Fedor von Zobeltitz
Der Kurier des Kaisers
Fedor von Zobeltitz

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Erstes Kapitel.

Am Pic von Orizaba.

Der Leser lernt den Helden kennen – Trübe Tage in Mexiko. – Was ein Pama unter Requirieren versteht.

»Holla, Wohanna – was giebt's?!« . . .

Der soeben aus dem Schlummer Erwachte richtete sich auf, rieb sich die Augen und schaute umher.

Der Tag begann zu dämmern. Die ersten grauen Schatten fielen in das Innere der Höhle; draußen vor dem Eingang leuchtete es noch heller – eine Schicht Schnee war über Nacht gefallen und im Frühschein glänzten die Krystalle wie Silber.

»Still, Herr,« antwortete eine zweite Stimme. »Mir war's, als hätte ein Pferd gewiehert . . . Bleiben Sie liegen – ich will nachsehen, ob sich einer der Gäule vielleicht losgerissen hat . . .«

2 Der Mann erhob sich. Es war ein Indianer, kein Jüngling mehr, das sah man an dem durchfurchten, braunen Gesicht, doch immer noch eine stattliche Erscheinung, starkgliedrig und von würdevoller Haltung. Sein Antlitz war nicht bemalt, dagegen trug er auf der nackten Brust unter dem offen stehenden Lederhemd ein farbiges Zeichen: einen roten Ring, durch den ein Pfeil ging.

Die Höhle war weit und mochte vulkanischen Ursprungs sein wie die meisten Grottenbildungen an den Hängen des Pics von Orizaba. Riesige Felssteine, zu gigantischen Trümmerhaufen vereint, schieden sie in verschiedene Teile; das Ganze war gewissermaßen ein kleines Labyrinth, in dem man sich nicht allzu leicht zurechtzufinden vermochte.

Der zweite Reisende blieb, in seinen Woylach gehüllt, liegen und stützte den Kopf in die Hand. Er war todmüde. Der Tag vorher hatte eine Reihe schwerer Anstrengungen gebracht – in der That, man mußte sich an das strapaziöse Reisen im Hochlande von Mexiko erst gewöhnen. Und der junge Mann hatte noch dazu eine lange Seefahrt hinter sich, die auch nicht allzu glatt verlaufen, sondern mit allerhand Stürmen und Ungemach verbunden gewesen war.

Daß er kein Sohn des Landes, war selbst in diesem Halbdunkel sofort zu erkennen. Er mochte neunzehn oder zwanzig Jahre alt sein, war blond und hatte ein hübsches, offenes Gesicht mit blitzenden, blauen Augen. Ein erster Bartflaum sproßte auf seiner Oberlippe; sicher hatte noch kein Schermesser diesen jungfräulichen Bart berührt.

Nun warf er die Decke zurück und lauschte. Er trug Reisekleidung von praktischem Zuschnitt: Joppe, Beinkleid und die bis zu den Knien reichenden Gamaschen aus wasserdichtem Lederstoff, und um die Schultern das Poncho, das mexikanische Plaid mit der Schlitzöffnung für den Kopf.

Von jenseit der hochaufgetürmten Felssplitter, die sich wie ein Mauerwall bis tief in die Höhle hineinschoben, drang ein heller Ausruf des Staunens und der Empörung.

3 »Señor!« gellte die Stimme des indianischen Führers, »bei allen Heiligen – unsre Pferde sind fort – sind gestohlen – –«

Der junge Deutsche – denn seine Wiege stand an den Ufern des Rheins, und ganz deutsch klang auch sein Name: Fritz Berger – sprang beflügelten Fußes in den Nebenraum, da wo man die Gäule angepflöckt hatte. Aber die weite Höhlung, in die heller und heller das Licht des erwachenden Tages fiel, war leer; nur die beiden Stricke, die die Stelle der Halftern vertreten hatten, lagen am Boden, den dichtes Geröll bedeckte.

Fritz starrte mit großen, erschreckten Augen seinen Führer an.

»Gestohlen worden?« wiederholte er fragend. »Ich glaube, du irrst, Wohanna. Wie sollten in diese Einöde Diebe kommen?«

Der Indianer lächelte.

