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VII.

Spät an einem Abend im Mai kam die Base Katharina ins Sterben. Vor ihrem Fenster standen ein paar Blumentöpfe und hingen voll Blust, Fuchsien und Geranien. Sie waren wie verloren zwischen den kahlen Mauern der engen Gasse, aber wenn einer, der unten vorüberging, den Hals genug reckte, so daß er das blühende Fenster sah, schien ihm das dunkle, unschöne Haus wärmer als die andern.

Verena saß allein bei der Base, weil sie es verlangte. »Bleib bei mir, du,« hatte sie gesagt, als Verena zu Bett gehen wollte. Ihre Hand faßte die Verenas und drückte sie fest und krampfhaft.

»Was habt Ihr?« fragte Verena.

»Nichts andres,« gab sie zurück. Dabei atmete sie mühsam.

Verena kam aber doch die Angst an. »Soll ich den Doktor holen lassen?« fragte sie.

Die Base schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Den Wilhelm?«

»Nein,« keuchte die Base. Dann verharrten sie lange ohne ein Wort zu sprechen. Die Dunkelheit kam über sie.

»Mach kein Licht,« gebot die Kranke.

Wenn Verena über ihren Stuhl und durchs Fenster schaute, standen ein paar Sterne über dem Zinnengeländer des Nachbarhauses. Es sah aus, als säßen Glühwürmchen auf der Eisenstange. Um das Fenster huschte es wie Schatten. Ein warmer Wind wehte die hängenden Blumen auf und nieder.

»Ist er drüben, der Wilhelm?« fragte plötzlich die Base.

»Ich weiß es nicht,« gab Verena zurück und wußte es doch. Seit zehn Tagen war er abends kein einziges Mal daheimgeblieben.

Die Kranke schien sich zu besinnen, setzte dann zum Reden an, aber ihr Atem keuchte und reichte zu Worten nicht hin. Dann begann die Erstickungsnot. Es war nur ein kleines Plänkeln gegen früher; die Base war schwach. Der Atem flackerte. Ein Zucken ging durch das hagere Gesicht; auch die Hand, die noch immer in der Verenas lag, zuckte und verlor die Kraft. Verena beugte sich nahe zu ihr.

»Base!« sagte sie hastig.

Da kam ein Gurgeln aus der Brust der Kranken. Der Oberkörper sank seitwärts. Verena lief nach Licht und riß das Fenster auf, damit Luft hereindringe. Der Wind sprang gierig durch die Öffnung, hob ein paar Fuchsienzweige und schlug sie herein, daß sie winkend und zitternd aufs Gesimse hingen. Als es hell war, lag die Base still, seitüber.

»Jetzt – jetzt –« stammelte Verena. Eine andächtige Scheu kam sie an. Sie brauchte keinen zu fragen, was war, bettete die Base zurecht, strich ihr über die Lider und kreuzte ihr die Arme auf der Brust. Dann ging sie hinaus. Zuerst betrat sie das Zimmer, wo sie Hilde wußte. Sie glaubte, sie schliefe, aber sie saß noch auf und strickte an einem Kinderjäckchen.

»Erschrick nicht!« sagte Verena. Dann fragte sie: »Wo ist dein Mann?«

»Im Turnverein.«

»Einer der Gesellen muß ihn holen. Seine Mutter – ist gestorben.«

Mit diesen Worten verließ Verena die Stube und stieg nach der Gesellenkammer, wo sie einen der Knechte herauspochte. Dann weckte sie die Magd. Als sie zurückkam, wartete Hilde auf der Schwelle auf sie. Sie hieß sie schlafen gehen; denn sie war schneeweiß und zitterte, als ob sie friere.

»Ich warte immer auf ihn, auf den Wilhelm; ich fürchte mich sonst,« sagte die andre weinerlich. Dann, als Verena zu der Toten zurückging, folgte sie ihr.

»Es ist nichts für dich, sie anzusehen,« sagte Verena. Aber Hilde schob sie in die Stube und kam nach. So ließ sie sie gewähren.

