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In der weiträumigen Halle der geheimrätlichen Villa in der Bismarckstraße, in die sich die hohen Flügeltüren der daranstoßenden Gesellschaftsräume öffneten, wogte eine festlich geschmückte Menge. Auf aller Antlitz lag freudige Erwartung. Der kunstvolle venetianische Kronleuchter warf sein buntfarbiges Licht von der Decke gleißend hernieder und spielte auf den Kostbarkeiten und blühenden Pflanzen, welche die Halle in verschwenderischer Fülle schmückten. Fremdartige, märchenschöne Orchideen hoben sich hoch über dem breiten Sims des dunklen Marmorkamins empor und das reich ornamentierte Bronzegeländer, die weiße, mit Teppichen belegte Marmortreppe, die ins obere Stockwerk führte, säumte eine Fülle süß duftender Maiblumen und blasser Treibhausflieder.
Die Geheimrätin war in ihrem Elemente. In der fliederfarbenen Seidenrobe mit den funkelnden Brillanten und der weißen Reiherfeder in dem hochfrisierten Haar sah sie trotz ihrer fünfzig Jahre noch sehr vorteilhaft aus. Sie wußte das sehr gut, die Geheimrätin von Heimburger, und das Bewußtsein gab ihr ein erhöhtes Selbstgefühl, an welchem sie ohnedies nicht Mangel litt.
Aus einer reichen, angesehenen Großkaufmannsfamilie stammend, die jedermann mehr nach Soll und Haben, als nach seinem persönlichen Wert einschätzte, war Gretchen Maas beinahe gegen den Willen ihrer Eltern die Gattin des stillen, gelehrten Professors von Heimburger geworden, den sie vollständig beherrschte.
Was daher der Geheimrätin an innerlicher Bildung und Herzenswärme abging, das ersetzte ihr Gold reichlich in den Augen der Welt. Sie gehörte zu den gefeiertsten Persönlichkeiten der alten Lindenstadt. Es gab nichts, wo sie nicht mitredete. Ueber Kunst und Wissenschaft, über Politik und Armenpflege floß der Strom ihrer Beredsamkeit unaufhaltsam dahin und im »Gothaischen« war sie zu Hause, als hätte immer eine Krone über ihrem Haupte geschwebt.
Ihr größter Kummer war, daß ihre beiden Zwillingstöchter Maja und Maguhild, neunzehn Jahre alt, so wenig von ihrer Sinnesart geerbt hatten. Sie sahen ja ganz niedlich aus, aber mit ihren blassen, mißliebigen Gesichtern und dem »maulfaulen« Wesen, wie Frau Margarete es drastisch nannte, konnten sie auch die Edlen des Landes nicht bezaubern. Und um die rankte sich nun einmal die geheime Sehnsucht der Frau Geheimrätin. Wie gern hätte sie mit ihren Töchtern geprunkt und gezeigt, daß die Huldigungen, die man den Mädels entgegenbrachte, nicht nur ihrem großen Vermögen galten. Jetzt standen sie wieder steif wie zwei Pagoden in ihren rosa Tüllkleidern am Kamin und hörten kaum auf das, was die Offiziere, die sich in einem dichten Knäuel um sie geschart hatten, ihnen angelegentlich und verbindlich zu sagen trachteten.
Die Geheimrätin blickte besorgt nach der Tür. Der Prinz würde sie doch nicht im Stiche lassen? Frau von Heimburger wurde es siedend heiß bei dem schreckhaften Gedanken. Dann war ja die kostbare Blumenausschmückung oben im Speisesaale ganz umsonst – die Geheimrätin war trotz ihres Reichtums sehr sparsam und zitterte um jeden Groschen, den sie unnütz ausgab. Und heute hatte sie doch geradezu verschwendet, sündhaft verschwendet.
