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Verena Stadler hatte zwei Besprechungen.
Sie sah heute sonderbar gealtert aus; es war noch nie so zutage getreten, daß ihre schlanke, biegsame Gestalt und ihr Gesicht hager geworden waren. Sie schien auch fast gewachsen. Ihre Stirn war nicht mehr glatt, es standen allerlei Striche darin, und der Mund und das spitzer gewordene Kinn hatten etwas Hartes.
Zuerst sprach sie mit Wilhelm. Am Morgen schon, während sie mit dem Aufräumen der Stuben beschäftigt war und er einmal, in seinem mehlweißen Arbeitsgewand, nur in Hemd und Hose und die Schürze vorgebunden, heraufkam. »Du hast mir das Heiraten angetragen, gestern,« begann sie.
Er war überrascht, schlürfte noch zwei Schritte in seinen zertretenen Pantoffeln und stand still. »Ich meine es auch,« sagte er schwerfällig.
»Ich bin einverstanden,« sagte sie laut und klar. »Unter einer Bedingung bin ich einverstanden.«
»Ja?« sagte er in fragendem Ton, immer ein Unbehagen im Wesen.
»Aus den Vereinen mußt du austreten.«
Seine vornüberhängende Gestalt beugte sich noch mehr. Er trotzte. Eine ganze Weile antwortete er nicht.
Verena stand frei und aufrecht, einen freundlichen Zug im Gesicht. Sie war sich bewußt, daß sie Meister über ihn war.
»Im Turnverein bleibe ich,« brummelte er in kleinlichem Zänkerton, »dadrin bin ich gewesen seit meiner Konfirmation.«
Sie war klug und wußte, daß sie den Bogen nicht zu straff spannen durfte.
»Einmal in der Woche,« sagte sie; »was dir gut ist, will ich dir gern gönnen.«
Allmählich schien ihm aufzuleuchten, daß eine unangenehme Sache sich zu glätten beginne. Bleiben wollte sie, die Verena! Gut, daß sich das wieder gab! Seine Miene heiterte sich langsam auf. Er schlug einen scherzhaften Ton an: »Gut denn, so halten können wir's.« Während des Sprechens noch merkte er, daß das Scherzen sich jetzt nicht paßte. Die Verena blickte zu ernsthaft. Er näherte sich ihr und streckte ihr scheu die Hand hin. Sie hielt die seine fest. »Gelt, laß uns das beste tun, daß es keines von uns reuen muß,« sagte sie.
Er wand sich unter ihrem Blick und ihren Worten. »Ja, ja,« murmelte er mit einer Hast, die zeigte, daß ihm das Sichducken lästig war. »Laß es uns bald in Ordnung machen,« meinte er dann.
»Das Warten nützt nichts,« gab sie zu. »Ich will dem Antistes davon sagen, heute noch.«
Am Nachmittag stand sie in des Antistes Stube und hatte den kleinen Balthasar bei sich. Er hing ihr am Kleid, während sie erzählte, was sie herbrachte. Die Stube war niedrig, peinlich sauber, mit alten Möbeln gefüllt und mit altem Täfelwerk verschlagen. Es war die herrenhafte Stube, die zu dem letzten Antistes paßte. Der hatte schreibend an einem Tisch gesessen und schob jetzt die goldene Brille an die bleiche, hohe Stirn, während er Verena zuhörte. Aus den eckigen Höhlen schoß der scharfe Blick seiner stahlgrauen Augen auf das Mädchen. Er hatte dieses schmuck und schlank und jung ins Waserhaus kommen, es darin altern und seinen Jugendreiz über schwerer Arbeit und Sorge abfallen sehen. Er maß die herbe, eckige Gestalt, die derbe, zerarbeitete Hand. Derweilen schloß Verena das, was sie zu sagen hatte.