Dermaßen kam es, daß die Hilde diejenige tot noch sah, die im Leben sie nicht hatte kennen wollen. Halb neugierig, halb furchtsam stand sie am Bett der Base und sah sie an. Ihr Herz klopfte, vielleicht wurde ihr selbst jetzt noch der große Gegensatz klar, der zwischen ihr, dem zimperlichen Ding, und der war, die mit scharfen, spitzen Zügen, strengem Mund und einer von Sorgen wolkigen Stirn vor ihr im Bette lag. Es war, als ob die Base Katharina betete. Sie hielt die Arme gekreuzt. Hilde drängte sich unwillkürlich der Gedanke auf, daß jene in der Kirche so ausgesehen haben mußte, und auch das befremdete sie wieder. Wilhelms Mutter hielt keinen Rosenkranz zwischen den Fingern; das ihre war ein schmuckloses Beten. Ihre Frömmigkeit hatte etwas Nacktes, herbes und Armseliges, darob die junge Frau, die nur den lauten Eifer und das Gepränge ihrer eignen Kirche kannte, erstaunte.

Verena ging ab und zu. Friederike, die Magd, kam, brach in Tränen aus, als sie hörte, was war, und half dann vor sich hinflennend, wie alte Weiber tun, besorgen, was zu besorgen war. Hilde war zur Tür zurückgetreten und sah hilflos zu, wie die andern schafften. »Geh doch zu Bett!« gebot ihr Verena in entschiedenem Ton. Da schlich sie sich hinweg in ihre Kammer.

Bald nachher kam Wilhelm mit dem Knecht. Er sah verstört aus. Verena begegnete ihm im Gang und sah ihn fest an. »Man sollte dich nicht holen müssen um die Zeit,« sagte sie. Es konnte es niemand hören als er. Ihm aber schoß das Blut zu Kopf. Sie sah, daß er sich noch schämen konnte.

Am Bett seiner Mutter weinte er, nicht laut, nicht lang, eben ein verbissenes Weinen, wie es Männern eigen ist. Dennoch faßte Verena ein Groll. Das Wirtshaus sah ihm aus den Augen; er roch nach Wein. Sie preßte die Hand zur Faust. Und dann packte sie auch der Groll gegen sein Weib wieder. Daß sie ihn nicht hielt!

Die Nacht verging unter ihrem Hinundher. Wilhelm mußte hinunter an die Arbeit. Mehlbestaubt und erhitzt kam er später, als es heller Tag war, wieder in die Wohnung herauf und trat bei Verena ein. Er wollte mit ihr von den Geschäften reden, die der Todesfall mit sich brachte. Sie besprachen manches. Er hatte ein mürrisches, übernächtiges Gesicht. Manchmal griff er sich an den Kopf, der ihn schmerzte; einmal fluchte er auch zwischen den Zähnen: »Den Schädel will es mir sprengen.«

Verena hatte vor Hohn schmale Lippen, als er das sagte. Sie saß ein gut Stück ab von ihm. Noch lag die Base im Zimmer nebenan, aber sie war doch nicht mehr da und Verena hatte ein sonderbares Gefühl, daß sie nicht mehr zwischen ihnen stand, daß sie mit dem – mit dem Vetter Wilhelm, auf einmal allein war. Als er das von seinem Kopfschmerz sagte, blickte sie ihn an. Sein Gesicht hatte die ehemals frische Farbe nicht mehr: es sah wie leicht gedunsen aus, und die Augen schwammen. Verena meinte einen Augenblick, ihn mit beiden Fäusten packen und schütteln zu müssen: »Was machst aus dir, du? Weißt nicht, daß du dich zugrund richtest mit deinem Schlemmerleben!«

Sie schrak völlig zusammen, als er dann weitersprach; aber sie faßte sich rasch. Sie ordneten noch dieses und jenes. Wilhelm schrieb sich eine Anzahl Besorgungen auf, die er nachher tun wollte. In allem fragte er Verena um Rat »Meinst, so sei es zu machen? Oder so?« Zuletzt sagte er: »Meinst, haben wir alles jetzt?«

»Ja,« gab Verena zurück.

