Tapeten verkleideter Raum, ganz in Rot gehalten, mit geschnitzten Polisandermöbeln, einem mächtigen, säulengeschmückten Bett und einem großen Spiegel, in dem man fast den ganzen Park sah. Von den Fenstern aus hatte man über die Rasenflächen hinweg und zwischen den Gipfeln hundertjähriger Bäume hindurch eine herrliche Fernsicht auf das Gedränge der Dächer von Beauclair, auf die Monts Bleuses, auf die Crecherie mit dem Hochofen und auf die Schornsteine der Hölle, die noch immer hoch emporragten.

Eines Morgens saß Suzanne beim Bett, nachdem sie die Vorhänge aufgezogen hatte, damit die Wintersonne hereindringen könne, als sie zu ihrer tiefen Bewegung Herrn Jérôme sprechen hörte. Seit einer kleinen Weile lag er mit dem Gesicht zum Fenster und sah mit seinen großen, hellen Augen weit hinaus auf den Horizont. Dann sagte er:

»Herr Lucas.«

Suzanne, die diese zwei Worte deutlich gehört hatte, war betroffen. Warum Herr Lucas? Niemals war der Großvater in irgendwelche Berührung mit Lucas gekommen, ja er konnte gar nichts von seiner Existenz wissen, wenn er nicht etwa die letzten Ereignisse miterlebt, alles gesehen, alles verstanden hatte, wie sie bisher nur hatte vermuten und fürchten können. Dieses »Herr Lucas«, das von seinen so lange verschlossenen Lippen fiel, war der erste Beweis, daß hinter seinem Schweigen ein vollkommen wacher Geist gelebt hatte, der alles sah und begriff. Ihr Herz krampfte sich zusammen.

»Sagten Sie Herr Lucas, Großvater?«

»Ja, ja, Herr Lucas!«

Er sprach mit zunehmender Deutlichkeit und Energie, und seine Augen waren bittend auf sie geheftet.

»Und warum sprechen Sie von Herrn Lucas? Sie kennen ihn also, Sie haben ihm etwas zu sagen?«

Er konnte sichtlich nicht die Worte finden, die er aussprechen wollte, dann wiederholte er mit kindlicher Ungeduld abermals den Namen Lucas.

»Einmal war er mir ein guter Freund«, sagte sie. »Aber schon seit vielen Jahren kommt er nicht mehr zu uns.«

Er nickte heftig mit dem Kopfe, und als ob seine Zunge sich allmählich immer mehr löste:

»Ich weiß, ich weiß. Ich will, daß er herkommt.«

»Sie wollen, daß Herr Lucas herkomme, Sie wollen mit ihm sprechen, Großvater?«

»Ja, ja, so ist's. Er soll gleich kommen, ich will mit ihm sprechen.«

Das Erstaunen Suzannens wuchs mit dem geheimen Grauen, das sie beschlichen hatte. Was konnte Herr Jérôme Lucas zu sagen haben? So viele Unannehmlichkeiten schienen ihr daraus entstehen zu können, daß sie versuchte, den Greis von diesem Wunsche abzubringen, in dem sie nur die Phantasie eines irregeleiteten Verstandes sah. Aber sie überzeugte sich bald, daß er im vollkommenen Besitz seiner Geisteskräfte sei, er bat sie mit einer wachsenden Dringlichkeit und Leidenschaft, in der er die letzten Kräfte seines armen siechen Körpers aufbot. Sie war davon in tiefster Seele ergriffen, und sie fragte sich, ob sie nicht ein Verbrechen begehe, wenn sie sich dem Wunsche eines Schwerkranken widersetzte, weil sie unklar fühlte, daß schwere, weithinwirkende Dinge daraus folgen konnten.

»Sie können es nicht mir sagen, Großvater?«

»Nein, nein, Herrn Lucas. Ich will mit ihm sprechen, gleich, gleich!«

»Gut, Großvater, ich werde ihm schreiben, und ich hoffe, daß er kommen wird.«

Aber als Suzanne daran ging, den Brief an Lucas zu schreiben, zitterte ihre Hand. Sie schrieb nur zwei Zeilen: »Lieber Freund, ich bedarf Ihrer, kommen Sie sofort.« Sie mußte zweimal innehalten, fast hatte sie nicht die Kraft, diese wenigen Worte zu vollenden, soviel Erinnerungen riefen sie in ihr wach, an ihr verlorenes Leben, an das Glück, das nahe an ihr vorbeigegangen war und das sie niemals, niemals kennenlernen sollte. Es war kaum zehn Uhr morgens, als ein Laufbursche sich mit dem Briefe nach der Crêcherie auf den Weg machte.

Lucas hatte eben seinen Morgenrundgang beendet und befand sich vor dem Gemeindehause, als ihm der Brief übergeben wurde, und ohne einen Augenblick zu verlieren, folgte er dem Laufburschen. Auch er war tief bewegt, sein Herz war erschüttert, als er die einfachen, rührenden Worte las: »Lieber Freund, ich bedarf Ihrer, kommen Sie sofort.« Zwölf Jahre waren es her, seitdem die Ereignisse sie getrennt hatten, und sie schrieb ihm, als ob sie sich gestern zum letzten Male gesehen hätten, überzeugt, daß er ihrem Rufe folgen werde. Sie hatte keinen Augenblick an dem Freunde gezweifelt, und er war zu Tränen gerührt, als er sah, daß sie noch immer dieselbe, ihm noch immer in schwesterlicher Zuneigung verbunden war wie einst. Die schrecklichsten Dramen hatten sich rings um sie abgespielt, alle Leidenschaften hatten getobt, hatten Menschen und Dinge hinweggefegt, und sie fanden sich nach so vielen Jahren der Trennung ganz von selbst wieder, Hand in Hand. Dann fragte er sich, während er rasch der Guerdache zuschritt, warum sie ihn rufen mochte. Es war ihm nicht unbekannt, daß Boisgelin beabsichtigte, ihm die Hölle so teuer wie möglich zu verkaufen. Aber sein Entschluß war gefaßt: er wollte die Werke unter keiner Bedingung kaufen. Der einzige Weg, den er der Hölle eröffnen konnte, war, der Gemeinschaft der Crêcherie beizutreten, wie die anderen, kleineren Fabriken ihr beigetreten waren. Einen Augenblick tauchte der Gedanke in Lucas auf, daß Boisgelin seine Frau vielleicht dazu gedrängt hatte, die Unterhandlungen mit ihm einzuleiten. Aber er kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, daß sie sich zu einer solchen Rolle niemals hergeben würde. Nein, sie mußte von etwas Schwerem bedrückt sein, sie bedurfte seiner offenbar infolge irgendwelcher unglücklicher Umstände. Er suchte nicht länger, sondern eilte, um von ihr selbst zu erfahren, was sie von seiner Freundschaft begehrte.

Suzanne erwartete Lucas in dem kleinen Salon, und als er eintrat, glaubte sie umsinken zu müssen vor übermächtiger Erregung. Auch er war tief erschüttert, und eine Weile konnte keiner sprechen, konnten sie einander nur schweigend ansehen.

»Lieber, lieber Freund!« flüsterte sie endlich.