»Sie kennen unsre Berge noch nicht, Señor,« erwiderte er, sichtlich bemüht, ein möglichst fehlerfreies Spanisch zu sprechen, »und Sie wissen nicht, in welchen Zeiten wir leben. Freibeuterschwärme durchstreifen zu hunderten das Land, und wenn sie sich auch Soldaten nennen – die meisten von ihnen sind dennoch nichts besseres als Räuber und Mörder! Aber kommen Sie – die Schufte können noch nicht weit sein – vielleicht finden wir ihre Spuren noch . . .«

Sie traten hinaus in das Freie. Der Tag war erwacht, aber die ganze Berglandschaft ringsum lag in dichtem Nebel. Und dieser Nebel braute und kochte aus allen Schluchten auf, als habe der Vulkan tief unter der Erde seine Feuer entzündet und spanne um die schneeigen Gipfel tief häugende Schleier.

»Es ist unmöglich, an eine Verfolgung zu denken,« sagte Berger unmutig. »Wir sind zu Fuß, sind vom Wege abgekommen und haben ein Nebelheim vor uns. Und schließlich: ich glaube noch nicht recht an den Diebstahl. Die Gäule können sich losgerissen haben und können geflüchtet sein.«

4 Wohanna beugte sich und hob irgend etwas vom Erdboden auf.

»Schauen Sie her, Herr,« gab er zurück, »was ist das?«

Es war ein Messer, ein einfaches und billiges Taschenmesser mit dunkler Hornschale.

»Nun – und?« fragte Fritz. »Ein Wanderer kann es verloren haben.«

»Kann es – o ja, Herr,« antwortete Wohanna. »Aber ich habe hundert Zweifel dagegen. In diesen Tagen reisen nicht viele zu ihrem Vergnügen – und zudem: läge das Messer schon lange hier, so würde sich Rost an den Stahl gesetzt haben. Doch sehen Sie selbst, die Klinge ist blank und schneidig, und der Eindruck im Schnee ist frisch. Und erst gegen Morgen ist der Schnee gefallen. Der Dieb hat bei Ihrem Pferde den Halfterstrick durchschnitten, weil es ihm zu beschwerlich war, den Knoten zu lösen. So ist's und nicht anders.«

Fritz nickte mit bekümmerter Miene. Er sah ein, daß der Indianer recht hatte.

»Was nun thun?« fragte er. »Wir können die Schurken nicht einmal verfolgen.«

Wohanna schüttelte den Kopf.

»Es wäre Thorheit,« entgegnete er. »Wir müssen ausharren, bis der Nebel gewichen ist, und es wird nicht lange währen, so hat ihn die Sonne zerstreut. Und dann wollen wir versuchen, uns im nächsten Dorfe ein paar neue Pferde zu kaufen.«

Fritz lächelte. Er war klug genug, die Reisestörung von der humoristischen Seite zu nehmen.

»Ich glaube nicht,« sagte er, »daß du je etwas von dem ›Ring des Polykrates‹ gehört hast, Wohanna. Es schadet auch nichts; ich verzichte sogar darauf, ihn dir zu deklamieren – aber ich sage dir eins: unsre Gäule waren der Ring des Polykrates – wir haben sie dem Neide der Götter geopfert . . . Und nun laß uns frühstücken!«

5 »Ich hätte nichts dagegen, Señor – aber mit dem Frühstücken ist es eine eigne Sache. Die Halunken haben nämlich auch unsern Reisesack mitgehen lassen!«

»Heiliges Donner–«

Fritz verschluckte den Fluch und sprudelte dafür eine ganze Reihe nicht sehr höflicher Bezeichnungen für die Diebe über die Lippen. Es war zu toll! Der Reisesack war im Diligencias-Hotel zu Orizaba fürsorglich gefüllt worden. Da hatte nichts gefehlt: weder Thee noch Kaffee, noch Zucker, noch Brot, noch allerhand treffliche Konserven, selbst eine Schachtel mit Cigaretten war dabei gewesen. Und alles, alles hatten die Gauner gestohlen! Fritz hob beide Fäuste empor und drohte in den Nebel hinein.

»O ihr Gelichter! Ihr Halunken!«

Und dann lachte er abermals herzlich auf, wie belustigt über seinen aufkochenden Grimm.

»Holen wir uns die Decken aus der Höhle,« sagte er, bei allem Ungemach plötzlich wieder heiter gestimmt, »und setzen wir uns mitten in den Nebelsee. Ich möchte wenigstens zuschauen, wie die Sonne die weißen Dunstwolken vertreibt.«

Wohanna hatte bereits die Woylachs herbeigeholt und breitete sie über einen bankartigen Felsstein aus.

