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[15]

Im Erkerzimmer aber, zu dem die schweren Duftwolken welkender Rosen hereinströmten, stand die junge Frau und hielt ein Briefblatt in den Händen, das sie bei dem letzten schwindenden Tagesschein wieder und immer wieder las. Es lautete:

»Liebe Zilla!

Mein hoher Vater befiehlt und ich gehorche. Weiß Gott, wie schwer es mir wird, Dir das zu schreiben. Der einzige Trost ist mir der, daß wir uns längst auseinandergelebt haben, daß Du es doch nicht so bitter empfinden wirst, wenn sich unsere Wege trennen. Es muß sein, Zilla. Wer kann für die Wandelbarkeit seiner Gefühle. Wir waren beide törichte Kinder, als wir einst Hand in Hand in die Welt stürmten, um das Glück zu suchen und wie bald mußten wir einsehen, daß uns der Boden unter den Füßen brach. Sei vernünftig, Zilla! Selbst, wenn ich Dich halten wollte, mit aller Kraft meines Herzens, ich könnte es nicht. Aber auch mein Herz ist weit ab von dem Deinen, Du weißt es lange. Also füge Dich, das ist das einzige, was ich von Dir erbitte und erwarte. Türkheim wird alles ordnen. Deine Zukunft wird in jeder Weise gesichert sein.

Lebe wohl und vergiß Dolf Dietram.«

»Füge dich, es ist das einzige,« wiederholte Zilla langsam.

Dann aber lachte sie laut und gellend auf und ihre Zähne schlugen wie in Fieberfrost aufeinander. Mit irrem Blicke sah sie um sich. Dunkle Schatten webten im Zimmer.

»Und sein Kind?« zog es durch ihre Seele. »Kein einziges Wort, keinen Gedanken hat er für das kleine Wesen, das ihm sein Dasein verdankte, diesem grausamsten aller Egoisten. Ach, und wie habe ich ihn geliebt!«

Ein wildes Schluchzen brach aus ihrem Munde.

Vom Nebenzimmer herüber drang das leise Weinen einer Kinderstimme.

»Jane kann noch nicht schlafen, Mama soll erst mit Jane beten und Püppchen küssen. Mama soll kommen.«

Geflüsterte, beschwichtigende Worte und dann wieder das leise Weinen. Zilla raffte sich zusammen. Ihr Kind weinte nach der Mutter, ihr Kind, das plötzlich keinen Vater mehr hatte, weil eines Fürsten Laune es so wollte. Entehrt, gebrandmarkt! – Flammte nicht schon dieses Kainszeichen auf der weißen Kinderstirne?

»Mama,« weinte das Kind.

Zilla schleppte sich zur Tür. Wie schwer und wie mühselig jeder Schritt.

»Mama, du mußt mit Jane beten,« jauchzte die Kleine.

»Bete, Kind.«

»Nein, du mußt mitbeten.«

»Nein, ich kann nicht,« wollte sie aufschreien. »Es gibt keinen Gott, denn sonst würde ich nicht so grenzenlos verlassen sein.«

Aber die Kinderhändchen umschlossen weich und warm die ihren, und wie ein Zwang legte es sich auf ihr Herz, zu beten für ihr Kind, dem sie Vater und Mutter zugleich zu sein hatte –.

»Mama, beten!« bettelte die Kleine.

Da faltete sie ihre Hände über den kleinen Händchen des Kindes zusammen und ließ sich vor dem Kinderbettchen auf die Knie nieder und – nein, für sich selbst konnte sie nicht, wollte sie nicht beten! Sie betete aus vollem Herzen nur für ihr Kind:

»Lieber Gott, ich bitte dich,
Ein frommes Kind laß werden mich,
Und wenn ich das nicht sollte werden,
So nimm mich lieber von der Erden,
Nimm mich in dein Himmelreich
Und mach mich deinen Englein gleich.«

»Amen,« kam es aus dem Munde des Kindes, und dann falteten sich noch einmal die kleinen Hände und aus tiefstem Herzensgrunde bat Jane leise:

»Schütze auch meinen lieben, lieben Papa, lieber Gott, und bitte, daß er bald zu Mama und Jane kommt.«

Und da war es mit aller Selbstbeherrschung Zillas vorbei. Laut aufschluchzend lag sie an Janes Bettchen auf den Knien und sie schrie verzweifelt auf.