Ein böser Blick streifte Aniane, die sie vorhin bei ihrem Eintritte zärtlich auf die Stirn geküßt und der sie wortreich Glück zu ihrem Erfolge gewünscht hatte. Wie sicher sich dieses Mädchen bewegte, und Onkel und Tante aus Tannenrode, vor denen die Geheimrätin schon etwas Furcht gehabt, gaben ihr ein ordentliches Relief. Es war doch gut, daß Aniane so einen Onkel hatte, der Major war und der in seiner Uniform eine so stattliche Salonfigur abgab. Die Tante machte sich ja in dem steifen, schwarzen Atlaskleide auch leidlich. Jedenfalls sah sie ganz vornehm aus, wenn auch unmodern, sträflich unmodern. Die Geheimrätin bemerkte es schaudernd.
Sonst hatte sich ihr alles nach Wunsch gefügt. Alles, was ein bißchen »was war«, hatte sich eingefunden. Zuerst der kommandierende General. Wie leutselig er mit ihrem Manne sprach, und dort der Oberbürgermeister Georgi, Leipzigs Stadtoberhaupt, mit dem grauen Barte, der soeben Meister Reinicke, dem langjährigen Kapellmeister des Gewandhauses, die Hand schüttelte. Jetzt kam auch der Direktor des Leipziger Stadttheaters, Max Staegemann, mit seinen liebreizenden Töchtern. Wie flammend er die klugen Augen über die Menge streifen ließ und wie die lange Kette seiner Orden im Kerzenlichte funkelte.
Von einem Kranze jüngerer Damen umgeben, lehnte der neue Kapellmeister des Gewandhauses, Arthur Nikisch, das blasse Antlitz von einem leisen, melancholischen Lächeln überhaucht, an einem Pfeiler und ließ die mehr oder minder taktvollen Schmeicheleien, die ihm die Frauenwelt zuflüsterte, ergebungsvoll über sich ergehen. Die langen Wimpern seiner dunkel umsäumten Augen verdeckten den Blick, den er nur zuweilen müde emporhob.
Nicht weit davon lachte seine junge Gattin mit dem blonden Tituskopfe und den strahlenden Blauaugen lustig mit einigen Herren, während ernst und würdevoll die Gattin eines bekannten Rechtsgelehrten, die als tonangebend in Modesachen galt, ihre langstielige Lorgnette hob, um Aniane zu betrachten. Sie war früher selbst eine geschätzte Bühnensängerin gewesen und in ihrem gastfreien Hause hatte bisher jeder Künstler von Ruf, der nach Leipzig kam, Einkehr gehalten.
Natürlich wollte sie Aniane kapern. Die Geheimrätin wurde ganz rot. Nein, das mußte sie doch verhindern. Jetzt wollte sie allein etwas von Aniane haben, hatte sie doch all die letzten Jahre hindurch Opfer gebracht. Jeden Sonntag ein Mittagessen mit dem blassen Mädchen, das so wortkarg an ihrem Tische saß und das sich nun hier plötzlich so strahlend und sicher zeigte, als hätte sie immer eine glänzende Rolle gespielt.
Die Geheimrätin wurde wieder rot vor Aerger. Und der Prinz kam immer noch nicht.
Neue Gäste wogten in die Halle. Frau von Heimburger sah es mit Genugtuung, daß der Konsul K. mit seiner schönen Frau zum ersten Male kam. Sie mußte ihnen gleich mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit ein Willkommen bieten. Er war sehr reich und Besitzer eines großen Zeitungsunternehmens. Man konnte nicht wissen, ob man ihn nicht für die zahlreichen Wohltätigkeitssachen bald gebrauchte.
Wie die dunklen Augen der Frau Konsul strahlten und die weißen Schultern aus dem schwarzen Samtkleide herausleuchteten. Und die Brillanten um den wundervollen Hals!
Die Geheimrätin hätte die lachende, schöne stolze Frau am liebsten umarmt, aber sie begnügte sich doch mit einer wortreichen Begrüßung und einem freundschaftlichen Händedruck.