»Der Señor hat wenig Glück bei seinem Eintritt in das fremde Land,« meinte er, sich zu Füßen von Fritz niederkauernd. »Das wußte ich schon in Veracruz. Als Sie im Hafen aus Ihrem Boot an das Land stiegen, stolperten Sie, und Sie wären gefallen, wenn ich Sie nicht aufgefangen hätte. Und da wußte ich auch, daß Ihnen ein Ungemach bevorstand.«

»Ah bah – du bist abergläubisch, Wohanna! Weißt du, daß mich das wundert? Deiner Sprache und deinem ganzen Benehmen nach scheinst du eine bessere Schule genossen zu haben als die meisten deiner Stammesgenossen.«

»Ich bin städtisch erzogen worden, Herr; ein Advokat in Tampico hatte sich meiner angenommen, als ich noch ein Kind war.«

6 »Aus Tampico? Du stammst also nicht aus dem Süden, wie die meisten Indios, die in Veracruz Dienst suchen?«

»Nein, Señor, ich bin ein Pama.«

»Aber ein Christ – nicht wahr?«

»Ja, Herr – wie alle Pamas.«

Das Gespräch verstummte ein kurzes Weilchen. Mit Interesse betrachtete der junge Deutsche den hochgewachsenen Indianer, den er bei seiner Ankunft in Veracruz engagiert hatte, wohl wissend, das die in das Innere führende Eisenbahn erst im Entstehen begriffen war und daß man bei den Kriegsunruhen im Lande auch mit der regelmäßigen Postverbindung nicht mehr rechnen konnte. In der That unterschied sich Wohanna durch sein ganzes Sichgeben auf das Vorteilhafteste von dem verlumpten und armen braunen Gesindel, das in den Hafenstädten sein Brot suchte.

»Also ein Pama,« wiederholte Berger. »Hält dein Stamm zu dem Kaiser?«

»Ja, Señor,« entgegnete Wohanna kurz.

»Der arme Kaiser! Im Hotel in Veracruz habe ich ein paar Zeitungen lesen können – ich wußte ja gar nicht, wie sich die Verhältnisse in Mexiko entwickelt hatten! Welch Schurkenstreich von den Franzosen, ihn in höchster Not mit einer erst halb organisierten Armee allein zu lassen! Der Haß gegen Bazaine scheint allgemein zu sein.«

Wohanna nickte.

»So sagt man. Der Marschall der Franzosen liebt nur das Gold, sonst nichts. Er hätte selbst an die Stelle des Kaisers treten mögen, und die Leute in den Städten erzählen, daß die Kaiserin nur nach Europa gereist sei, um bei dem Kriegsherrn des Marschalls, bei dem großen Emperadore Napoleon, Klage über ihn zu erheben.«

Fritz neigte den Kopf. Erst in Veracruz hatte er aus den Blättern erfahren, daß die unglückliche Kaiserin Charlotte infolge der Aufregungen, die sie in Paris durchlebt, unheilbar schwer 7 erkrankt sei – ein neuer und ach, welch furchtbarer Herzenskummer für Maximilian! –

Es waren böse Zeiten für ganz Mexiko, und unheilvoll hob das Trauerjahr 1867 an. Erzherzog Maximilian von Österreich hatte vor drei Jahren, dem Rufe des der wilden Parteikämpfe müde gewordenen mexikanischen Volkes folgend, den Thron des alten Aztekenreiches bestiegen, aber er sollte seiner Krone nicht froh werden. Er war mit einem ganzen Herzen voll idealer Pläne über das Meer gezogen, doch es war ihm nicht gelungen, der Revolution Herr zu werden, die nun schon seit Jahrzehnten das Land durchtobte und die Bevölkerung an den Bettelstab brachte. Die republikanische Partei, an ihrer Spitze der Diktator Benito Juarez, wollte sich nicht den neuen Verhältnissen fügen und bekämpfte das Kaisertum mit erbittertem Fanatismus. Juarez hatte neben verschiedenen tapfern Führern, die aus hoher Begeisterung für die Sache der Republik fochten, auch eine Masse räuberisches Gesindel unter seinen Fahnen vereinigt, und so flammte denn der Aufruhr ärger als je von Grenze zu Grenze, und die Kaiserlichen hatten einen schweren Stand, den Ansturm der Gegner nach der Hauptstadt zu abzuwehren.