In diesen wenigen Worten drängte sich die Erinnerung an alles, was in diesen zwölf Jahren geschehen war, an ihre lange, nur von wenigen stummen Begegnungen unterbrochene Trennung, an ihr eigenes schreckliches Leben in ihrem entehrten, befleckten Hause, und besonders an das große Werk, das er mittlerweile vollbracht hatte und dem sie aus der Ferne mit begeisterter Seele gefolgt war. Er war zum Helden in ihren Augen geworden, sie sah bewundernd zu ihm auf. Aber eine andere war gekommen, Josine, und sie hatte dadurch so viel gelitten, daß die Liebe in ihrem Herzen erstickt war, jenes Gefühl, von dem niemand etwas wußte und von dem sie selbst nicht mehr wissen wollte, ob es je bestanden habe. Aber als sie nun den verehrten Mann vor sich sah, da stiegen alle diese Empfindungen wieder empor aus den Tiefen ihres Wesens, ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Hände zitterten.

»Oh, mein lieber Freund, da sind Sie also wieder, ich habe Sie nur zu rufen brauchen!«

Auch Lucas war in tiefster Seele aufgerührt durch die Erinnerung der Vergangenheit. Er hatte gesehen, wie unglücklich sie war, welche Schmach sie erdulden mußte von der Geliebten, die fast als Herrin in ihrem Hause schaltete. Er hatte gesehen, wie sie voll Würde und Heldenmut auf ihrem Platze ausharrte und hocherhobenen Kopfes die Ehre ihres Namens bewahrte, um ihres Sohnes, um ihrer selbst willen. Trotz der langen Trennung war daher ihr Bild weder aus seinen Gedanken noch aus seinem Herzen geschwunden, er hatte ihr eine große Verehrung bewahrt und hatte innig mit ihr gefühlt, sooft ein neuer Kummer sie betraf. Oft hatte er sich gefragt, ob er ihr nicht beistehen, nicht irgendeine hilfreiche Hand bieten könnte. Es hätte ihn so glücklich gemacht, ihr beweisen zu können, daß er sich in nichts geändert hatte, daß er noch immer der Freund von einst geblieben war. Daher war er so schnell auf ihren ersten Ruf herbeigeeilt, erfüllt von liebevoller Teilnahme, und er sagte nun mit überströmendem Herzen:

»Ja, Ihr Freund, der nie aufgehört hat, Ihr Freund zu sein, der nur auf diesen Ruf gewartet hat, um zu Ihnen zu eilen!«

Sie waren Geschwister geblieben, und das Gefühl dieser unwandelbaren Geschwisterliebe überkam sie mit solcher Macht, daß sie einander in die Arme sanken. Sie küßten sich auf die Wangen, als Freunde, als Kameraden, die nichts mehr von den menschlichen Torheiten fürchteten, die sicher waren, daß sie einander nie Leid zufügen, daß sie einander nur Frieden und Stärkung bringen konnten. Alles, was die Freundschaft zwischen einem Manne und einer Frau Starkes und Zartes enthalten kann, lag in dem Kusse, den sie tauschten.

»Ach, liebste Freundin, wenn Sie wüßten, was ich gelitten habe, als ich sehen mußte, daß das Unternehmen Ihres Mannes unter meinen Streichen fallen mußte! Ich Sie ruinieren! Wie stark mußte der Glaube meiner Seele sein, daß ich durch diesen Gedanken mich nicht aufhalten ließ! Oft war ich die Beute tiefer Traurigkeit, ich dachte, Sie müßten mich verwünschen, Sie könnten mir nie vergeben, daß ich der Urheber der schweren Sorgen bin, unter denen Sie heute seufzen.«

»Ich Sie verwünschen, lieber Freund! Ich war ja auf Ihrer Seite, ich habe für Sie gebetet, Ihre Erfolge waren meine einzigen Freuden! Es war mir ein so tröstliches Bewußtsein, inmitten dieser Welt, in der ich leben mußte und die Sie verabscheute, daß ich Sie begriff und Sie liebte, daß ich Ihnen im verborgensten Winkel meiner Seele ein Heiligtum errichtet hatte, von dem niemand etwas ahnte.«

»Trotzdem habe ich Sie ruiniert, Suzanne. Was werden Sie anfangen, Sie, die Sie seit Ihrer Kindheit an die Behaglichkeit des Reichtums gewöhnt sind?«

»Oh, der Ruin wäre auch ohne Sie unvermeidlich gewesen. Mich haben andere zugrunde gerichtet. Sie werden sehen, ob ich Mut habe, wenn Sie mich auch für schwach halten.«

»Und Ihr Kind, und Paul?« »Paul? Kein größeres Glück hätte ihm widerfahren können, als daß er wird arbeiten müssen. Sie sehen, was der Reichtum aus uns gemacht hat.«

Hierauf teilte sie ihm mit, warum sie ihn so eilig hatte rufen lassen. Herr Jérôme, von dessen beängstigendem Wiedererwachen sie ihm erzählte, wolle ihn sehen. Es war der Wunsch eines Sterbenden; der Doktor Novarre sah ein baldiges Ende voraus. Erstaunt gleich ihr, und gleich ihr von unbestimmtem Schrecken ergriffen über diese wunderbare Auferstehung, erwiderte er, daß er ihr ganz zur Verfügung stehe, daß er alles tun wolle, was sie wünsche.

»Sie haben Ihren Mann von dem Wunsche Ihres Großvaters und von meinem Besuche unterrichtet?« fragte er.

Sie sah auf und zuckte leicht die Achseln.

»Nein, ich habe gar nicht daran gedacht, und es ist auch überflüssig. Seit langer Zeit scheint der Großvater nicht mehr zu wissen, daß mein Mann existiert. Er spricht nicht zu ihm, er sieht ihn nicht. Übrigens ist auch mein Mann heute zeitig morgens auf die Jagd gegangen und ist noch nicht zurückgekehrt.«

Dann setzte sie hinzu:

»Wenn Sie mir folgen wollen, führe ich Sie sofort hin.«

Als sie das Zimmer Herrn Jérômes betraten, fanden sie ihn in dem großen Polisanderbette sitzend, durch Kissen gestützt, und den Kopf noch immer dem Fenster zugewandt, dessen Vorhänge aufgezogen geblieben waren. Er schien die Augen nicht von dem Park und der prächtigen Fernsicht gewandt zu haben, die sich dahinter entrollte, mit den Schornsteinen der Hölle und dem Hochofen der Crêcherie drüben an der Wand der Monts Bleuses, jenseits der gedrängten Dächer von Beauclair. Dieses Schauspiel schien ihn mächtig anzuziehen, ihm ein Bild der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft darzustellen, das er in den langen Jahren seiner Stummheit unablässig vor Augen gehabt hatte.

»Großvater«, sagte Suzanne, »ich bringe Ihnen Herrn Lucas Froment, er hat die Freundlichkeit gehabt, sogleich hierherzukommen.« Langsam wandte der Greis den Kopf und richtete auf Lucas seine großen Augen, die noch größer schienen als sonst, von tiefer, unergründlicher Klarheit. Er sagte jedoch nichts, kein Wort des Willkomms oder des Dankes. Eine geraume Weile verharrte er so schweigend, ohne den Blick von diesem Unbekannten, dem Gründer der Crêcherie zu wenden, als ob er ihn hätte ganz ergründen, mit seinen Augen, die bald über dieses Leben hinaussehen sollten, bis in den letzten Winkel seiner Seele hätte blicken wollen.