Da trat endlich der Prinz, gefolgt von Wigbert von Pflug und dem Rittmeister von Rammelsburg, in die Halle. Sofort verstummte das Gewirr von Stimmen und lautlose Stille lagerte über der Halle. –
»Meine gnädige Frau,« tönte dann die etwas scharfe Stimme des Prinzen von Büsingen durch den Saal, während seine Augen kalt prüfend über die Festgäste glitten, »ich bin glücklich, daß ich den Vorzug habe, zu Anfang meines Leipziger Aufenthaltes Gast Ihres Hauses zu sein. Und dann möchte ich Ihnen sagen, daß die heutige Vorlesung Ihres Herrn Gemahls mir ein außerordentlicher Genuß gewesen ist.«
»Durchlaucht sind sehr gütig,« quittierte die Geheimrätin freudestrahlend, während ihr Auge blitzend um sich sah, ob auch jeder gehört, was der Prinz gesagt. »Aber wollen Durchlaucht nicht die Liebenswürdigkeit haben, dort drüben bei meinen Töchtern die Blumen in Empfang zu nehmen, welche die Tischordnung bestimmen. Wir haben, um alle Etikettenfragen zu verbannen, es dieses Mal dem Zufall überlassen, die Wahl zu treffen.«
Der Prinz trat mit einer tiefen Verbeugung zurück und schritt mit seinen Begleitern den Töchtern des Hauses, die, mit großen Chrysanthemensträußen in den Händen, auf ihn zugingen, entgegen.
»Gelb, wenn ich bitten darf, mein gnädiges Fräulein,« wählte der Prinz, Maguhild v. Heimburger die Hand küssend und die gelben Blumen ihr aus den Händen nehmend, »gelb ist das Zeichen von Neid und Bosheit. Es sollen dies meine hervorragendsten Eigenschaften sein.«
Maguhild wußte nicht, was sie tun sollte. Die Mutter hatte ihr eindringlich eingeschärft, dem Prinzen eine rosa Chrysantheme zu reichen und nun kam gewiß alles durcheinander! Sie seufzte schwer und sah ratlos, wie Hilfe suchend, dem Prinzen ins Gesicht.
»Es hilft nichts, mein gnädiges Fräulein, gelb ist heute meine Farbe,« lächelte er und dann befestigte er auffällig die große gelbe Blüte auf der Brust seiner Uniform. Sein Blick schweifte dabei zu Aniane herüber, die weit ab von ihm in eifrigem Gespräche mit dem greisen Dichter Rudolf von Gottschall stand und keinen Blick für ihn hatte. Er sah, daß sie einige langstielige, gelbe Chrysanthemen in den Händen trug.
Die Geheimrätin kochte vor Wut. Was waren die Mädels doch dumm! Du lieber Gott, zu nichts waren sie zu gebrauchen. Nicht einmal die kleine Mogelei mit den Blumen, wodurch Maguhild die Tischdame des Prinzen wurde, hatten sie fertig gebracht. Da zog das dumme Ding wirklich hochbeglückt mit Herrn von Pflug davon und der Prinz, – wirklich, es war doch zum totärgern, – neigte sich vor Aniane.
»Bitte, meine Herrschaften, zu Tische,« tönte die Stimme des Geheimrats. Die gleichen Blumen lassen freie Wahl und führen zu den Tischen in gleichen Farben.«
Aniane hatte, als die hohe Gestalt des Prinzen sich vor ihr neigte, einen Moment in heißem Erschrecken in sein Antlitz gesehen, dann aber hatte sie kühl ihren Arm in den seinen gelegt.
»Ich bin glücklich, gnädiges Fräulein,« begann der Prinz langsam, Aniane am Arm, die breite Marmortreppe hinansteigend, die zu dem großen Speisesaal führte, »daß der Zufall Sie mir als Tischdame zugedacht. Da kann ich Ihnen doch sagen, wie sehr mich heute Ihr Gesang entzückt und wie glücklich ich bin, in meiner kleinen Tanzstundendame von einst eine so große Künstlerin zu finden.«
Ein Zornesblitz aus Anianens grauen Augen traf den Sprecher. Sie entgegnete nichts, sondern zuckte nur hochmütig die zarten, weißen Schultern, die sich aus dem weißen Spitzenkleide so schimmernd hervorhoben.