Seit Anbeginn des Jahrhunderts wüteten blutige Bürgerkriege in dem alten Aztekenreiche. Nach der Eroberung des Landes durch Ferdinand Cortez saugten spanische Vizekönige die Bevölkerung erbarmungslos aus, bis mit dem Aufstande des Priesters Hidalgo y Castilla im September 1810 die Revolutionen begannen, denen die spanische Herrschaft weichen mußte. 1821 riß General Iturbide die Macht an sich und machte sich unter dem Namen Augustin I. zum ersten Kaiser von Mexiko. Nach seinem Sturze behauptete sich die Republik unter einer ganzen Reihe von Präsidenten, die von zahllosen Gegenpräsidenten bekämpft wurden, so daß das unglückselige Land Ströme von Blut über sich ergießen lassen mußte. In den fünfziger Jahren begann Benito Juarez die politische Aufmerksamkeit zu erregen. Der 8 intelligente Indianer – er stammte aus einer dem Tribus der Zapotecas angehörigen Familie – hatte rasch Karriere gemacht. Laufjunge, Schreiber, Student, Advokat, Friedensrichter, Deputierter, Gouverneur der Provinz Oaxaca, Justizminister und schließlich Vizepräsident der Republik – das war die Staffelleiter des Ruhms, die Juarez in schneller Folge erklomm. Als Präsident Comonfort im Dezember 1857 seinen Widersachern weichen mußte, wurde Juarez an die Spitze des Reichs berufen; da aber auch er die Fremden im Lande nicht vor der Ausbeutung durch ein gewissenloses Beamtentum zu schützen wußte und auch die auswärtigen Staatsgläubiger nicht zu befriedigen willens war, so begann der sogenannte Interventionsfeldzug, und Frankreich, Spanien und England ließen durch ihre Truppen Mexiko besetzen. Die beiden letztgenannten Mächte zogen sich bald wieder zurück, so daß die französische Okkupationsarmee unter den Generalen Forey und Bazaine, demselben Marschall Bazaine, der 1870 die stolze Moselfeste Metz den siegreichen Deutschen übergeben mußte, allein auf dem Schauplatz zurückblieb, und schließlich nach schweren Kämpfen die Hauptstadt eroberte und Juarez in die Flucht trieb. Inzwischen hatten auch die gemäßigten einheimischen Elemente Sehnsucht nach Frieden bekommen. Eine mexikanische Notablenversammlung proklamierte auf Vorschlag Napoleons den Erzherzog Maximilian zum Kaiser; eine allgemeine Volkswahl sanktionierte diesen Beschluß, und so hielt denn Maximilian im Juni 1864 an der Seite seiner schönen und klugen Gattin, der Kaiserin Charlotte, seinen Einzug in das alte Inkareich.

Maximilian hatte sich im Vertrage von Miramar die Hilfe Frankreichs gesichert. Aber Napoleon brach den Vertrag, als er sah, daß sich die Lage der Dinge nicht so zu seinem Vorteil gestaltete, wie er gehofft hatte, und gab dem Marschall Bazaine Befehl, sich mit der Okkupationsarmee zurückzuziehen. Obschon Kaiser Maximilian selbst Bazaine, der beständig gegen ihn zu intriguieren versuchte, nicht ungern scheiden sah, verlor er in den 9 französischen Hilfstruppen doch eine starke Stütze, und da zudem die Finanzverhältnisse des Reichs überaus verzweifelte waren, so wankte der Boden immer mehr unter seinem Thron. In seiner Bedrängnis sandte Maximilian seine Gattin nach Europa, um noch einmal zu versuchen, das Kabinett von Paris und den Papst für die mexikanischen Verhältnisse zu interessieren; aber die schroffe Abweisung Napoleons erschütterte ihre Nerven so stark, daß sich die unglückliche Frau nur noch mühselig nach Rom schleppen konnte, um dort zu den Füßen des Papstes wahnsinnig zusammenzubrechen.