»So,« sagte der Antistes. Wieder sah er sie scharf und fest an. Dann legte er beide weißen Hände, die nicht mehr ganz stark waren und unmerklich zitterten, langsam, die Finger verschlungen, vor sich auf den Tisch und sagte laut, mit scharfer Betonung, so daß jedes Wort wie hingezeichnet stand. »Achtung habe ich vor Ihnen, Verena Stadler, große Achtung.«
Verena atmete rasch. Es bedrängte sie etwas, als stiege ihr ein Schluchzen in die Kehle. Der Antistes erhob sich nicht. Als er gesprochen hatte, saß er noch so unbeweglich dort wie vorher und sein vornehmes Gesicht war glatt und still. Aber gesagt hatte er die Worte und es war etwas Großes darum. Verena versuchte ein Lächeln, dann ein paar unbeholfene Worte. Endlich sagte sie nur: »Ja, so will ich jetzt heim,« nahm das Kind auf den Arm, grüßte und verließ die Stube. Den ganzen Heimweg hatte sie das in den Ohren, was der Antistes gesagt hatte. –
Wenige Wochen später war die Hochzeit, eine stille, wenig festliche. Es war kein einziger Gast dabei. Verena wollte es nicht, und Wilhelm fügte sich. Er fügte sich manchem, tat das schon all die Zeit her, seit sie sich ihm versprochen hatte. Aber es war kaum sein Verdienst; denn die Verena meisterte ihn, daß er mußte. Wenn sie in all den Jahren, die sie neben ihm im gleichen Hause gelebt, nichts über ihn vermocht hatte, so war das gewesen, weil sie selber sich in keinem Recht wußte, ihm zu gebieten oder zu raten. Jetzt stand sie ihm näher, und jetzt nahm sie alle Kraft und Klugheit zusammen, den noch zu leiten, der bisher über allerlei schlimme Seitenwege getaumelt war. Und während er, wie erstaunt über ihre stille Entschiedenheit, gleichsam nur halb wach, unwillkürlich tat, wie sie wollte, brachte sie ihn langsam in das rechte Geleise zurück.
Die ganzen Wochen her war er nicht ausgegangen, mit Ausnahme dessen, daß er an den Übungen des Turnvereins wöchentlich einmal teilnahm. Dabei merkte er kaum, daß er ein andres Leben lebte. Verena hatte eine sonderbare Art, ihn das vergessen zu machen. Sie wußte ihn auf den Abend in die Wohnstube zu locken und verstand ihn dort festzuhalten. Sie spielte Karten mit ihm, las ihm vor, lehrte ihn sich mit dem Kinde beschäftigen und an ihm sich freuen; oft – und sie schmälte und quälte sich heimlich, daß sie dem kleinen Balthasar ein Leides damit tue – hielt sie das Kind über Gebühr lange auf, nur um den Vater zu halten. Aber sie erreichte, was sie wollte: Wilhelm gab das böse Leben auf.
Für eine Zeitlang!
Ein Jahr lang tat es gut, äußerlich gut einmal. Eines wußte Verena damals schon: die heimliche Flasche konnte sie ihm nicht wegnehmen. Sie merkte es immer wieder, daß er in einem Schrank, in einer Ecke versteckt die böse Freundin stehen hatte. Er war schlau darin, verschlagen und erfinderisch; immer wieder, wenn sie ihm Vorstellungen machte, schien er ihr recht zu geben und immer wieder hinterging er sie. Da erkannte sie allmählich, daß die starke Hand, die sie ihm zu reichen meinte, doch zu spät kam; es gab Augenblicke, in denen sie sich selbst bitter anklagte darum, daß sie der Hilde, seiner ersten Frau, Schwäche vorgeworfen hatte, wenn sie jetzt sah, daß auch sie nicht wider seinen Leichtsinn aufkam. Und sie höhnte sich selbst: »Pah, siehst jetzt, was du vermagst!«
So war schon im ersten Jahre ihrer Ehe ein heimlicher, kaum ihnen selbst bewußter Kampf zwischen den beiden, obschon die Dienstleute und die Nachbarschaft rühmten: »Die hält ihn in Ordnung, den Waser, die junge Frau.«
Das zweite Jahr kam, der Winter brachte eine stillere Zeit ins Geschäft, stiller als je früher; in der Nähe war eine neue Bäckerei entstanden. »Du mußt dich wehren, Wilhelm,« sagte Verena; »du darfst dir keinen Kunden wegnehmen lassen von dem neuen.« Ihn aber packte der Ärger und lähmte ihm die Lust am Arbeiten. Eines Abends war er unversehens aus dem Hause gegangen und kam spät in der Nacht heim. »Wo bist du gewesen?« fragte sie.