»Gnädiges Fräulein zürnen mir noch immer?« fragte der Prinz im Weiterschreiten und seine Stimme klang weich und schmeichelnd.
»Zürnen, Durchlaucht? Das setzt irgend welche Alterationen voraus, deren ich mich nicht erinnere.«
»Sie sind hart, mein gnädiges Fräulein, sehr hart. Sind wirklich die Tanzstundenleiden und -freuden Ihrem Gedächtnis so ganz entschwunden?«
Aniane lachte hell auf.
»Wer denkt noch an die Kindereien der Tanzstunde, Durchlaucht, ich habe sie längst vergessen.«
»Das freut mich, Fräulein von Rainer, wirklich, das freut mich. Sie nehmen dadurch eine Last von meiner Seele. Werden Sie es glauben, daß ich oft, wirklich oft an Sie gedacht habe?«
Sie waren unterdessen in den großen prächtigen Speisesaal mit den wundervollen Fresken getreten.
Anianens graue Augen hoben sich stolz und gebietend zu dem Prinzen auf.
»Ich bitte, Durchlaucht, wir wollen doch die Gepflogenheiten der Kinderstube aus Tannenrode – als etwas anderes habe ich die Tanzstunde dort nie betrachtet – hier nicht wieder auferstehen lassen. Ich schaudere im Geiste mit Ihnen, wenn ich daran denke, welch ein kleines Scheusal ich damals war und welche Opfer Sie damals brachten, indem Sie mit mir herumwalzten.«
Sie hatte es ohne jede Bitterkeit, mit freiem, ungekünsteltem Gleichmut gesagt. Prinz Dolf Dietram sah sie mit unverhohlener Bewunderung an. Donnerwetter, hatte sich die kleine Aniane entwickelt. Freilich, unbequem war sie noch immer, das spürte der Prinz, genau so wie damals, als er glaubte, sie zum Spielball seiner Launen machen zu können.
»Bitte hierher, Durchlaucht. Darf ich bitten, Fräulein Rainer.«
Der Hausherr deutete auf einen kleinen, mit herrlichen, gelben Chrysanthemen geschmückten Tisch, zu dem sich auch soeben die kleine Maja von Heimburger mit dem Rittmeister von Rammelsburg gesellte. Das dritte Paar bildete zu Anianens grenzenlosem Erstaunen und freudigster Ueberraschung Rahel von Wolfhardt mit ihrem Tischherrn, Grafen Zichy, einem kleinen schmächtigen Mann mit großen feurigen Augen, den Aniane schon lange als großen Musikenthusiasten kannte.
Rahel streckte Aniane freudig die Hände entgegen. »Wie schön hast du gesungen,« sagte sie warm und herzlich, »und wie gern hätte ich es dir schon früher gesagt, aber du warst so umringt, daß ich nicht zu dir gelangen konnte. Sieh da, Herr von Rammelsburg, wie nett, daß wir uns mal wieder sehen.«
Sie reichte dem Rittmeister die Hand, ohne von der leichten Verbeugung des Prinzen Notiz zu nehmen, der mit finster zusammengekniffenen Augen auf das schöne Mädchen blickte, die so kalt und hochmütig über ihn hinwegsah. Prinz Dolf Dietram war wütend. Das hatte man nun von der albernen Blumenwahl. Jetzt konnte man mit dieser Person, dieser Wolfhardt, hier an einem Tische sitzen. Ein Glück, daß der Rittmeister da war! Der mußte ihm zur Not helfen. – Wie schlau die Geheimrätin doch war! Wie sie es wohl angestellt hatte, daß wenigstens eine ihrer Töchter an die gelben Blumen geraten war! Er wandte sich liebenswürdig zu der kleinen Maja, die hocherrötend bei seiner Anrede im tiefsten Knix in sich zusammensank.