Die Lage Maximilians gestaltete sich immer tragischer. Auf die in Eile gebildete Nationalarmee war wenig Verlaß und die Fremdenlegion stark zusammengeschmolzen. Die Juaristen erfochten Sieg um Sieg – ihre Guerillatruppen umkreisten bereits in dichten Bogen die Hauptstadt. Aber der Kaiser hielt aus; er wollte nicht wie ein vom Schlachtfelde fliehender Soldat die Waffe aus der Hand werfen – er wollte, sollte es nicht anders sein, inmitten des Volkes sterben, das ihn gerufen und dem er das Beste seines edeln Herzens geopfert hatte. Die Hauptmacht der Kaiserlichen stand zur Zeit unsrer Erzählung unter den Generalen Marquez, Miramon und Mejia bei Queretaro vereinigt, und hierher gedachte auch der Anfang des Jahres 1867 noch in der Hauptstadt weilende Maximilian aufzubrechen, um den Oberbefehl über die Armee selbst in die Hand zu nehmen. – – –

Der Nebel, der aus den Thälern quoll und jeden Fernblick unmöglich machte, schien sich langsam heben zu wollen. Die Sonne mußte aufgegangen sein, denn ein rötlicher Schein färbte den weißen Dunst purpurn, und dann und wann blitzte es in den brauenden Massen wie ein aus weiter Ferne herüberzuckender goldiger Strahl auf.

Wohanna hatte sich erhoben, um die Decken zusammen zu legen, denn man wollte es mit einem vorsichtigen Abstieg 10 versuchen, als er in seiner Beschäftigung plötzlich innehielt und lauschend den Kopf erhob.

»Hören Sie, Señor?« sagte er, »war das eine Menschenstimme?!«

Ein Gebrüll antwortete, ein gewaltiger Laut, wie er nur aus der Brust eines riesigen Tieres quellen konnte, und zugleich gellte ein Hilfeschrei durch den Nebel.

Wohanna sprang in die Höhle zurück.

»Die Büchse, Señor!«

Die Nebel flatterten empor und verdünnten sich zu durchsichtigen Schleiern; mit siegreicher Gewalt brach sich die Sonne Bahn.

Die nächste Umgebung war nun bequem zu überschauen. Im Süden, sich himmelhoch reckend, die Schneepyramide des Vulkans mit seinem Zwillingsberge, der Sierra Negra, und nach Nordosten zu ein kraterartiges Thal, von zackiger Felsbildung eingefaßt, ein wahrhaftes Meer von Klippen und Steinsplittern. Rings um diesen Krater schlängelte sich der Weg entlang, hier und da von Schlammorästen und erkalteten Lavaströmen durchbrochen und sich tiefer abwärts auf einem gelbbraunen Wiesenplateau verlierend.

Vielleicht hundert Schritt von der Höhle entfernt, in welcher die Reisenden genächtigt hatten, wälzte sich eine dunkle Masse am Boden. Der Nebel hatte sich so gelichtet, daß in nächster Nähe jeder Gegenstand deutlich erkennbar war. So sah Berger denn auch zu seinem Entsetzen, daß die dunkle Masse am Wegrand ein ungeheurer Bär war, wie es schien ein Grisly, jene Bärenart, die dem ausgestorbenen Höhlenbären am nächsten steht und an Größe und Stärke den sogenannten braunen Bär weit überragt. Das Tier mußte getroffen worden sein, wenigstens ließen die Zuckungen, in denen es sich auf dem steinigen Boden wälzte, auf den Todeskampf schließen. Aber es hatte eine Gefährtin, die seinen Tod rächen wollte. Platt an die Felswand gedrückt sah Berger einen jungen Indianer, ein langes 11 Messer in der Hand, die Augen weit und starr geöffnet und den Blick auf den zweiten Feind gerichtet. Es war dies ein etwas kleinerer Bär als der bereits erlegte, wahrscheinlich das Bärenweibchen, das dem Gefährten zu einem Raubzuge in die tiefer gelegenen Partien der Sierra gefolgt war. Es mochte den Feind schon erkannt haben, denn es hatte sich drohend auf den Hintertatzen aufgerichtet und brüllte so gewaltig, daß es wie der Donnerton eines Nebelhorns klang.

Berger hatte den Arm Wohannas gepackt.

»Wohanna,« stieß er hervor, »wir müssen dem Unglücklichen Hilfe bringen!«

Und er legte die Büchse in Anschlag.

Doch eine Handbewegung des Indianers hieß ihn, die Waffe wieder sinken zu lassen.