Da stand er auf. »Ich will mich anziehen,« sagte er, »dann gehe ich.«

Als er die Stube verlassen hatte, saß Verena bleich und mit roten Augen da und sah an die Wand, ohne die Wand zu sehen. Gerade jetzt, da er gegangen war, fiel ihr ein, daß die Reihe, zu gehen, auch an sie kommen mußte. Die Base war tot! Der Vetter Wilhelm hatte eine Frau. Sie, Verena, hatte im Hause nichts mehr zu suchen! Seine Frau! Ja – wohl – sie saß drüben in ihrer Stube und strickte an ihrem Kinderjäckchen und zitterte vor Angst vor dem, was an sie kommen wollte. Eine große Hilfe hatte er nicht an seiner Frau, der Vetter Wilhelm!

Verena sagte sich das ohne Bitterkeit. Aber – sann sie weiter, gehen mußte sie, Verena, doch! Da war nichts andres! Das gab schon ihr Ehrgeiz nicht zu, daß sie blieb! Und was würden die Leute denken! Darum – nach dem Begräbnis der Base morgen – morgen schon! – war es Zeit!

Sie stand auf. Eigentlich tat sie es mit dem Gedanken: ›Kannst jetzt anfangen, deine Siebensachen zusammenzukramen.‹ Aber beim ersten Schritt, den sie der Türe zutat, kamen über den einen Gedanken schon zwanzig andre. Sie blieb mit gesenktem Kopf stehen. Langsam kam alles, was ihr in diesem Haus lieb gewesen war, und stellte sich um sie auf und sah sie an, als fragte jede Kammer, jedes Hausgerät, jeder Winkel: »Ja, gehst denn, kannst denn gehen?« Das Unrecht, das ihr geschehen war, war vergessen. Es war nicht mehr, als sei ihr Leben damals schon schwer geworden, als der – Wilhelm ihr das Wort gebrochen, sondern es schien ihr erst jetzt das Schwere und Bittere zu kommen. Der Weg aus dem Hause war ihr ein Biegen um eine schmerzliche Ecke, hinaus ins Ungewisse, ein Aus-dem-Frieden-in-den-Unfrieden treten. Da war auch Wilhelm – der Vetter selber – sie sah ihn ganz deutlich – blond, breitschulterig, mit hohem Rücken und ein am Körper starker und doch schwacher Mensch, aber einer mit einem guten Kern, wenn er nur in die rechten Hände kam! Allein war er nachher der hilflose Mensch! Blindlings würde er in sein Säuferelend taumeln! ...

Eine Tür ging. Wilhelm kam aus seiner Wohnung. Seine Sonntagsstiefel knarrten. Verena nahm sich zusammen. Jetzt tat er die Tür auf. »Wolltest nicht sehen, daß unten alles recht geht?« sagte er.

»Ich will unten bleiben, bis du wieder kommst,« gab sie zurück, worauf er sich wendete und zur Treppe ging. Aber er kam noch einmal zurück. »Ich meine – es wird bald kommen – mit der Hilde,« sagte er.

Da sah Verena ihn groß an. Was brauchte er ihr das zu sagen! Sie zwängte ein trockenes »So!« hervor und drehte sich ab.

Nun ging er. Verena aber schalt sich selber, daß sie ihm nicht gleich gesagt hatte: »Morgen gehe ich dann, du!«

Andern Tages begruben sie die Base. Der Antistes hielt ihr die Grabrede. Seine Stimme klang scharf und streng, fast zornig, und sein Blick haftete, so lange er sprach, auf Wilhelm, der vornübergebeugt am offenen Grabe stand und nicht aufsah. Es war, als ob der Antistes sagte: »Du hast deiner Mutter schwere Tage gemacht, Sohn!« obwohl er in Wirklichkeit ganz andre Worte sprach. Als er geendet hatte und die Erdschollen auf den Sarg fielen, schluchzte Wilhelm auf. Der Antistes trat zu ihm und gab ihm die Hand. Auch Verena reichte er sie, stumm, nur mit einem Kopfnicken. Dann ging er aufrechten und starken Schrittes hinweg. Das ganze Begräbnis war schlicht und kurz gewesen.