»Nie, nie wird dein Vater wiederkommen. Verstoßen hat er dich, wie er einst deine Mutter verstieß, die ihn anbetete, wie einen Gott.«

Das Kind strich, schon halb im Schlafe, zärtlich über das tränenfeuchte Antlitz der Mutter. Noch einmal blinzelten die großen Augen – seine Augen – ihr zärtlich zu, dann senkte sich der Schlummer auf die schweren Lider der Kleinen, die bald fest und süß schlief.

Zilla hielt bebend ihre Hände über dem lockigen Köpfchen und sah die kleine Schlummernde lange und nachdenklich an.

Sie hatte sich auf den Bettrand niedergelassen und strich dem Kinde über die Locken und tastete nach seinen Händchen.

Und dann fiel ihr Blick wieder auf des Kindes geschlossene Augen, und sie erinnerte sich der Wirklichkeit und erschauerte.

»Allmächtiger Gott,« betete sie in ihrer Seelenangst,« schütze mich vor mir selbst. Hilf mir, daß ich nicht selbst dieses unschuldige Leben hier vernichte, das mich mit seinen Augen ansieht, der uns beide verraten und betrogen hat, der uns schützen sollte, der geschworen hat, mich nie zu verlassen, als ich, noch ein halbes Kind, zögerte, an seiner Hand den Schritt zu tun, den er als Beweis meiner Liebe forderte.«

Und mit einem Male wurde die ganze Vergangenheit wach, die ganze traumselige süße Frühlingszeit ihrer ersten Liebe. Jeder Gedanke nur er. Jeder Augenblick Daseinswonne, jeder Blick Seligkeit. Was war ihr Vaterhaus und Liebe, was der Schwester Wort, der Schwester Sorge? Blindlings ging sie an Dolf Dietrams Seite hinaus in ein neues Leben, das so verheißend schimmerte und lockte.

Alles hätte sie gegeben und die erdenklichsten Opfer hätte sie damals in der ersten schönen Zeit ihrer seligen jungen Liebe gegeben.

Türkheim ermöglichte ihre Flucht.

»Tot,« hatte er gesagt, »müsse sie für die Ihrigen sein, denn niemand dürfe ahnen, daß sie mit dem Prinzen geflohen sei, bis die Zeit kommen werde, wo er seine Liebe zu aller Welt frei und offen bekennen dürfe. Und sie hatte dazu nur strahlend gelächelt. Tot wollte sie zu gern für die ganze Welt sein, wenn sie nur für ihn, den Einzigen, nach dem ihre junge Seele schrie, leben konnte. Sie fragte nicht nach Heimat und Vaterhaus. Wie im Taumel genoß sie die ersten Frühlingswochen ihrer jungen Liebe in dem blauen Wunderlande, in das der Prinz sie führte. Ueberall leuchtendes Gold und Purpurfarben, überall blauer Himmel und Seligkeit.

Ach, jene schöne Zeit! –

Und dann kam langsam das Erwachen, als er das erste Mal von ihr ging und es für ihre Sehnsucht endlos währte, bis er wiederkam. Wohl blühte dann noch zuweilen in der Rosenau das alte Märchenwunder auf. In süßem Getändel verrauschten die Tage. Und dann kam das Kind und tausend neue Wunder erschlossen sich ihr und sie merkte es zuerst kaum, daß Prinz Dolf Dietram selten, immer seltener kam, sie und das Kind zu sehen, sein Kind, das er das erstemal doch so bewegt an sein Herz genommen hatte.

Dann blieb er ganz aus.

Und Schatten um Schatten senkten sich auf ihre Seele, wenn sie so allein in dem alten Schlosse saß und auf das Glück wartete, das ja kommen mußte, und die Sehnsucht wuchs mächtig, riesengroß empor, die Sehnsucht, nach Heimat und Vaterhaus. Und trotz des Verbotes des Prinzen schrieb sie an ihren Vater, an ihre Schwester, an die ferne Mutter, die sie kaum kannte und bat um Verzeihung. Immer wieder schrieb sie in ihrer heißen Herzensnot und bat um Barmherzigkeit. Nur ein Wort, nur ein kleines Wort sollte man ihr gönnen, wenn sie auch verbannt war aus Heimat und Herzen. Aber jetzt, wo sie selbst ein Kind besaß, jetzt erst konnte sie begreifen, wie sehr sie gefehlt.