»Nicht so, Señor,« antwortete Wohanna hastig, »helfen Sie mir den linken Arm mit der Wollendecke umwickeln und geben Sie mir mein Lasso! Dann bleiben Sie dicht hinter mir und reichen Sie mir auf den ersten Anruf mein Messer!«

Der junge Indianer hatte inzwischen mit gellem Jubelruf die unerwartete Hilfe begrüßt und stürzte den beiden entgegen. Das aber reizte die Bärin zu grimmiger Wut. Weithin scholl ihr Brüllton; ihre Augen glühten, und in dem halboffenen Rachen, dem dampfender Odem entströmte, sah man die blutrote Zunge.

Wohanna wartete das Nahen des Tieres ruhig ab, den linken, umwickelten Arm vorgestreckt, in der rechten Hand die Lassoschlinge. Und nun sauste das Seil durch die Luft, so geschickt geschleudert, daß es der Bestie wie ein Kragen um den Hals fiel. Der scharfe Ruck veranlaßte, daß die Bärin auf alle Viere vornüberfiel, und das Einschneiden des Lassos, daß sie den Rachen unter Tönen furchtbarer Wut noch weiter aufriß. Jetzt stürzte sich Wohanna auf sie und schob ihr den linken Arm bis zum Ellenbogen in das gewaltige Maul, so daß sich ihre Zähne in dem dicken Wollenstoff der Decke verbissen. Die 12 ganze Kraft der Bestie beruhte nur noch in der Schärfe der Pranken. Aber schon hatte Berger dem Indianer das Messer gereicht und für alle Fälle selber die Büchse erhoben. Wohanna stieß die Klinge – es war ein mehr als handlanges sogenanntes Bowiemesser – der Bärin in die Kehle – ein zischender schwarzer Blutstrom sprang ihm entgegen. Im selben Augenblick hatte sich auch der junge Indianer von rückwärts auf die Bestie geworfen, und sein Messer bohrte sich zwischen den Wirbelknochen tief in ihr Genick. Ein letzter, rasch ersterbender Brüllton, ein Röcheln, Gurgeln und Schnaufen – und das Untier streckte sich, nur wenige Schritt weit von dem Gefährten seiner Tage.

Wohanna erhob sich und wischte das blutige Messer ab. Sein Blick ruhte forschend auf dem jungen Indio.

»Du bist ein Pama?« fragte er ihn in einem für Berger unverständlichen Idiom.

Der andre neigte sich tief, indem er dabei seine Handflächen Wohanna zukehrte.

»Häuptling, du sagst es!«

»Kennst du mich wieder?«

»Keiner von uns wird je den Fliegenden Pfeil vergessen, und auch jene, die damals am lautesten schrien, als der Häuptling in die Verbannung zog, sehnen ihn heute zurück.«

Ein wildes Lächeln spielte um Wohannas Mund.

»Wie heißt du, Freund?«

»Ich bin Iwauha, Iwonangas Sohn.«

»Und was thust du hier?«

Der andre stockte – und plötzlich warf er sich zu Füßen Wohannas nieder.

»Häuptling, vergieb,« stöhnte er. »Ich wußte nicht, daß es deine Pferde waren!«

»Ah – also du warst der Dieb?! Seit wann stehlen meine Pamas wie das spanische Volk in den Städten?«

»Häuptling, man hat mir gesagt, das sei kein Raub, denn das Heer bedürfe der Pferde.«

13 »Welches Heer, du Thor?«

»Das der Franzosen. Es kommt von Mexiko und will sich in Veracruz in die Heimat jenseit des Meeres einschiffen. Und auf dem Wege von Puebla nach San Andrea ist eine Krankheit unter den Pferden ausgebrochen. Viele sind gefallen, und da hat der Kommandierende befohlen, neue Pferde an Stelle der toten zu beschaffen.«

»Zu requirieren, so nennt man es, Iwauha – ich kenne die Gebräuche der Armeen auch, aber man bezahlt die Requisitionen mit barem Gelde. Oder hat Marschall Bazaine es anders befohlen?«

Der junge Pama zuckte mit den Schultern.

»Ich hatte in San Andrea zu thun, Häuptling,« antwortete er; »der Kaufmann Veroso wollte mit uns über Monatslieferungen von Salpeter verhandeln – und da sahen mich die Franzosen und fragten bei mir an, ob ich nichts von tüchtigen Pferden wisse, die in der Nähe zu beschaffen seien. Ich wußte nichts, aber ein andrer wollte erfahren haben, daß ein Zug von Reisenden auf dem Wege über die Sierra sei – mit Pferden und Mauleseln – und da bot man mir fünfzig Pesetos, wenn ich ein Dutzend Franzosen zu führen bereit sei – und da –«

Der Indianer stockte von neuem, aber Wohanna half ihm, den Satz zu beenden.