Als der Geistliche gegangen war, wandte auch Wilhelm sich vom Grabe ab. Mit Verena und ein paar entfernten verwandten, die zur Leichenfeier gekommen waren, stieg er in den Leidwagen. Hilde war nicht mitgekommen. Sie war schwach und müde und konnte nicht gehen.

Wilhelm saß während der Heimfahrt in einer Ecke des schwarzen Wagens und starrte zu Boden. Er sprach kein Wort; sein Vor-sich-hin-starren hatte etwas Dumpfes. Manchmal schien es Verena, daß es nicht nur Schmerz sei, daß auch eine Art Gedankenschlaffheit ihn so hindämmern lasse, hie und da versuchte einer oder der andre Trauergast – es war auch einer der Brüder Verenas darunter – ein Gespräch. Es schlief immer wieder ein; das stumme Starren Wilhelms verband ihnen gleichsam die Mäuler. Da fiel Verena ein, daß er immer noch nicht um ihr Fortwollen wußte! Es kam ihr so plötzlich, daß sie sich unwillkürlich räusperte und zum Sprechen ansetzte. Aber sie stockte wieder. Dafür hob ihr Bruder auf einmal an: »So kommst mit am Abend, Vrene?« Sie hatten Nachricht, daß sie zu ihnen kommen wollte.

»Ja,« sagte Verena. Es klang zögernd, voll Widerstreben. Als sie es gesagt hatte, sah sie nach Wilhelm hinüber. Der war mit seinen Gedanken weitab und hatte nichts gehört.

Der Wagen rasselte jetzt auf den Pflastersteinen der inneren Stadt. Bald nachher hielten sie am Platz vor dem Waserhaus. Alle stiegen aus. Wilhelm atmete schwer, als zerre er sich mit Gewalt aus einem Taumel. Dann nötigte er die Verwandten, die sich verabschieden wollten, ins Haus. Mit dem Blick bedeutete er Verena, daß sie für Atzung sorge. Es war ihm selbstverständlich, daß er sich immer wieder an sie wandte. Sie ging stillschweigend und rasch, den andern ein Stück vorauf, die Treppe hinan. Da stand oben, schon wartend, die Friederike, die Magd. Sie sah ängstlich darein. »Jesus, seid Ihr lang nicht gekommen,« flüsterte sie. »Sie wartet so da drinnen,« fügte sie hinzu und zeigte auf die Tür zu Hildes Schlafstube.

»Auf mich?« fragte Verena. Es war, als ob sie sagte: »Was habe ich mit der zu tun!«

Wilhelm und die Verwandten kamen schon die nächste Treppe herauf.

»Sie wartet und wartet,« berichtete hastig die Friederike weiter. »›Wenn nur Vrene käme!‹ jammert sie immer.«

In diesem Augenblick trat aus der Schlafkammer eine ältere Frau, »Wenn Sie doch kommen wollten, Fräulein! Sie verlangt so nach Ihnen,« sagte sie. Da konnte Verena nicht anders. »Besorge Essen und Trinken für die Männer!« hieß sie die Magd. Dann ging sie in Hut und Trauerschleier, wie sie war und stand, zu Hilde hinein.