»So ein albernes Ding,« dachte Frau Geheimrat Heimburger, »sich so zu haben! Wie oft habe ich nicht schon dem Balg gepredigt, ein Prinz sei eben nur ein Prinz, nichts weiter. Alle müssen ja glauben, wir ersterben vor Ehrfurcht, da ein Prinz unser Haus besucht. Na, alle sehen ja an der Tischordnung, daß wir keine Umstände mit dem jungen Manne, der zufällig ein Prinz und Hörer meines Mannes ist, machen.«
Hochbefriedigt rauschte sie weiter, hier und da mit einer großartigen Handbewegung Kunde gebend, daß sie einen ihr besonders lieben Gast ehren und beglücken wollte.
Es ging sehr lebhaft zu an all den kleinen, mit Chrysanthemen geschmückten Tischen, auf denen kostbares Kristall und Silber funkelte. Strahlend ergoß sich aus großen gleichfarbigen Blumen elektrisches Licht über den festlichen Raum und brach sich flimmernd in den blinkenden Geräten der kleinen Tische, die einen ganz unsagbar intimen Reiz für alle diejenigen hatten, die sich passend an einem solchen Tische zusammenfanden. Aber nur wenige waren das. Die Geheimrätin hatte glücklich durch das Blumenorakel einen jungen Konservatoristen; aber es war ihr durch einen kleinen Trick gelungen, den Musikjüngling abzuwimmeln und ohne Umstände einen bekannten Bildhauer beim Arme zu nehmen, der noch keine Dame hatte. Der Musikknabe konnte sehen, wo er blieb.
Frau Margarete schwur hoch und heilig, nachdem sie das Resultat ihrer Blumenwahl überschaute, niemals wieder das Schicksal walten zu lassen. Das war ja kaum anzusehen und kam davon, daß sie die leidige Etikettenfrage umgehen wollte. Und was hatte sie nun erreicht? Der Prinz, um den es sich in erster Linie handelte, saß bei Aniane und schnitt ihr die Cour – jawohl auf Mord die Cour – wie sie mit zürnenden Augen gewahrte, und ihre Maja saß dabei, stumpfsinnig und verdrossen wie immer, und redete kein Wort mit dem Rittmeister, der sich umsonst bemühte, sie in ein Gespräch zu ziehen.
Und daß Rahel von Wolfhardt dahin geraten war, die sie erst gar nicht hatte einladen wollen! Ihr Mann hatte aber darauf bestanden! Er behauptete, sie sei die begabteste weibliche Person, die ihm je begegnet und die einzige Studentin, die er für berechtigt halte, es den Männern gleichzutun. Na, ihr Mann hatte ja oft komische Ansichten und in diese junge Hörerin war er geradezu vernarrt.
Die Geheimrätin sah wieder voller Besorgnis nach dem prinzlichen Tische hinüber. Maja saß noch immer stumm. An dem nächsten Tische aber vergnügte sich ihre Maguhild und hatte so rosa Wangen wie ihr Tüllkleid und die Augen lachten ganz hell. Das wunderte die Geheimrätin nicht wenig. Wenn das Kind nur einen besseren Tischherrn gehabt hätte! Herr von Pflug – na, das kannte man ja! So 'ne Art Prügelknabe von dem Prinzen. Er wollte jetzt in Leipzig sein Doktorexamen machen und es ging die Sage, daß er ein Buch schrieb. So'n Federfuchser, – und wie froh der Kerl lachte! Geradeso, als hätte er Maguhild und ihre Millionen schon in der Tasche. Der Geheimrätin wurde es höchst ungemütlich und der Bildhauer, der nur einem Zufalle das Glück ihrer Tischnachbarschaft dankte, genoß von diesem Triumphe wenig, denn sie vergaß ihn völlig über all ihren Erwägungen und Beobachtungen.