Aber keine Zeile, keine Kunde fand den Weg zu ihr. Heute wußte sie, warum sie so einsam und verlassen war, warum sie hatte keine Vergebung finden können. Entehrt, verraten, betrogen hatte man sie, grausam betrogen.

Zilla erhob sich mit schweren Gliedern von den Knien. Heiß küßte sie die Lippen ihres Kindes. Wieder und immer wieder preßte sie das holde Geschöpf an ihre Brust, so daß die Kleine schlaftrunken die Augen aufriß und mit den Händchen den Hals der Mutter fest umklammerte. Dann ließ Zilla Jane sanft in die Kissen gleiten, noch einen letzten Blick warf sie auf das schlafende Kind, dann verließ sie das Zimmer.

»Für dich, mein Liebling,« sagte sie leise, »für dich noch dieser letzte und einzige Weg.«

Hastig vertauschte sie ihr helles Gewand mit einem dunklen, unscheinbaren Kleide. In fieberhafter Eile warf sie einen Schleier über das Haupt und dann schrieb sie auf ein Blatt Papier mit großen steilen Buchstaben: »Hüten Sie Jane.« Sie wußte, die Kastellanin würde das Blatt finden. Bei ihr war das Kind in sicherer Hut.

Nun konnte sie gehen. Nichts nahm sie mit aus dem alten Schlosse, nichts als ihre Schande. Aber nicht einmal der Weg war frei, der aus dieser selbstgewählten Gefangenschaft hinausführte. Sie wußte, das Tor war verschlossen und den Park schloß eine hohe Mauer ein. Der alte Buntzer würde ihr niemals die Pforte öffnen, wenn nicht Herr von Türkheim kam, sie hinauszuführen. Lieber tot, als von ihm geführt. Wäre sie ihm nie gefolgt, hätte sie den Einflüsterungen nie getraut! Verschwinden sollte sie, sie und ihr Kind. Lautlos, schattenhaft, wenn sie nicht vorzog, die Gattin des Ehrlosen zu werden, der geholfen hatte bei dem schändlichen Betrug, den man gegen sie verübt.

O, sie kannte einen Ausschlupf. Ein Zufall hatte ihn ihr gezeigt in trostlos einsamen Stunden, wenn sie durch die Gänge des alten Schlosses irrte. Es war derselbe Weg, den einst die Ahnmutter, die schöne Erdmute, gewandelt, als sie ihrem Gatten die Treue brach. Er führte von ihrem Zimmer durch eine Geheimtür in einen langen Gang. Altes Gerümpel versperrte den Weg und Ratten und Mäuse trieben darin ihr spukhaftes Wesen. Der Gang aber führte zu einer kleinen Pforte in der Mauer, die ins Freie ging. Nur ein Riegel hielt die Pforte geschlossen.

Mit zitternden Händen entzündete Zilla ein Licht, dann trat sie hinaus in den finsteren Gang. Hastig, mit unhörbaren Schritten ging sie vorwärts. Oft war es ihr, als müßten ihre Knie zusammenbrechen, aber krampfhaft hielt sie das Licht. Gespenstische alte Bilder grinsten von den Wänden zu ihr hernieder und ein großer Vogel flog krächzend über ihrem Haupte dahin.

Endlich war die Pforte erreicht. Mit ganzer Kraft stemmte sich Zilla gegen den verrosteten Riegel. Endlich gab er ihrer Anstrengung nach und tief aufatmend trat sie ins Freie, in den weichen, warmen Sommerabend, der mit lindem Weben ihre heißen Schläfe umfächelte.

Noch einmal flog ihr Blick zur Rosenau zurück. Flehend hob sie die Hände zum Himmel. »Schütze mein Kind,« bebte es von ihren Lippen.

Von fernher grollte der Donner und dunkle Wolken türmten sich am Abendhimmel empor.

In diese von Wolken überschattete Dämmerung hinein schritt Zilla, ihres Kindes Recht und seinen Vater zu suchen.


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