Die lag in den Kissen, bleich, klein, ihr Gesicht war fast so farblos wie das Kissenlinnen. Eine Hilflosigkeit ohnegleichen, ein zitternder, heimlicher Jammer standen darin ausgeprägt. Es war, als blicke sie vorwurfsvoll zum Herrgott auf: »Sieh mich an, du! Was hast du mich ins Leben gesetzt, und gibst mir keine Kraft!«

Als Verena hereinkam, den Hut abnahm und ans Bett trat, hob sie den Kopf. Das Blut kam ihr in die Wangen. Sie brauchte nicht zu sagen, daß sie auf die andre gewartet hätte. Das las sich aus ihren Augen, in die das Wasser schoß. Ihr Mund zuckte; die Brust bäumte sich in einem mühsam verhaltenen Schluchzen auf. Als sie reden konnte, sagte sie: »Gelt, jetzt bleibst da?«

Sie sagte das ein paarmal, abwechselnd mit: »Gelt, gehst nicht fort?«

Wenn Verena es nicht gewußt hatte, so hatte sie jetzt leicht, es zu merken, wie die andre an ihr hing und sich an sie klammerte.

Wilhelm kam nachher herein. »Eben erst hat es mir die Friederike gesagt,« sagte er. Dann trat er an das Bett seiner Frau, tätschelte sie mit seiner schweren Hand und mahnte: »Mach's gut, Frau! Nimm dich zusammen!«

Darauf schien er verlegen um das, was er weiter zu tun habe, schritt auf und ab und verließ bald die Stube wieder.

Inzwischen hatte Verena sich mit der Frau, der Geburtshelferin, besprochen. Die machte ein bedenkliches Gesicht.

»Einen Arzt?« fragte Verena. Die andre nickte.

Drüben im Bett fuhr die Hilde auf. Sie sah mit wilden, erschreckten Augen herüber. »Jesus!« stammelte sie.

Die Frau verließ das Zimmer. Verena kam an das Bett herüber. »Ängstige dich nicht so,« sagte sie zu Hilde. Die nahm sich zusammen und faßte einen Rosenkranz und ein kleines Gebetbuch, die vor ihr auf der Decke lagen. Aus dem Buche glitt eine Menge Heiligenbilder, schön und vielfarbig, glänzend und von feinem Papier; aus den Gebetbuchseiten stieg es wie Weihrauchduft. Hilde drehte den Rosenkranz zwischen den Fingern und hob an zu beten, einförmig, aber hastig: »Gegrüßt seist du« und »Vater unser.« Zuweilen unterbrach ein Krampf ihr Stammeln; dann stützte sie Verena und hielt sie fest. Es war, als sei sie zwanzig Jahre älter als die Hilde.

Es kamen lange Stunden. Sie waren so voll Qual, daß Verena schauderte und nicht begriff, wie ein Mensch lebte, sie zu tragen. Die Frau war längst zurückgekommen und tat, was sie konnte. Auch der Doktor kam, derselbe, der die Base behandelt hatte, ein alter Herr, dessen Augen etwas müde aus der goldenen Brille sahen. Er schüttelte den Kopf zweimal, dreimal. »Warten, warten,« murmelte er, als er vom Bett weg trat. Der Atem war ihm kurz dabei, als peinige ihn, der ein ganzes Menschenleben lang Krankheit und Schmerz und Tod mitangesehen, eine sonderbare Angst. Er ging dann eine Weile im Zimmer auf und ab. Verena sah, wie er dabei noch immer manchmal still für sich den Kopf schüttelte, plötzlich winkte er sie zu sich ans Fenster heran, wo er stand.

»Wenn sie gern einen Geistlichen sähe, die junge Frau,« sagte er, »man sollte ihr nicht davor sein.«

Verena fragte nicht, ob er so wenig Hoffnung gebe; sie glaubte alles aus seinem Gesicht zu lesen. Sie ging zu Hilde und beugte sich zu ihr, sagte, daß sie nach ihrer Mutter geschickt habe, und wiederholte, was der Arzt gesagt habe.

Hilde hielt noch immer den Rosenkranz fest in den Händen. Sie war erschöpft. »Ich bin lange nicht mehr in der Kirche gewesen,« sagte sie jetzt, und leise: »Es wäre mir schon recht, wenn einer käme, einer von ...«

Sie war zu furchtsam, den Wunsch laut zu sagen, daß sie einen Priester ihrer Kirche haben möchte. Verena verstand sie. »Ich will schicken,« sagte sie und ging hinaus. Einen der Gesellen sandte sie fort. Sie hätte sich die Mühe sparen können. Die Zerahnin, als sie ankam, brachte schon selber den Pfarrer mit. Sie gab sich gern als fromme Frau.