Ueber der kleinen Gesellschaft an dem Tische mit den gelben Chrysanthemen aber lag es wie ein Hauch glühender, nur mühsam zurückgehaltener Leidenschaften. Man sprach lebhaft über Musik und Tannenrode, – leichte, nichtssagende Worte, und doch schossen sie oft wie Pfeile herüber und hinüber.
Maja von Heimburger verstand davon keine Silbe. Sie fand die Gesellschaft des Prinzen bodenlos langweilig. Es wurmte sie nicht wenig, daß sie nicht dort drüben, bei den Offizieren, ihren Platz hatte, die ihr lebhaft zutranken.
Graf Zichys glühende Wangen hingen in leidenschaftlichem Verlangen an Anianens Lippen. Er war voller Enthusiasmus über ihren Gesang und mehr als einmal richtete sich der Blick des Prinzen unwillig auf den kleinen Mann mit der schwarzen Künstlermähne, wenn er seiner Begeisterung für Aniane so überschwengliche Worte verlieh. Was fiel denn diesem Slowaken ein? Sah er denn nicht, daß Aniane kein Feld für seine Huldigungen bot? Es war ja überhaupt eine Unverschämtheit von diesem ungarischen Grafen, ihm ins Gehege kommen zu wollen.
»Und gnädiges Fräulein haben nie Verlangen gehabt, Tannenrode wiederzusehen?« hörte er jetzt die Stimme des Rittmeisters an der andern Seite der jungen Sängerin leise fragen.
»Nein, Herr von Rammelsburg,« gab sie mit seltsam ernstem, zitterndem Klange in der Stimme zurück. »Ich hatte immer Furcht vor der grauen Gasse meiner Heimat. Es ist gewiß feige, aber ich konnte nicht anders.«
»Und Sie werden auch nicht gern wieder nach Tannenrode zurückkehren, gnädiges Fräulein?« mischte sich der Prinz ins Gespräch. »Reizt es Sie denn nicht, unser altes Schloß wiederzusehen, um –« er beugte sich plötzlich ganz nahe zu ihrem Ohre und flüsterte ihr heiß und leidenschaftlich zu: »es vielleicht als Herrin zu betreten?«
Anianens Augen flammten zornig auf. War das die erste Errungenschaft ihrer Künstlerlaufbahn, daß man sie gewissermaßen als vogelfrei ansah? Wie hätte sonst der Prinz wagen können, so zu ihr zu sprechen?
»Durchlaucht besitzen eine sehr rege Phantasie,« entgegnete sie mit feinem Spottlächeln um die roten Lippen. »Ich kann da absolut nicht folgen, denn mein Gedankenflug reicht nicht so weit, mich als Herrin von Tannenrode zu denken. Mein Ziel und meine Wünsche führen mich eine ganz andere Bahn.«
Sie hatte es ganz ruhig und leidenschaftslos, aber auch laut genug und deutlich gesagt, daß jeder an der Tafel die Worte verstanden hatte. Der Prinz sah, eine brennende Röte auf dem Antlitz, beinahe fassungslos auf seinen Teller. Das war wirklich noch das kleine, rücksichtslose Scheusal von einst, das unbeirrt um alle Gebote der Etikette darauflossündigte. Die Augen des Grafen Zichy leuchteten teuflisch auf. Der Rittmeister biß sich auf die Lippen und Maja von Heimburger riß verwundert ihre großen hellblauen Augen auf. Nur Rahel von Wolfhardt, die in ihrem seegrünen Tüllkleide und den roten Haaren einer Undine ähnlich sah, lachte leise auf und rief heiter zu Aniane herüber:
»Bravo, Aniane, daß selbst eine so glänzende Aussicht dich nicht in das alte Räubernest Tannenrode locken kann. Es ist ein gefährliches Pflaster, unsere kleine Stadt, nicht wahr, Durchlaucht?«
Ihre braunen Augen bohrten sich fest, fast drohend in die des Prinzen, der langsam den Blick von seinem Teller hob und mit zusammengekniffenen Augen zu ihr herübersprach:
»Was wollen Sie mit dem Räubernest sagen, mein gnädiges Fräulein? Ich bitte Sie, unser harmloses Städtchen!«
Ein Blick des Rittmeisters ließ ihn verstummen. »Reize sie nicht!« las er warnend in des Freundes Augen.