Ein wenig verlegen, sagte Suzanne wieder:

»Großvater, Sie kannten Herrn Froment nicht? Haben Sie ihn nicht vielleicht während Ihres Spazierganges bemerkt?«

Er schien nicht zu hören und antwortete noch immer nichts. Nach einer kurzen Weile wandte er wieder den Kopf und ließ die Augen wie suchend im Zimmer umherschweifen. Dann sagte er ein Wort:

»Boisgelin!«

Suzanne wurde dadurch in neues Erstaunen versetzt, in das sich Unruhe und Verlegenheit mischten.

»Sie verlangen nach meinem Mann, Großvater? Sie wollen, daß er herkommt?«

»Ja. ja. Boisgelin.«

»Er ist aber noch nicht wieder heimgekehrt, glaube ich. Mittlerweile könnten Sie vielleicht Herrn Froment sagen, was Sie von ihm wünschen.«

»Nein, nein! Boisgelin!«

Er wollte offenbar nur in Gegenwart Boisgelins sprechen. Suzanne entschuldigte sich bei Lucas und verließ das Zimmer, um ihren Mann zu holen. Und Lucas blieb allein mit Herrn Jerôme, dessen unergründliche, klare Augen noch immer auf ihm ruhten. Auch er sah den Greis an und fand ihn eigenartig schön mit seinem weißen Gesichte, seinen markanten, regelmäßigen Zügen, über die das Nahen des Todes, verbunden mit den Spuren eines großen Entschlusses, eine ehrfurchtgebietende Majestät gebreitet hatte. Das Warten dauerte lange, und nicht ein Wort wurde mittlerweile zwischen den beiden Männern gewechselt, die einander unverwandt in die Augen sahen. Um sie herum schien das Zimmer mit seinen dicken Vorhängen und seinen massiven Möbeln unter der Last seines schweren Luxus in tiefem Schlafe zu liegen. Nicht ein Laut, nicht ein Hauch war zu spüren, nichts als der Schauer, der von den leeren Salons, von den verödeten Wohnräumen durch die Mauern hereindrang. Und nichts war feierlicher, nichts schicksalsschwerer als dieses stumme Warten.

Endlich erschien Suzanne wieder und brachte Boisgelin mit, der eben zurückgekehrt war. Er war noch im Jagdanzug, mit Gamaschen und Handschuhen, denn sie hatte ihm nicht Zeit gelassen, auch nur den Rock zu wechseln. Und er trat mit ängstlicher Miene ein, ziemlich bestürzt über diese unerwartete Berufung unter so merkwürdigen Umständen. Seine Frau hatte ihm in aller Eile mitgeteilt, daß Lucas von Herrn Jerôme hergebeten worden sei und sich im Zimmer des Greises befinde, daß diesem die Vernunft und die Sprache wiederkehre und daß er nur auf ihn, Boisgelin, warte, um zu sprechen – und all dieses Unerwartete, über das nachzudenken ihm keine Zeit blieb, verursachte ihm Schwindel im Kopfe.

»Hier ist also mein Mann, Großvater«, sagte Suzanne. »Sagen Sie uns nun, was Sie sagen wollen. Wir werden Sie mit größter Aufmerksamkeit anhören.«

Aber wieder ließ der Greis seinen Blick suchend rings um das Zimmer schweifen. Und wieder sagte er:

»Paul. Wo ist Paul?«

»Sie wollen auch Paul hier haben?«

»Ja, ja, ich will!«

»Paul dürfte auf dem Pachthof sein, und es wird wohl mehr als eine Viertelstunde dauern, bis er hier sein kann.«

»Er soll kommen. Ich will, ich will!«

Sie erfüllte seinen Wunsch und sandte eiligst einen Diener zu Paul. Das Warten war noch feierlicher, noch schicksalsschwerer als vorher. Lucas und Boisgelin hatten sich stumm begrüßt und saßen nun stumm einander gegenüber in diesem Zimmer, durch das bereits der erhabene Hauch des Todes zu wehen schien. Niemand sprach ein Wort, nichts war hörbar, nur der etwas schwere Atem Herrn Jerômes. Seine erweiterten, lichterfüllten Augen hatten sich wieder dem Fenster zugewandt, sahen hinaus auf das Bild der angestrengten menschlichen Arbeit, der vollendeten Vergangenheit und der nahenden Zukunft, das sich draußen entrollte. Langsam, gleichmäßig verflossen die Minuten in der beklommenen Erwartung des Kommenden.

Leichte Schritte wurden hörbar, und Paul trat ein mit frischem, von der Luft geröteten Gesichte.

»Mein Kind«, sagte Suzanne, »dein Großvater hat uns alle hier zusammenberufen und will nur in deiner Gegenwart sprechen.«

Auf den so lange unbeweglich gebliebenen Lippen Herrn Jerômes erschien ein unendlich liebevolles Lächeln. Er winkte Paul herbei und ließ ihn ganz dicht am Bette Platz nehmen. Hauptsächlich zu ihm wollte er sprechen, zu dem letzten Sproß der Qurignons, in dem das Geschlecht neu aufblühen und noch gute Früchte tragen konnte. Als er ihn tief bewegt sah, vom Schmerz des nahen Abschieds ergriffen, blickte er ihn mit zärtlicher Ermunterung an. Für ihn war der Tod süß, da er seinem Urenkel als Frucht eines langen Lebens eine gute Tat, eine Tat des Friedens und der Gerechtigkeit vermachen konnte.

Endlich sprach er inmitten des ehrfurchtsvollen Schweigens aller. Den Kopf gegen Boisgelin wendend, sagte er zunächst nur das eine Wort, das der Diener ihn so oft mit anderen unverständlichen Worten hatte wiederholen hören:

»Zurückerstatten, zurückerstatten I«

Von dem Schauer erfaßt, der durch das Gemach wehte, hatte Suzanne mit Lucas einen Blick gewechselt, und während Boisgelin, von Beklemmung und Furcht ergriffen, so tat, als erwarte er irgendein Gefasel eines schwachsinnigen Greises, fragte sie:

»Was wollen Sie damit sagen, Großvater, und was sollen wir zurückerstatten?«

Die Sprache Herrn Jerômes wurde immer deutlicher und leichter.

»Alles, mein Kind. Dort drüben die Hölle – hier die Guerdache – auf dem Pachthof die Äcker. Wir müssen alles zurückerstatten, weil nichts uns gehören darf, weil alles allen gehören muß.«

»Aber wem sollen wir zurückerstatten, Großvater? Erklären Sie sich.«

»Ich sage es dir ja, mein Kind: allen. Nichts gehört uns von dem, was wir für unser Eigentum gehalten haben. Wenn dieses Eigentum uns vergiftet, uns vernichtet hat, so kommt dies nur davon, weil es das Eigentum anderer war. Um unseres Glückes, um des Glückes aller willen müssen wir zurückerstatten – zurückerstatten.. .«

Und nun folgte eine Szene voll erhabener Schönheit und unendlicher Größe. Der Greis fand nicht immer die Worte für das, was er sagen wollte, aber die Gebärde vervollständigte seine Rede. Langsam und oft mühevoll zu seinen in weihevollem Schweigen verharrenden Hörern sprechend, gelang es ihm trotzdem, alle seine Gedanken kundzutun. Er hatte alles gesehen, alles gehört, alles verstanden. Und wie Suzanne es mit angstvoller Beklemmung geahnt hatte, kam nun die ganze Vergangenheit wieder zum Vorschein, die ganze Wahrheit der furchtbaren Vergangenheit entströmte unaufhaltsam dem Munde dieses so lange stumm und unbeweglich in seinen Rollsessel gebannt gewesenen Zeugen. Er schien viel schreckliche Ereignisse, das Aufblühen und die Vernichtung einer ganzen Familie nur überlebt zu haben, um die große Lehre daraus zu ziehen. Am Tage seines Erwachens, ehe er die Schwelle des Todes überschritt, entrollte er die lange Leidensgeschichte eines Mannes, der, nachdem er gewähnt hatte, die Herrschaft seines Geschlechtes in dem von ihm begründeten Reiche für immer gesichert zu haben, lange genug gelebt hatte, um das Reich und das Geschlecht vom Sturm der Zukunft hinweggeweht zu sehen. Und er sprach aus, warum das geschehen war, er richtete und sühnte.