»Im ›Schwarzen Bären‹!« Das war eines seiner früheren Stammlokale.
Sie sah ihn scharf an und war sehr bleich. Er hielt ihren Blick nicht aus, gähnte, war wie im Dusel und warf sich aufs Sofa. »Wilhelm,« sagte sie, »fange es nicht wieder an, das Leben! Ich sehe nicht ruhig zu.«
Jetzt riß er die Augen auf. Ihr Ton war zitterig und weckte und packte ihn. Er sah, daß ihre ganze Gestalt bebte, ihre Fäuste geballt waren und eine große Entschlossenheit in ihrer Haltung lag. Er murrte etwas. »Nein – nein, ich gehe schon nicht mehr,« verstand sie dann. Aber sie wußte beinahe, daß es nur der Anfang von Schlimmerem war.
Die ganze Woche freilich hielt er bei ihr still. Am Sonntag ging er wieder. Dann wieder und wieder. Verena stemmte sich dagegen. Sie behielt lange ihre Ruhe und feste Güte, die viel über ihn vermochten. Je mehr sie aber ihrer Macht über ihn verlustig ging, desto unruhiger wurde sie und manchmal brach ihr die Geduld, daß sie ihn schalt. Gegen herbe Worte trotzte er und war nachher schlimmer als vorher. Verena wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis auch andre wieder in das Elend hineinsahen, das ihr allmählich aufging. In dieser Not aber fielen Unruhe und Ungeduld, die vorübergehend an ihr gewesen, langsam wieder von ihr ab. Die Klarheit ihres Willens und ihrer Festigkeit wuchsen seltsam mit dem Elend, das in ihrer Ehe sich mehrte. Wacker und aufrecht stand sie und tat an dem ohnmächtigen Menschen, ihrem Mann, was ihr zu tun blieb. Manchmal, wenn sie im Laden saß, sah sie die Statue des Reformators drüben stehen. Sie freute sich noch an dem mächtigen erzenen Bilde. Aber sie wußte nicht, daß sie selbst jetzt die Stirne so froh trug wie der drüben am See, der im Streit allezeit festgestanden.
Und dann kam der Tag, der alles ausglich.
Wilhelm hatte seine gute Woche. Er war nie fort gewesen. Auch daheim hatte er klaren Kopf behalten, fleißig gearbeitet. Der Samstag kam, der Tag, an dem er abends immer noch zu den Turnübungen ging. Verena freilich wußte, daß sein Gang mehr der Schenke neben der Turnhalle denn dieser galt.
Am Vormittag schon sprach er davon, daß er abends ausgehen werde. Verena munterte ihn selbst auf dazu. Dann zeigte er eine sonderbare Unruhe den ganzen Tag, zweimal lief er aus der Backstube. Am Abend ertappte ihn Verena, wie er im dunkeln Hausflur stand und die Flasche zum Munde führte. Schon ehe er dann wegging, sah sie, daß ihm die Augen glänzten und das Gesicht glühte. »Nimm dich in acht!« mahnte sie ihn, als er nach einer Weile zum Gehen sich anschickte.
Er schoß einen scheuen Blick nach ihr. Dann fuhr ihm das Blut zu Kopf; er war zornig. »Nichts als nörgeln kannst,« sagte er barsch und ging ohne Gruß hinweg.
Verena wußte nicht, warum eine Unruhe sie langsam überkam, als er gegangen war. Sie brachte den kleinen Balthasar zu Bett und tat ihr Tagwerk eifriger als sonst zu Ende, so eifrig, daß sie vor der Zeit damit fertig war und sich wunderte, wie früh es war, als sie sich mit einer Handarbeit an den Tisch setzte, um, wie sie zu tun pflegte, auf Wilhelm zu warten. Mit einem Seufzer nahm sie ihre Arbeit auf, vergaß aber eine ganze Weile, was sie wollte, sah vor sich hin ins Leere und fühlte, daß ihr Herz hörbar pochte. Sie schalt sich und riß sich mit Gewalt aus ihrem Grübeln. Es war ja nicht das erstemal, daß er fort war!