Rahel warf den rotschimmernden Kopf stolz in den Nacken. »Ich habe Tannenrode so getauft, seitdem ein Raubvogel dort sein Nest gebaut. Ich hielt ihn erst für einen Adler. Ich habe mich getäuscht. Es war ein Habicht, ein ganz gemeiner Habicht, der die kleine weiße Taube achtlos zerpflückte und nun in gemeiner Gier weiter Ausschau hält, ob nicht eine andere weiße Taube zaghaft in sein Nest flattert.«
»Mein Fräulein,« rief der Prinz, bleich bis in die Lippen, sich brüsk erhebend. Es war, als wolle ihn alle Ruhe und Selbstbeherrschung verlassen. – Grade hob aber auch glücklicherweise die Hausfrau die Tafel auf und die junge Welt drängte sich in den Ballsaal zum Tanze.
»Was wollen Sie, Prinz,« lachte Rahel nervös. »Ein Märchen wie das, was Sie Fräulein von Rainer auftischten. Soll ich Ihnen die Fortsetzung erzählen, oder können Sie mir selbst den Schluß berichten?«
»Schweigen Sie, um Gottes Willen, schweigen Sie,« flüsterte der Rittmeister Rahel zu. »Sehen Sie denn nicht, daß der Prinz alle Selbstbeherrschung verliert?«
Rahel zuckte die Achseln, als wollte sie sagen, »was kümmert's mich,« dann aber legte sie ihren Arm in den des Grafen Zichy und lachte leise auf. »Kommen Sie, Graf, zur Polonaise. Den Rundtanz schenke ich Ihnen. Ich weiß, daß Sie andere Dinge reizen als ein Walzer, der für mich immer ein Traum ist; ein entzückender Traum.«
Sie sah mit heißem Blicke zu dem Rittmeister auf, der sich soeben anschickte, Maja in den Tanzsaal zu führen. Aber er hatte keinen Blick für die rothaarige Studentin, deren Fuß jetzt ungeduldig den Boden trat.
Aniane stand mit blassen Lippen an des Prinzen Seite. Was war das gewesen? Hatte die Tante doch recht? Hatte auch Rahel den Prinzen im Verdacht, daß er teil hatte an dem Verschwinden der jungen Schwester und wollte Rahel sie warnen? Selbstbewußt hob Aniane den blonden Kopf. O, sie war gefeit gegen den Zauber, den der Prinz auf alle, die in seine Nähe kamen, ausübte. Sie brauchte nur an die Jugendtage zu denken, wo er sie so bitter, so grenzenlos gekränkt. Und plötzlich war ihr doch, als schwirrten dazwischen Geigenklänge auf, süße, halbverwehte, längst verklungene Töne und sie ruhte an seiner Brust mit geschlossenen Augen und tanzte mit ihm durch den Saal. Aniane bebte erschauernd zusammen, als des Prinzen Stimme so weich und bittend an ihr Ohr klang, während er ihren Arm durch den seinen zog und sie aus dem Speisesaale führte.
»Hat Sie das Märchen erschreckt, das die rothaarige Rahel von dem Räubernest da vortrug? Glauben Sie daran, Aniane?«
Sie sah fast scheu zu ihm auf.