»Und da folgtest du unsern Spuren,« sagte er mit spöttischer Betonung, »denn die fünfzig Pesetos lockten dich . . . Es wäre vielleicht besser gewesen, Iwauha, ich hätte dich den Tatzen des Bärenweibchens überlassen. Trolle dich heim und erzähle in Iquilisco, daß du Wohanna getroffen habest. Und erzähle auch, daß Wohanna zurückkehren werde, wenn die Zeit der Rache für ihn gekommen sei. Geh!«

Er erhob die Rechte, und der junge Pama sprang davon und verschwand in den tiefer unten noch immer auf- und abwogenden Nebelmassen.

14 Fritz hatte, obwohl er nichts von dem Wortwechsel der beiden verstand, doch mit wachsendem Interesse das Paar beobachtet. Sein Führer, den er auf der Reede von Veracruz unter den dort umherlungernden Packknechten indianischen Geblüts gefunden hatte, machte in Wahrheit den Eindruck, als rage er weit über seine Genossen empor; seine Bewegungen und Gesten hatten zuweilen sogar etwas unbestreitbar Vornehmes.

»Ich wünsche dir Glück, Wohanna,« sagte Fritz und reichte dem Indianer die Hand. »Es ist keine Kleinigkeit, so leichter Hand einen Bären zu erlegen.«

»Es ist auch nicht schwer, wenn man kaltblütig bleibt,« entgegnete Wohanna, »und die schwachen Angriffsseiten des Bären kennt. Weiß der Señor, wo die Räuber unsrer Pferde zu finden sind?«

»Woher soll ich das wissen, Wohanna? Kennst du sie?«

»Blicken Sie dort hinab! Die Nebel sind gestiegen – wir können frei Umschau halten.«

In der That flatterten in diesem Augenblick die letzten Nebelstreifen empor. Bis auf die Gipfel der Höhen, um die sich Wolken geschart hatten, hatten die Reisenden die Landschaft in weitem Umkreise vor sich. In der Ferne sah man sogar den Eiskegel des Popocatepetl und tief unten grüne Wälder, Palmenhaine und Zuckerfelder. Die Luft war jetzt so klar, daß sich selbst die einzelnen Ortschaften deutlich unterscheiden ließen. Auf der breiten Landstraße aber, die sich in Windungen durch die Ebene schlängelte, flimmerte und glitzerte es – – ein farbenschillernder Zug bewegte sich dort langsam vorwärts.

»Was ist das, Wohanna?« fragte Fritz. »Da unten – sind das Menschen?«

Wohanna nickte ernst.

»Ja, Herr. Es ist die Armee des Marschalls Bazaine, die nach Veracruz rückt, um sich nach Frankreich einzuschiffen – in dem Augenblick, da der Kaiser ihrer am nötigsten bedarf. 15 Und sehen Sie, Señor – dort unten bei dem französischen Corps sind auch unsre Pferdediebe zu finden!«

Fritz schnellte empor.

»Was heißt das, Freund?«

»Soldaten des Marschalls haben uns unsre Pferde gestohlen, und der junge Indianer, den ich vor den Klauen der Bärin rettete, hat sie geführt. Wollen wir die Gäule wiederhaben, so bleibt uns nichts weiter übrig, als selbst bei dem Marschall vorstellig zu werden.«

»Wie sollen wir ihn erreichen, Wohanna?«

»Das ist nicht schwer. Wenn wir den direkten Abstieg wählen, schneiden wir den Weg ab, den die Kolonne nimmt, und sind früher bei San Rafaelo, als die Truppen den Ort erreicht haben. Von dort aus aber können wir über den Rio Blanco in drei Tagen in Potosi sein.«

Fritz nickte zustimmend.

»Es sei,« antwortete er. »Der Verlust der Gäule ist noch zu ertragen, wenigstens in materieller Hinsicht – aber wie sollen wir weiter kommen? Und schließlich wurmt mich die Räuberei der Franzosen – also vorwärts – versuchen wir es einmal, den Rothosen auf die diebischen Finger zu klopfen!« 16

 


 


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