Im Hause war alles still. Aus der Gasse herauf tönten dumpf und hohl wie immer die Schritte der vorübergehenden, und von der andern Seite des Hauses kam das schwere, verworrene Geräusch der großen Straße, aus dem sich das Rollen der Wagen wie unaufhörlicher Donner hob. Nach einer geraumen Zeit klang ein solches Rollen näher und deutlicher als bisher. Es löste sich gleichsam aus dem übrigen, dumpferen Geräusch und näherte sich dem Hause, so daß es zuletzt nicht mehr wie durch die Mauern scholl, sondern aus dem Flur selber heraufzuklingen schien. Verena fuhr auf. Sie hatte die Arbeit weggeworfen, stand hochaufgerichtet und lauschte. Was war das? War da nicht ein Wagen ans Haus gefahren? Der – Wilhelm! In diesem Augenblick versank alles, was die vergangenen Jahre getan hatten, um das Bild desjenigen zu trüben, der für sie der Erste und Einzige gewesen war. Wäre die Angst um ihn an dem Tage über sie gekommen, der auf jene Seefahrt gefolgt war, da sie noch nichts als Gutes von ihm wußte, sie hätte sich nicht mehr bewußt werden können als jetzt, was er ihr galt!
Unten war indessen einen Augenblick lang alles still, so daß sie, die gespannt lauschte, langsam und tief Atem zu holen begann, fast laut vor sich hinsprechend: »Mein Gott, es ist nichts!« Eben wollte sie sich wieder niedersetzen, als die Haustür ging. Sie war schwer; ein Gewicht zog sie ins Schloß zurück, und sie pflegte hart anzuschlagen, wenn die Falle einschnappte. Aber der Schlag blieb aus; es mußte jemand sie offenhalten. Die Angst kam der jungen Frau zurück, wild und jäh. Mit zwei Schritten lief sie nach der Zimmertüre und öffnete sie. Sie neigte den Kopf, um abermals zu lauschen; da knarrte ein Flurbrett und sie sah einen Schatten in die Lampenhelle fallen, die aus ihrer Stube in den Gang strömte. Da stand einer, ein Mensch mit einem bleichen Gesicht, den Hut in der Hand und sah sie mit einer scheuen und gequälten Miene an. Weder er noch sie fanden gleich Worte. Endlich begann er: »Frau Waser, nicht wahr?«
Sie nickte nur, hastig und fast zornig, weil er immer nicht sprach. Derweilen hörte sie unten auf den Holztreppen schon ein Poltern ungeschickt gesetzter Füße.
»Ihr Mann,« hob der Fremde jetzt ruhiger wieder an; »es hat ihm etwas gegeben.«
Verena überlief ein Gefühl innerlichen Frierens, aber der Kopf war ihr frei. Sie trat in die Stube zurück, zündete eine Kerze an und kam zurück. Dann öffnete sie das Zimmer, in dem Wilhelm und Hilde gewohnt hatten. Es stand noch ein Bett dort. »Der Kleine erwacht sonst,« sagte sie mechanisch, als ginge das den Mann etwas an, der ihr die Nachricht gebracht hatte und noch im Flur stand, auf die wartend, die die Treppe heraufgestampft kamen.
Verena deckte das Bett ab. Eben als sie wieder unter die Türe kam, trugen sie Wilhelm über die letzten Stufen herauf. Er lag auf einer Bahre und mußte fürchterlich schwer sein, denn die Männer keuchten und ächzten unter ihrer Last, hinter ihnen drängte sich eine Anzahl Hausbewohner, Weiber und Männer. »Jesus, mein Gott!« zeterte eine Frau. Eine andre hob die Hand gegen Verena, als wollte sie sie ihr von weitem hinstrecken. »Jesus, Frau Waser!« jammerte sie. Verena achtete auf nichts, »hier herein!« sagte sie zu den Männern.
Sie trugen den verletzten in das Zimmer und legten ihn auf das Bett. Ein Arzt war unter ihnen; der sprach nicht viel, entkleidete nur den verwundeten und gab dazwischen hinein mit kurzer, entschlossener Stimme einige Befehle. Die übrigen Bahrenträger standen noch eine Weile mit hängenden Köpfen daneben. Dann drückten sie sich schweigend hinaus. Auf dem Flur begegneten sie Verena, die ab und zu ging, die Weisungen des Arztes erfüllend. Sie stellte den einen. Ihr Gesicht war ruhig, aber ohne Farbe, »Wie ist es geschehen?« fragte sie.