Die Zerahnin trat hastig in die Kammer der Hilde. Sie war auffallend gekleidet wie immer, ihr Kleid schleppte am Boden, aber als sie den Hut abwarf und ihr schönes weißes Haar frei sichtbar wurde, sah sie fast vornehm aus. Der Geistliche war ein hoher starker Mann, in schwarzem, langem Rock, breitschultrig und mit einem schönen festen Gesicht und hoher Stirn. Seine Züge waren derb und streng, unter den Augen hing die Haut in Säcken, gegen die Nasenwurzel und von den Mundwinkeln gegen das Kinn liefen scharfe Schnitte. Er begrüßte mit schweigendem Handdruck und einer gewissen Zurückhaltung Wilhelm, der inzwischen wieder hereingekommen war, und den Arzt. Die Zerahnin machte sich mit geräuschvollem Mitleid an ihre Tochter.

Die Stube, die die beiden Betten, einen runden Tisch, Schrank, Waschtisch und einige Stühle hielt, war jetzt so gefüllt, daß die Leute sich drängten, Verena meinte überflüssig zu sein und wollte sich entfernen, aber noch ehe sie an der Türe war, klang schon Hildes angstvolles: »Gelt, gehst nicht fort?« zu ihr herüber. So blieb sie.

Wilhelm war unruhig. Es bedrängte ihn immer, wenn er jemand leiden sah, und in seiner Art hing er an Hilde. Er setzte sich und stand auf und setzte sich wieder. Als sie seine Angst sah, kam ein kleiner Mut über Hilde. Sie bat ihn zu gehen und wiederholte die Bitte so lange, bis er sich entfernte. Draußen lief er von Stube zu Stube; manchmal kam er und lauschte an seines Weibes Tür.

Inzwischen war der Pfarrherr zum Bette der Hilde getreten, ließ sich daneben nieder und sprach leise zu ihr. Die andern zogen sich ans Fenster zurück. Der Priester hörte die Beichte. Plötzlich schrie das junge Weib aus: »Verena!«

Der Doktor und die Frau eilten zu ihr. Auch die Zerahnin machte sich heran. Verena trat ans Bettende und stützte Hilde, die halb aufgerichtet saß. Fest legte sie die Arme um sie. Ein grausamer Kampf, in dem Sekunden zu Stunden wurden, begann. Die Zerahnin hatte sich in die Knie geworfen, halb sinnlos, und betete; neben ihr kniete der Pfarrherr. Auch er sprach das Gebet. Immer das gleiche, eintönig, eifrig, voll Hast.

Dem Arzt stand der Schweiß auf der Stirn. Verena stand aufrecht am Bett. Sie war jung, die Verena, nicht überkräftig, hatte nicht viel gesehen in ihrem Leben und nicht viel leibliche Qual erduldet, und sie glaubte umsinken zu müssen. Es wollte ihr schwarz werden vor den Augen. Da sah sie plötzlich einen vor sich – den erzenen Mann, drüben am See, den Reformator mit der freien Stirn, mit dem kampfmutigen Blick. Es durchrann sie sonderbar, als gösse ihr einer Stahl in die Adern. Sie biß die Zähne zusammen und stand todfahl aber fest und stützte die Hilde. Der Hochwürdige und die Zerahnin riefen die Muttergottes an, unablässig, brünstig, aufdringlich brünstig. Verena betete nicht. Nur jetzt, als die Hilde kreischte, einen unmenschlichen Schrei ausstieß wie das Tier am Sterben, da sagte die Verena ein einziges kurzes Wort, den Blick zur Diele erhoben: »Herrgott, jetzt ist es genug!« Aber sie hielt das arme Weib fest umschlungen.

Das hatte einem Kinde das Leben gegeben.


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