Es zog vorüber der erste Qurignon, der Streckarbeiter, der das Werk im Verein mit einigen Kameraden gegründet hatte, arm gleich ihnen, aber zweifellos geschickter und sparsamer. Auf diesen folgte er selbst, der zweite Qurignon, der das große Vermögen, die Millionen in hartnäckigem Kampfe erobert hatte, in dem er sich als Held der Energie und Tüchtigkeit, als unvergleichlicher Feldherr erwies. Aber wenn er auch Wunder der Tatkraft und des schöpferischen Geistes vollführt, durch geniale Ausnützung der Kaufs- und Verkaufsverhältnisse ein gewaltiges Vermögen erworben hatte, so wußte er doch, daß er nur ein Ausläufer war, daß lange Generationen von Arbeitern in ihm endigten und die Quelle seiner Kraft und seiner Siege waren. Wieviel Bauern hatten mit ihrem Schweiß die Scholle düngen, wieviel Arbeiter ihre Muskeln in der Handhabung des Werkzeugs abnützen müssen, damit die beiden ersten Qurignons, die Triumphatoren, aus ihnen entstanden! In ihnen war das jahrhundertelange heiße Streben nach dem Besseren, nach dem Reichtum, nach einer höheren Gesellschaftsklasse, war die langsame Befreiung des unter der Knechtschaft seufzenden Sklaven endlich zum Ziele gelangt. Endlich war ein Qurignon stark genug geworden, um zu siegen, die Ketten zu zerbrechen, den so heißbegehrten Reichtum zu erwerben, selber ein Herr zu sein! Und gleich danach, in nur zwei Generationen, war das Geschlecht schon entartet, verfiel wieder der Not und dem schweren Kampf ums Dasein, geschwächt durch die Üppigkeit, von der Genußsucht verzehrt wie von einer Flamme!

»Wir müssen zurückerstatten, zurückerstatten!«

Sein Sohn Michel hatte sich, nach Verübung vieler Torheiten, am Vorabend eines großen Zahltages getötet. Sein anderer Sohn, Philippe, an ein leichtfertiges Weib verheiratet und durch sie in den Sumpf gezogen, war im Duell gefallen. Seine Tochter Laure war, den Geist von mystischen Visionen verdunkelt, ins Kloster gegangen und dort unfruchtbar gestorben. Sein Enkel André, Sohn Philippes, hatte krank und schwachsinnig seine Tage in einer Irrenanstalt verlebt und beschlossen, und sein anderer Enkel, Gustave, hatte auf einer Straße in Italien einen gewaltsamen Tod gefunden, nachdem er seinen Vater zum Selbstmord getrieben hatte. Und seine Enkelin, Suzanne, die Sanfte und Kluge, hatte einen Mann geheiratet, der die Zerstörung vollendete. Die Werke lagen in Asche, noch warm von der Feuersbrunst, die sie als Sühne für alle Torheiten und alle Schmach verzehrt hatte. Die Guerdache, auf der er gehofft hatte, sein Geschlecht in reicher Blüte sich vermehren zu sehen, dehnte ihre Einöde um ihn, ihre leeren Salons, ihren trübseligen Park, durch den nur noch das blasse Gespenst der Vergifterin, der Verderberin schwebte, jener Fernande, die den schließlichen Ruin herbeigeführt hatte. Und während seine Abkömmlinge einer nach dem anderen hinsanken und den stolzen Bau, den sein Vater und er errichtet hatten, zum Einsturz brachten, hatte er gerade gegenüber einen neuen Bau entstehen sehen, die Crêcherie, die mächtig emporblühte und vom brausenden Leben der Zukunft erfüllt war. Er wußte alle diese Dinge, weil er sie hatte vor seinen klaren Augen sich abspielen sehen, während er in stummer Beobachtung sich längs der Straßen hinrollen ließ, oder vor der Hölle hielt, wenn die Arbeiter herauskamen, oder vor der Crêcherie, deren alte Arbeiter ihn noch grüßten, oder wieder vor der Hölle, an dem Morgen, da von seiner geliebten Schöpfung nur noch rauchende Trümmer übriggeblieben waren.

»Wir müssen zurückerstatten, zurückerstatten, zurückerstatten!«

Dieser Ausruf, den er unaufhörlich in den langsamen Fluß seiner Worte einflocht, den er mit immer steigender Energie betonte, entrang sich ihm wie die unausweichliche letzte Folge der unglücklichen Ereignisse, unter denen er so sehr gelitten hatte. Wenn alles um ihn herum so rasch dem Niedergang verfallen war, so war dies nur die Folge davon, daß der durch die Arbeit anderer erworbene Reichtum vergiftet war und vergiftete. Der Genuß, den er verschafft, ist der sicherste aller zersetzenden Gärstoffe, er schwächt das Geschlecht, er zerstört die Familie, er führt alle Abscheulichkeiten und Gewalttaten herbei. Dieser Reichtum hatte in weniger als einem halben Jahrhundert den in langen Jahrhunderten harter Arbeit in den Qurignons aufgesammelten Vorrat von Kraft, Tüchtigkeit und schöpferischem Genie verzehrt. Der Fehler dieses kraftvollen Arbeitergeschlechtes war gewesen, daß sie geglaubt hatten, um ihres persönlichen Vorteils willen den Reichtum an sich raffen und genießen zu dürfen, den sie mit den Armen ihrer Mitarbeiter schufen. Und gerade der heißersehnte, endlich eroberte Reichtum war ihnen zur Zuchtrute geworden. Das Glück des Erwählten besteht nur aus dem Unglück der anderen, aus dem, was er den anderen an Glück stiehlt und entreißt. Ein Kamerad, der Erfolg hat, versperrt damit tausend Kameraden den Weg und lebt fortan von ihrem Elend und ihren Leiden. Und oft wird dieser Glückliche bestraft durch eben diesen Erfolg, durch den eilig erworbenen, übermäßigen Reichtum, der ihm zum tödlichen Gift wird. Daher liegt die einzige Wahrheit in der Rückkehr zur rettenden Arbeit, zur Arbeit aller, zu einer Gesellschaft, in der jeder tätig ist und seine Freuden nur seiner eigenen geistigen und körperlichen Leistung dankt.