Der andre erzählte, verlegen den Hut in den Fingern drehend: »Er – er ist – der Wein ist Meister über ihn gewesen – über Ihren Mann – wir sahen schon alle, daß er nicht – daß er in einer wilden Laune war, als er in die Turnhalle kam. Dann beteiligte er sich an den Übungen, bei denen er schon lange nicht mehr mitgemacht hatte. Er war ja immer stark, aber er war auch schwer geworden in den letzten Jahren. Nun – und dann – er war wie toll – das Waghalsigste fing er an. Wir wehrten ihm, wie wir konnten, – auf einmal – vom Reck – stürzte er ab – er – innerliche Blutung, sagt der Arzt!«
Verena nickte langsam, als müßte sie dem zustimmen, was der andre gesagt hatte. Dann ging sie ohne Gruß hinweg und in das Zimmer zurück. Die Männer entfernten sich.
In der Stube stand der Arzt über den Verunglückten gebeugt. Er lauschte. »Er kommt zu sich,« sagte er leise zu der herantretenden Verena. Sie sah ihm fest ins Gesicht. »Noch einmal?« fragte sie.
Er nickte nur. Heimlich staunte er, wie fest und ruhig sie blieb.
Wilhelm regte sich jetzt. Er trug an der Stirn eine leichte Schürfwunde und war sonst äußerlich völlig unverletzt. Sein Gesicht war weiß; das gelbe Haar, die Brauen und der Schnurrbart stachen davon ab; aber er sah jetzt jünger aus als sonst. Er schlug die Augen auf; sein Blick war wild und zerfahren; allmählich klärte er sich. »Ja so – ich bin gefallen,« sagte er mit ganz ruhiger, klarer Stimme, als besinne er sich jetzt.
»Vrene!« sagte er dann und wendete suchend den Kopf.
Verena stand zu den Füßen des Bettes. Der Arzt winkte ihr, zu bleiben, und trat selber zu dem Kranken. »Nicht sprechen!« sagte er leise und fest. Wilhelm sah ihn fremd an. Plötzlich richtete er sich so weit auf, daß er sich auf einen Ellbogen mühsam stützte, »Vrene!« wiederholte er hastiger, ungeduldig. Der Doktor wollte ihn ins Kissen zurückdrücken; aber er stieß ihn unversehens und mit schwerer Faust zurück. Dabei ächzte er: »Lassen Sie mich doch!« Und langsam drehte er den Kopf und sah um sich. Dann erblickte er Verena am Bettende.
Als ihre Augen sich begegneten, war sein Blick wieder halb verschleiert. Aber er wurde abermals heller und dann hob etwas darin zu schimmern an, das wie ein großes Staunen war.
Verena hielt die Hände verkrampft. In ihre Augen war ein seltsamer Ausdruck gesprungen. Aus ihrem Innersten kam etwas herauf, das sie viele Jahre darin zurückgehalten. »Wilhelm!« sagte sie.
Da schien das Staunen ihn ganz zu überwältigen. Er war wie einer, der einen wunderbaren Fund macht, dessen Reichtum er selber kaum faßt, »Was – ja – ja – was – gern hast mich noch?« stotterte er. Dann zuckte sein starkes Gesicht; es war fürchterlich zu sehen, wie sein ganzer Körper von einem langsam aufquellenden Schluchzen allmählich gehoben und erschüttert wurde. Plötzlich sprengte es ihm Lippen und Lider. Ein kurzes wildes Wort entfuhr ihm: »Jesus!« oder ein ähnlicher Laut. Selbst der Doktor, der von nichts wußte und ihn nicht näher kannte, verstand, was ihn aufwühlte und was er gleichsam für sich hatte sagen wollen: »Jesus, Mensch, so – – blind – bist – gewesen!«
Er hatte aber nicht Zeit, nachzudenken, der Doktor, denn der Oberkörper des Verletzten schlug nach außen. Just, daß er ihn noch auffing. Das Blut, das aus Wilhelms Mund schoß, netzte ihm die Kleider.