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X.

Verena Stadler war allein. Es war sonderbar, wie leer das Haus geworden war, in das sie vor Jahren eingezogen, und wie rasch es sich geleert hatte. Nun waren außer den Gesellen und der alten Friederike nur noch sie da und der kleine Bub, der Balthasar. Manchmal, wenn sie sich inmitten ihrer Arbeit und ihrer vielen Pflichten besann, mußte sie die Hand an die Stirne legen; Jahre hatte es gedauert und doch war alles plötzlich gekommen, so – wie es jetzt war! –

Es war nun bald ein Jahr, daß Wilhelm neben Frau und Mutter auf dem Friedhof lag. In Haus und Geschäft ging alles seinen gewohnten Gang. Verena hatte nicht mehr viel zu lernen, um auch das noch verwalten zu können, was bisher Wilhelms Aufgabe gewesen. Die Gesellen gehorchten ihr. Das Geschäft ging nicht schlechter. Im Gegenteil: die abtrünnigen Kunden, die eine Zeitlang zu dem neuen Bäcker in der Nähe gelaufen waren, kamen einer nach dem andern zurück.

Der kleine Balthasar gedieh. Er war ein strammer kleiner Mensch. Die Locken hatte er hergeben müssen. »Das ist gut für Herrenkinder,« sagte die Verena, als die alte Friederike jammerte, daß der Bub den blonden Schmuck verlor. Die Verena war streng, überall kurz angebunden, auch dem Kinde gegenüber. Sie mußte zu sehr überall sein, als daß sie für den einzelnen viel Zeit gehabt hätte. Aber der Bub hing doch an ihr. Sein weißes Gesicht leuchtete auf, wenn sie kam. Er hatte nichts als Lachen und frohe Worte in ihrer Nähe, denn obschon sie wenig darauf einging, war in ihrem Wesen nichts, was Fröhlichkeit verbot. Sie war keine, die ihr Leben vertrauerte, weil etwas darin in die Brüche gegangen war. Rüstig und emsig tat sie ihr Tagewerk, und am Abend hatte sie ihre Feierstunde, in der ihr das Herz weit war, darum, daß sie ihr Werk recht getan.

Eines Sonntagabends im Spätherbst hatte sie mit dem Knaben die Zerahnin besucht. Sie hielt keinen großen Verkehr mit ihr, aber sie hielt es für Pflicht, der Großmutter zuweilen das Kind zu bringen. Nun war sie auf dem Heimwege. Die Straßen waren belebt, doch nicht überdrängt, und die Leute hasteten nicht wie am Werktag, sondern jeder ging langsam in einer gewissen Beschaulichkeit und Behaglichkeit seines Weges. Der Himmel spannte sich in eintönigem Grau über der Stadt, die Hügel verhüllend, die sie umgaben, so daß eine tote Eintönigkeit in dem dreifachen Grau der Gassen, der Häuser und des Herbsthimmels war. Als Verena mit dem Kinde sich einer der Brücken nahte, die aus dem kleinen Stadtteil, in dem die Zerahnin wohnte, nach ihrem eignen Quartier hinüberführte, lag auch der See in dunkler Bleifarbe ihr zur Rechten. Weit hinaus dehnten sich die zwei trüben Flächen, der Himmel und der reglose See. Aber ganz fern, wie mit blanker, haarscharfer Klinge geschnitten, grenzte ein goldener, seltsam leuchtender Streifen den Himmel und den See. Dort hatte ein Sonnenstrahl sich durch allen Dunst Bahn gebrochen. Es war, als sei von einer andern, sonnigen, fast überirdisch schönen Welt der Vorhang zurückgerissen; man sah in strahlende Tiefen und Fernen. In ihnen standen die verschwommenen Umrisse der Berge, geheimnisvoll, wie eben in das Leuchten hineingerückt. Ein schönes reines Schneefeld lag nah unter dem Himmel. Die weiße Fläche glänzte wie tief im Chor einer dämmerigen Kirche von Kerzen bestrahlt, ein heiliger Altar. Verena hemmte unwillkürlich den Schritt. »Sieh, die Berge,« sagte sie zu dem Kinde, weil niemand sonst war, zu dem sie es hätte sagen können. Da staunte auch der Bub mit seinen großen blauen Augen durch das Geländer der Brücke einen Augenblick neugierig hinüber.

Vom großen Münster begannen jetzt die Sonntagabendglocken zu läuten. Verena durchfuhr eine schmerzliche Erinnerung. Auf dem See war es gewesen! Die Berge hatten geleuchtet!

Der Gedanke kam und ging.

»Komm!« sagte sie zu dem Knaben, faßte kräftig seine Hand und ging gleichsam fest und tapfer an ihrer verlorenen Jugend vorüber.

Jung war sie nicht mehr. Es war eigentlich sonderbar, wie rasch ihre Züge den Reiz und die Lieblichkeit ihrer früheren Tage verloren hatten. Während sie in ihrem schlichten schwarzen Kleid und einem ebenso schmucklosen Hut von gleicher Farbe dahinschritt, von mittelgroßem Wuchs, eher hageren Gliedern und nicht mehr vollen Wangen, sah ihr keiner nach, wie sie hinter der Verena Stadler hergeblickt hatten, die vor Jahren in St. Felix eingezogen war. Vielleicht eher noch, daß dann und wann ein Blick wohlgefällig in das muntere runde Gesicht des kleinen Balthasar zuckte, der selbstzufrieden im Gehen vor sich hinsang.

Einer kam aber just des Weges, der die Verena anschaute. Sie entdeckte ihn von fern, wie er, auf einen Stock gestützt, mit dem nicht mehr ganz sicheren und bedachtsamen Gang seiner alten Tage daherkam ... Es war der Antistes. Er ging in hohem Zylinder und seinem schwarzen Gewand. Schon von weitem schimmerte sein weiches lichtes Haar unter dem Hut. Verena hatte ein leises Rot in den Wangen, als er näherkam. Nun erblickte er sie auch. Sein Gesicht mit den strengen, scharfgeschnittenen Zügen nahm den Ausdruck einer seltsamen, ernsten Freude an. Ein paar Schritte vor ihr nahm er mit langsamer Handbewegung den Hut von seinem weißen Haar und grüßte still, fast feierlich, Verenas Herz klopfte. Sie wußte nicht, worin es lag: der Gruß des Antistes, der schweigend vorüberging, war eigentümlich beredt gewesen, sie mußte es verstehen: es – es war so gewesen, als – sonderbar – als ob er gesagt hatte: »Diese hat gelebt, was ich gelehrt habe!«

 


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