»Wir müssen zurückerstatten, zurückerstatten, zurückerstatten!«

Wir müssen zurückerstatten, weil man stirbt an dem Gute, das man den anderen stiehlt. Wir müssen zurückerstatten, weil das einzige Heil, die einzige Sicherheit, die einzige Wohlfahrt darin liegen. Wir müssen zurückerstatten aus Gerechtigkeitsgefühl und noch mehr aus eigenem Interesse, da das Glück eines jeden einzelnen nur im Glücke aller begründet sein kann. Wir müssen zurückerstatten, um uns wohlzufühlen, um inmitten eines allgemeinen Friedens ein gesundes und frohes Leben zu führen. Wir müssen zurückerstatten, weil, wenn alle egoistischen Besitzer des allgemeinen Gutes morgen die Reichtümer hergäben, die sie nur zu ihrem eigenen Genusse verschwenden: die großen Güter, die reichen Bergwerke, die Fabriken, die Eisenbahnen, die Städte – weil dann augenblicklich allgemeiner Friede herrschen, die Liebe zwischen allen Menschen wieder aufblühen, ein solcher Überfluß eintreten würde, daß es keinen einzigen Notleidenden mehr gäbe. Wir müssen zurückerstatten, müssen ein Beispiel geben, wenn wir wollen, daß andere Reiche einsehen lernen, woher die Übel kommen, unter denen sie leiden, und daran gehen, ihre Nachkommen mit frischer Kraft zu erfüllen durch das Stahlbad eines tätigen Lebens, der täglichen Arbeit, des selbsterworbenen Brotes, des einzigen, das eine gesunde Nahrung bildet. Wir müssen zurückerstatten, solange es noch Zeit ist, solange noch Größe darin liegt, zu den Kameraden zurückzukehren und ihnen durch die Tat zu beweisen, daß wir unseres Irrtums innegeworden sind und unseren Platz in der allgemeinen Werkstatt wieder einnehmen wollen, in Erwartung des nahen Tages der Gerechtigkeit und des Friedens. Wir müssen zurückerstatten und dann mit reinem Gewissen, mit dem frohen Bewußtsein erfüllter Pflicht aus dieser Welt scheiden, dem Nachkommen die befreiende, sühnende Lehre als Vermächtnis hinterlassen, damit er das Geschlecht wieder aufrichte, es vom Irrtum befreie und in Kraft, Schönheit und Fröhlichkeit fortpflanze.

»Wir müssen zurückerstatten, zurückerstatten, zurückerstatten!«

Suzannens Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, als sie sah, in welche Begeisterung die Worte des Urgroßvaters ihren Sohn Paul versetzten, während Boisgelin sein nervöses Unbehagen durch ungeduldige Bewegungen kundgab.

»Aber wem und wie sollen wir zurückerstatten, Großvater?« fragte Suzanne.

Der Greis wandte seine leuchtenden Augen gegen Lucas.

»Wenn ich gewünscht habe, daß der Schöpfer der Crêcherie zugegen sei, so war es, damit er mich höre und euch helfe, meine Kinder. Er hat bereits tapfer am Werke der Rückerstattung gearbeitet, und nur er kann vermitteln und euch die richtigen Wege weisen, um das, was von unserem Vermögen bleibt, den Kameraden zurückzugeben, den Söhnen und Enkeln der Kameraden von einst.«

Lucas, der tief erschüttert war von dieser feierlichen Szene und von der Seelengröße des Greises, konnte trotzdem nicht umhin, zu zögern, da er sah, wie feindselig Boisgelin sich verhielt.

»Ich kann nur eines tun«, sagte er, »und das ist, die Eigentümer der Hölle einfach in unsere Genossenschaft aufnehmen, wenn sie dies wünschen. Gleich den anderen Fabriken, die sich uns schon angeschlossen haben, wird die Hölle unsere große Arbeitsfamilie vermehren und unsere neue Stadt um ein gewaltiges Gebiet vergrößern. Wenn Sie unter Zurückerstatten auch diesen Versuch verstehen, etwas mehr Gerechtigkeit zu schaffen, dann kann ich Ihnen beistehen, dann bin ich hierzu aus ganzem Herzen bereit.«

»Ich weiß«, erwiderte Herr Jérôme. »Ich verlange nicht mehr.«

Nun konnte aber Boisgelin nicht länger an sich halten.

»Dies entspricht aber durchaus nicht meinen Wünschen«, sagte er. »Ich bin bereit, trotz des großen Schmerzes, den es mir verursacht, die Hölle der Crêcherie abzutreten. Der Preis müßte vereinbart werden, und ich bedinge mir, außer dem festzusetzenden Betrage, einen Anteil am Reingewinn, der ebenfalls zu vereinbaren wäre. Da ich leider bares Geld brauche, muß ich mich von dem Werke trennen.«

Das war der Plan, den er seit einigen Tagen mit sich herumtrug. Er ging von dem Glauben aus, daß Lucas Verlangen nach dem Grundstück der Hölle habe und daß er bereit sein werde, ihm einen großen Kaufpreis dafür zu bezahlen und überdies eine Rente zuzusichern. Aber der Plan stürzte zusammen wie ein Kartenhaus, als Lucas in festem Tone, aus dem ein unerschütterlicher Entschluß sprach, erwiderte:

»Es ist ausgeschlossen, daß wir etwas kaufen. Das ist dem Geiste unseres Unternehmens entgegen. Wir sind nur eine Genossenschaft, eine Familie, die allen Mitgliedern offensteht, die sich uns anschließen wollen.«

Herr Jérôme, der seinen Flammenblick auf Boisgelin gerichtet hatte, sagte nun ohne Zorn, mit gebieterischer Ruhe:

»Ich allein habe zu wollen und zu befehlen. Meine hier anwesende Enkelin Suzanne, Mitbesitzerin der Werke, wird unbedingt ihre Zustimmung zu jeder meinen Wünschen nicht entsprechenden Maßregel verweigern. Und ich bin überzeugt, daß sie gleich mir nur eines bedauern wird, nämlich, daß sie nicht alles zurückerstatten kann, daß sie sich den Zinsengenuß ihres Kapitals vorbehalten muß. Über diese Zinsen wird sie nach ihrem Gutdünken verfügen.«

Boisgelin verstummte und fügte sich in der Betäubung und Kraftlosigkeit, der er seit seinem Ruin anheimgefallen war. Und der Greis fuhr fort: »Das ist noch nicht alles. Es bleiben noch die Guerdache und der Pachthof. Auch diese müssen zurückerstattet werden, alles muß zurückerstattet werden!«

Mit nun immer schwerer werdender Zunge fuhr er fort, seinen letzten Willen kundzugeben. So wie die Hölle mit der Crêcherie verschmelzen sollte, so sollte der Pachthof sich der Genossenschaft von Combettes anschließen und mit seinen Äckern die zusammengelegten Äcker Lenfants, Yvonnots und der anderen Bauern vergrößern, die in brüderlicher Eintracht beisammen lebten, seitdem ihr wohlverstandenes Interesse sie miteinander versöhnt hatte. Es sollte nur noch eine Erde, nur eine Mutter geben, die von allen geliebt, von allen betreut wurde und alle ernährte. Die ganze Ebene der Roumagne sollte dereinst wie ein einziger ungeheurer Acker erscheinen, die reiche Kornkammer des wiedergeborenen Beauclairs. Und was die Guerdache betraf, die ja Suzannen allein gehörte, so trug er dieser auf, sie den Armen und Elenden wiederzuerstatten, um ja nichts von dem vergifteten Reichtum zu behalten, der den Qurignons den Tod gebracht hatte. Dann wandte er sich wieder an Paul, der noch immer am Bettrande saß. Er nahm seine Hände in die seinigen und sah ihn mit Augen an, die sich allmählich zu trüben begannen. Dann sagte er immer leiser und leiser:

»Wir müssen zurückerstatten, alles zurückerstatten, mein Kind. Du darfst nichts behalten, du mußt diesen Park den ehemaligen Kameraden geben, damit sie sich an Feiertagen hier belustigen, damit ihre Frauen und ihre Kinder darin spazierengehen und unter den schönen Bäumen in gesunder Luft fröhliche Stunden verleben. Du mußt ihnen auch das Haus zurückerstatten, dieses weitläufige Schloß, das wir trotz unseres Geldes nicht haben mit Leben erfüllen können. Ich will, daß es ebenfalls den Frauen, den Kindern der armen Arbeiter gehöre. Behalte nichts, gib alles zurück, mein Kind, alles, alles, wenn du dich vor dem Gifte bewahren willst. Und arbeite, lebe nur von deiner Arbeit, wähle dir die Tochter eines ehemaligen Kameraden, die auch arbeitet, und heirate sie, zeuge mit ihr Kinder, die arbeiten sollen, die gerecht und glücklich sein werden und die wieder schöne Kinder haben werden, um die Kette der Arbeit in alle Ewigkeit fortzusetzen. Behalte nichts, mein Kind, gib alles zurück, alles, darin allein liegt das Heil, der Friede und das Glück!«

Alle weinten, nie war ein edlerer, erhabenerer Hauch über menschliche Seelen hingegangen. Das weite Zimmer war dadurch zum Tempel geweiht worden. Und die Augen des Greises, in denen ein helles Leuchten aufgegangen war, erloschen allmählich immer mehr, während auch seine Stimme immer schwächer wurde, je mehr sie sich dem ewigen Schweigen näherte. Er hatte sein erhabenes Werk der Wiedererstattung, der Wahrheit und Gerechtigkeit vollbracht, hatte sein Teil beigetragen zum Glück, das das erste aller menschlichen Rechte ist. Am Abend starb er.

Als Lucas das Zimmer Herrn Jérômes verließ, begleitete ihn Suzanne, und sie befanden sich eine Weile allein im kleinen Salon.

»Zählen Sie auf mich«, sagte er. »Ich schwöre Ihnen, daß ich alle Kraft für die Ausführung des letzten Willens einsetzen werde, der in Ihre Hände niedergelegt wurde. Fortan soll dies meine heiligste Aufgabe sein.«

»Lieber Freund«, sagte sie, seine Hände ergreifend, »ich setze alle meine Zuversicht auf Sie. Ich weiß, welche Wunder Sie schon vollbracht haben, und ich zweifle nicht, daß Ihnen auch das Wunder gelingen wird, uns alle zu versöhnen.«

Er sah sie am ganzen Körper beben, während sie sich in diesem feierlichen Augenblick das Geheimnis ihres Herzens entschlüpfen ließ, das ihr selbst so lange unbekannt geblieben war.

»Lieber, lieber Freund, welche Kräfte hätte ich entwickeln können für das Gute, welche nützliche Helferin hätte ich sein können am Arme eines gerechten Mannes! Ich hätte ihn zu meinem Gott gemacht! Aber wenn es hierzu auch unwiderruflich zu spät ist, wollen Sie mich dennoch annehmen, als Freundin, als Schwester, die Ihnen nach ihrem schwachen Vermögen beistehen will?«

Er verstand: hier wiederholte sich die traurig-süße Geschichte Soeurettes. Sie hatte ihn geliebt, ohne es einer menschlichen Seele zu sagen, ohne es sich auch nur selbst zu gestehen, eine unglückliche anständige Frau, die nach Liebe lechzte, die auf ihn die geheime Hoffnung ihres Herzens setzte, in ihm Trost für die Martern ihrer Ehe zu finden hoffte. Und hatte er selbst sie nicht geliebt in jenen vergangenen Tagen, da sie sich so oft bei den armen Leuten getroffen hatten, durch die ihre Bekanntschaft entstanden war? Es war ein köstlich geheimes Gefühl gewesen, eine traumhafte Liebe, durch deren stärkeres Bewußtwerden er geglaubt hätte, sie zu beleidigen, und deren Duft noch jetzt in seinem Herzen wehte, wie der einer Blume, die zwischen zwei Blättern gelegen hatte. Und nun, da Josine die Erwählte war, da diese Dinge tot waren und keine Auferstehung möglich, nun bot sie sich ihm gleich Soeurette als schwesterliche Gefährtin, als ergebene Freundin an, die keinen anderen Wunsch hatte, als an seiner Sendung, an seinem Werke mitzuwirken.

»Ob ich Sie will!« rief er, zu Tränen gerührt. »Gewiß! Wir können nie genug Liebe, nie genug guten Willen haben. Unsere Aufgabe ist so groß, daß Sie darin Ihr Herz mit vollen Händen ausgeben können. Kommen Sie zu uns, geliebte Freundin, und verlassen Sie mich nie mehr, werden Sie ein Teil meiner Seele und meines Herzens!«

Von ihren Gefühlen überwältigt, warf sie sich in seine Arme, und sie küßten sich. Unlöslich schlang sich um sie das Band einer makellos reinen Seelenfreundschaft, in der keine andere Leidenschaft waltete als die für die Armen und Elenden, kein anderes Verlangen als das, dem Jammer der Menschen ein Ende zu machen. Er hatte eine geliebte, fruchtbare Gattin, die ihm die Kinder gebar, die seinem Blut entsprangen, und er hatte nun auch zwei Freundinnen, zwei Gefährtinnen, die ihm mit sanften Frauenhänden helfen wollten bei seinem großen Werke.

Monate vergingen mit der Ordnung der verwickelten Angelegenheiten der Hölle, die sich sehr schwierig gestaltete. Zunächst einmal galt es, die Schuld von sechsmalhunderttausend Frank zu tilgen, die auf dem Unternehmen lastete. Es wurden Verhandlungen mit den Gläubigern gepflogen, die sich endlich einverstanden erklärten, in Jahresraten bezahlt zu werden, und zwar aus den Gewinnen, die auf die Aktien der Hölle entfallen würden, wenn sie in die Genossenschaft der Crêcherie eingetreten war. Die aus dem Feuer geretteten Maschinen und Vorräte wurden einer Schätzung unterzogen und bildeten mit dem großen Grundstück, das sich längs der Mionne bis zu Alt-Beauclair erstreckte, die Einlage der Boisgelins. Und diesen wurde eine bescheidene Rente zugesichert, die dem auf sie entfallenden Gewinnanteil entnommen werden sollte, ehe dieser an die Gläubiger verteilt wurde. Der letzte Wille des alten Qurignon war somit eigentlich nur zur Hälfte erfüllt in diesem Übergangsstadium, in dem das Kapital der Arbeitskraft und dem führenden Geiste noch gleichberechtigt zur Seite stand, bis die Zeit gekommen war, da es ganz verschwand vor der einzig und allein gebietenden Arbeit. Aber zum mindesten wurden die Guerdache und der Pachthof vollkommen der Allgemeinheit, den Nachkommen jener Arbeiter zurückerstattet, die sie einst mit ihrem Schweiße erkauft hatten. Denn sobald die Äcker des Pachthofes der Genossenschaft von Combettes angeschlossen waren und, die lange gehegten Gedanken Feuillats bewährend, reiche Ernten und reiche Gewinne lieferten, wurde all das Geld, das dadurch einkam, dazu verwendet, um aus der Guerdache eine Pflege- und Erholungsstätte für schwache Kinder und für Wöchnerinnen zu machen. Es wurden Betten gestiftet, Freiplätze errichtet, und der herrliche grüne Park gehörte nun den Armen dieser Welt, ein weitgedehnter Garten, ein blühendes Paradies, in dem die Kinder spielten, in dem die Mütter wieder gesund und kräftig wurden, in den das ganze Volk kam, um sich zu erholen, wie in einem Palast der Natur, der nun das gemeinsame Eigentum aller war.

Jahre gingen hin. Lucas hatte dem Ehepaar Boisgelin. eines der kleinen Häuschen der Crêcherie eingeräumt, das in geringer Entfernung von dem alten Häuschen stand, das er selbst nach wie vor bewohnte. Die erste Zeit dieser bescheidenen Existenz war sehr hart für Boisgelin, der sich nicht ohne heftige Auflehnung in das Unvermeidliche ergab. Vorübergehend hatte er sogar daran gedacht, nach Paris zurückzukehren und dort aufs Geratewohl nach seinem Geschmack zu leben. Aber seine lebenslange Untätigkeit, die vollkommene Unmöglichkeit für ihn, seinen Unterhalt zu erwerben, machten ihn schwach wie ein Kind und lieferten ihn willenlos dem aus, der sich seiner bemächtigen wollte. Seit den Unglücksfällen, die das Haus betroffen hatten, übte die kluge, sanfte, aber feste Suzanne eine unbedingte Herrschaft über ihn aus, und er tat schließlich alles, was sie wollte, ein armer, haltloser Mensch, der von den Wellen des Lebens hin und her geschleudert wurde. Bald begann seine Untätigkeit inmitten dieser Welt emsiger Arbeiter so schwer auf ihm zu lasten, daß er selbst nach einer Beschäftigung begehrte. Es wurde ihm unerträglich, den ganzen Tag müßig umherzugehen, er fing an sich zu schämen und das Bedürfnis nach einer Tätigkeit zu empfinden, da es ihm nicht mehr möglich war, wie früher mit dem Ausgeben reicher Geldmittel nutzlos seine Zeit auszufüllen. Im Winter hatte er noch die Jagd, aber in der schönen Jahreszeit wußte er außer spazieren zu reiten nichts mit sich anzufangen, und tödlichste Langeweile bedrückte ihn. Suzanne bat daher Lucas, ihm eine Beschäftigung zu geben, und dieser wies ihm eine Aufseherstelle in den Genossenschaftslagern zu, die ihn drei Stunden täglich in Anspruch nahm. Seine Gesundheit, die gelitten hatte, festigte sich ein wenig, aber er blieb trotzdem unglücklich, betäubt, verloren, wie einer, der auf einen fremden Planeten gefallen ist.

Und wieder gingen Jahre hin. Suzanne war die Freundin, die Schwester Josines und Soeurettes geworden und stand ihnen in ihren Obliegenheiten getreulich zur Seite. Alle drei umgaben Lucas, unterstützten ihn, ergänzten ihn, waren gleichsam die Verkörperung seiner Güte, seiner Sanftmut, seiner Menschenliebe. Er nannte sie lächelnd seine drei Tugenden und sagte, sie bildeten, jede in ihrer Art, eine Erweiterung seines Wesens, die Erfüllung all dessen, was er Gutes und Schönes gewollt hatte. Sie bewachten und betreuten die Krippen, die Schulen, die Spitäler, die Erholungsheime, sie waren überall, wo es Schwache zu beschützen, Schmerzen zu lindern, Freuden zu spenden gab. Soeurette und Suzanne besonders nahmen die undankbarsten Verrichtungen auf sich, die die größte Selbstüberwindung und Selbstverleugnung erforderten. Josine, durch ihre Kinder, durch ihr sich immer mehr vergrößerndes Haus in Anspruch genommen, konnte sich natürlicherweise weniger den anderen widmen. Sie war die Liebende und Geliebte, das schöne und begehrenswerte Weib, während Soeurette und Suzanne nur die Freundinnen, die Trösterinnen und Beraterinnen waren. Oft erfuhr Lucas große Bitterkeiten und Herzeleid in seinem Werke, und da waren es die beiden Freundinnen, die er befragte, die er damit betraute, die Wunden zu heilen, indem sie alle ihre Kräfte dem Heilswerke widmeten. Denn durch das Weib und für das Weib sollte die neue Stadt erstehen und bestehen.

Acht Jahre waren so verflossen, als Paul Boisgelin, der sein siebenundzwanzigstes Jahr vollendete, Antoinette, die älteste Tochter des Arbeiters Bonnaire, heiratete, die vierundzwanzig Jahre zählte. Paul hatte sich, seit die Felder der Guerdache der Genossenschaft von Combettes angeschlossen waren, zusammen mit dem ehemaligen Pächter Feuillat mit Begeisterung der Bodenkultur gewidmet, nicht um des Gewinnes willen, sondern um die Fruchtbarkeit der Erde immer mehr zu erhöhen. Er war Landwirt geworden, er leitete einen Abschnitt des großen Gemeingutes, denn dieses war in mehrere Teile geteilt worden, die alle zum gemeinsamen Besten verwaltet wurden. Und bei seiner Mutter, in dem Häuschen der Crêcherie, wohin er alle Abend heimkehrte, hatte er Antoinette kennengelernt, die mit ihren Eltern das nächste Häuschen bewohnte. Zwischen der ehemaligen Erbin der Guerdache, die nun ein so einfaches, von Menschenfreundlichkeit erfülltes Leben führte, und der Arbeiterfamilie waren freundschaftliche Beziehungen entstanden. Zwar war Frau Bonnaire noch immer wenig umgänglich, aber dafür entschädigte der einfache, angeborene Seelenadel Bonnaires, des Helden der Arbeit, der einer der Gründer der Crêcherie gewesen war. Und es war erquickend zu sehen, wie zwischen den Kindern der beiden Häuser die Liebe erwuchs und das Band, das sich um die einander einst feindlich bekämpfenden Klassen schlang, immer enger knüpfte. Antoinette, die ihrem Vater ähnelte, ein kräftiges, schönes, anmutiges Mädchen, hatte Soeurettes Schule durchgemacht und half ihr nun in der großen Milchwirtschaft, die am Ende des Parkes, nahe den Hängen der Monts Bleuses angelegt worden war. Wie sie lachend sagte, war sie nur eine Kuhmagd, die mit dem Melken, mit der Butter- und Käsebereitung gut Bescheid wußte. Und als die beiden miteinander vereinigt wurden, der zur Erde zurückgekehrte Städter und die arbeitende Tochter des Volkes, da gab es ein großes Fest. Man wollte diese symbolische Hochzeit mit besonderem Glanze feiern, die ein sichtbares Zeichen war der Versöhnung, der Vereinigung des reumütigen Kapitals mit der siegreichen Arbeit.

Im folgenden Jahr, nach der ersten Entbindung Antoinettes, befanden sich Boisgelin, Suzanne und Lucas an einem warmen Junitage zusammen auf der Guerdache. Es war nun nahezu zehn Jahre her, daß Herr Jérôme tot war, und wie es sein Wille gewesen, war der Besitz dem Volke zurückgegeben worden. Antoinette, die eine schwere Entbindung durchgemacht hatte, war seit zwei Monaten Pflegling des Erholungsheims, zu dem das Schloß, in dem einst die Qurignons geherrscht hatten, umgewandelt worden war. Sie konnte nun am Arm ihres Mannes einen Spaziergang unter den schönen Bäumen des Parkes machen, während Suzanne als gute Großmutter den Neugeborenen auf den Armen trug. In einiger Entfernung folgten Boisgelin und Lucas. Welche Erinnerungen erwachten da, angesichts dieses nun zu einer Stätte der Brüderlichkeit gewordenen fürstlichen Wohnsitzes, dieser hohen, alten Stämme, dieser Rasenplätze, dieser Alleen, die nicht mehr vom Lärm kostspieliger Feste, galoppierender Pferde und bellender Hunde widerhallten, wo aber die Armen dieser Welt sich endlich der köstlichen Ruhe in freier, gesunder Luft und im kühlen Schatten der Bäume erfreuen konnten. Aller Luxus des prächtigen Landsitzes war ihnen dienstbar gemacht, das Erholungsheim bot ihnen seine hellen Zimmer, seine schönen Salons, seine wohlbestellten Küchen, und der Park seine schattigen Alleen, seine klaren Quellen, seine herrlichen, von Gärtnern instandgehaltenen Blumenbeete. Hier wurde ihnen endlich ihr Teil an Schönheit und Lebenszier, der ihnen solange vorenthalten worden war. Und es war herrlich zu sehen, wie diese Kinder, diese Mütter, die seit Jahrhunderten in lichtlose, schmutzige Höhlen, in unentrinnbares Elend verbannt gewesen waren, nun plötzlich der Freuden dieses Lebens, des Glücksanteils eines jeden menschlichen Wesens, des Luxus, des Genusses teilhaftig wurden, die zahllose Generationen unglücklicher Enterbter nur von weitem sehnsüchtig erblickt hatten, ohne jemals daran rühren zu können.

Als nun das junge Paar an einen Teich kam, dessen klare Fläche das Blau des Himmels widerspiegelte, sagte Lucas mit leisem Lachen:

»Ach, liebe Freunde, welch eine ferne hübsche Erinnerung kehrt mir wieder! Ob ihr wohl noch daran denkt? Am Ufer dieses friedlichen, stillen Wassers haben sich Paul und Antoinette vor nun zwanzig Jahren verlobt!«

Er erzählte die reizende Kinderszene, deren Zeuge er damals, bei seinem ersten Besuche auf der Guerdache gewesen war: das Eindringen der drei barfüßigen Proletarierkinder, Nanet, Lucien und Antoinette, die durch eine Hecke gekrochen waren, um sich von Nanet zu dem Teiche führen zu lassen, den er entdeckt hatte, und die geniale Erfindung Luciens, das Schiff, das von selber auf dem Wasser lief, und das Dazukommen der drei Stadtkinder, Paul Boisgelin, Nise Delaveau und Louise Mazelle, die, von dem Schiffe bezaubert, sogleich mit den drei anderen gut Freund waren, und wie sich gleich von selbst drei kleine Paare gebildet hatten, Paul und Antoinette, Nise und Nanet, Louise und Lucien, unter der lächelnden Mitwirkung der guten Natur, der ewigen Allmutter.

»Erinnert ihr euch nicht mehr?« fragte Lucas fröhlich.

Das junge Paar meinte lachend, es sei etwas lange her.

»Da ich damals vier Jahre alt war«, sagte Antoinette, »so wird mein Gedächtnis noch nicht viel wert gewesen sein.«

Aber Paul dachte angestrengt nach, verlor sich im Rückblick auf die Vergangenheit.

»Ich war schon sieben ... Warten Sie, es tauchen schattenhafte Bilder in meinem Gedächtnis auf: ein Schiffchen, das wir mit einer Stange zurückholten, wenn die Räder sich nicht mehr drehten, und ein kleines Mädchen, das um ein Haar ins Wasser gefallen wäre, und dann, wie die Barfüßler davon liefen, als Leute kamen.«

»Ja, so war's, so war's!« rief Lucas. »Sie erinnern sich also noch! Und ich erinnere mich, daß mich an jenem Tage ein ahnungsvoller Schauer der Zukunft erfaßte, denn ich sah hier den Keim der einstigen Versöhnung entstehen. Die göttliche Kindheit bereitete da in ihrer reinen Unschuld einen neuen Schritt zum Frieden und zur Gerechtigkeit vor. Und was euch vom neuen Glück zu genießen beschieden sein wird, das wird dieser kleine Herr hier für sich und seine Zeitgenossen noch erweitern und vermehren.«

Er deutete auf den Neugeborenen, den kleinen Ludovic, den Suzanne, die glückliche Großmutter, auf den Armen hielt. Und sie sagte heiter:

»Augenblicklich ist er brav, weil er schläft ... Dereinst, mein lieber Lucas, werden wir ihn mit einer Ihrer Enkelinnen verheiraten, und dann wird die Versöhnung vollendet, alle feindlichen Kämpfer von einst werden in ihren Nachkommen vereinigt sein. Wir wollen gleich die Verlobung aussprechen, sind Sie einverstanden?«

»Ob ich einverstanden bin! Unsere Enkel und Urenkel werden Hand in Hand unser Werk vollenden!«

Paul und Antoinette umarmten sich in glücklicher Rührung, während Boisgelin, der nicht zugehört hatte, den Park, seinen ehemaligen Besitz, trübselig, aber nicht einmal mit Bitterkeit betrachtete, so verwirrte und betäubte ihn diese neue Welt. Dann setzten alle ihren Spaziergang durch die schattigen Alleen fort. Lucas und Suzanne sprachen nicht mehr und sahen einander nur mit einem stillen Lächeln innerer Freude an.

Von Tag zu Tag verwirklichte sich die Zukunft immer mehr. Als sie zur Guerdache zurückkehrten, blieben sie einen Augenblick vor der Fassade des Schlosses links von der Freitreppe stehen, unter den Fenstern des Zimmers, in dem Herr Jérôme gestorben war. Von hier aus sah man durch die Wipfel der Bäume hindurch in der Ferne die Dächer von Beauclair, die Crêcherie und die Hölle. Schweigend ließen sie die Augen auf der weiten Rundsicht ruhen. Man unterschied deutlich die Gebäude der Hölle, die nach dem Muster der Crêcherie neu erbaut worden waren und nun mit dieser nur noch eine einzige Stadt der neugeordneten, veredelten Arbeit bildeten, die der Stolz, die Gesundheit und die Freude der Menschen geworden war. Immer mehr Gerechtigkeit und Liebe entstand hier mit jedem neuen Tag. Und die Flut der kleinen hellen, von Grün umgebenen Häuschen, diese Flut, die Delaveau voll Unruhe sich immer weiter hatte wälzen sehen, sie hatte nun das ehemalige schwarze Gebiet überschwemmt, und noch immer dehnte sich die Stadt der Zukunft weiter aus. Sie bedeckte nun den ganzen Raum zwischen den Hängen der Monts Bleuses und der Mionne, bald überschritt sie auch den schmalen Fluß, um das alte Beauclair, den Haufen schmutziger Hütten, dumpfer Wohnstätten der Sklaverei und des Elends wegzufegen. Immer weiter, immer weiter sollten die Häuser vordringen, bis weit hinaus in die fruchtbare Ebene der Roumagne, und sollten, Stein zu Stein fügend, unter dem brüderlichen Himmel die Stadt der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Glücks vollenden.


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