»Sehen Sie mich an, Aniane, nur ein einziges Mal.« Er sagte es heiß und beschwörend und sein Blick senkte sich tief in ihre großen grauen Augensterne. »Glauben Sie an das Märchen, Aniane?«
»Nein, Durchlaucht. Ich glaube, daß ein Adler im Horste wohnt und daß seine Schwingen stark genug sind, den höchsten Flug zu tun. Nicht den Staub der Straße wird der König der Lüfte mit seinen Flügeln streifen, sondern er wird sich hoch emporschwingen in den blauen Aether, der Sonne entgegen.«
»Ich danke Ihnen, Aniane,« sagte der Prinz warm, ihre Hand an seine Lippen führend. »Ich danke Ihnen, daß Sie, der ich doch so bitter weh getan, an mich glauben.«
Und wieder tanzte Aniane, wie in ihren Frühlingstagen, mit dem Prinzen die Polonaise und den sich daran anschließenden Walzer. Und wieder fühlte sie sich wie von Wolken getragen durch märchenhafte Weiten hin in das Land des Glückes gleiten. Hoch aufatmend stand sie einen Augenblick, nachdem der Tanz geendet, hinter einer Säule des Ballsaales, als Rahel zu ihr trat.
»Laß dich warnen, Aniane. Er umstrickt dich, wie er Zilla umgarnt hat. Er hat kein Herz!«
»Rahel,« bat Aniane, »komm doch zu dir. Deine Sorge um Zilla – ich habe von eurem Unglück gehört – macht dich ungerecht. Du wirst doch im Ernst nicht glauben, daß der Prinz an Zillas Verschwinden beteiligt ist? Ich bitte dich, das ist ja ganz undenkbar! Er kann sie doch nicht versteckt halten!«
»Nein,« lachte Rahel hart auf, »das glaube ich auch nicht. Aber in den Tod hat er das arme Kind gehetzt, das ihn lieb hatte, in den Tod, und das soll er mir büßen.«
»Rahel, mäßige dich doch,« bat Aniane eindringlich. »Wie kannst du nur ohne Beweise solch haltlose Anschuldigungen aussprechen.«
»Beweise?« Rahel zuckte höhnisch die weißen Schultern. »Sieh ihn dir jetzt an, ich werde ihn nach Zilla fragen. Wer weiß, ob mir jemals wieder Gelegenheit gegeben wird, ihn so nahe zu haben, wie gerade heute.«
Und ohne eine Entgegnung Anianens abzuwarten, wand sich Rahels weiche, geschmeidige Gestalt durch die Menge, der Stelle zu, wo Prinz Dolf Dietram soeben ein Gespräch mit der Frau des Hauses beendete. Aniane sah, wie Rahel einige Worte zu dem Prinzen sprach und wie er tief erblaßte. Sie sah aber auch die Zornesröte, die seine Stirn schwellte, und sie sah die gebietende Handbewegung, mit der er Rahel abwies. Seine Worte konnte Aniane natürlich nicht verstehen. Aber ihr Herz jubelte. Nein, so sah kein schuldbeladenes Gewissen aus. Rahel war krank, überreizt, die Sorge um Zilla hatte ihr den Sinn verwirrt. Wie stolz und vornehm, wie unnahbar der Prinz dastand! Jetzt wandte er sich mit einer tiefen Verbeugung Maguhild von Heimburger zu, um bald darauf im Tanze mit ihr durch den Saal zu fliegen. Aniane sah noch, wie ihr Vetter, Hans von Buttler, Maja im Reigen schwang, dann wurde sie von Rittmeister von Rammelsburg in Anspruch genommen, der, sich tief vor ihr verneigend, hastig fragte:
»Wollen Sie mir diesen Tanz schenken, gnädiges Fräulein?«
Sie neigte lächelnd den Kopf.
»Gern, Herr von Rammelsburg.«
»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein von Rainer, so verplaudern wir lieber den Tanz dort drüben im Wintergarten?«
Aniane sah ihn forschend an.
»Sie haben mir etwas Besonderes zu sagen, Herr Rittmeister?«
Er senkte ernst seinen dunklen Kopf und sah ihr warm ins Auge, als sie jetzt in den einsamen Wintergarten traten.
»Zuerst,« sagte er, herzlich Anianens beide Hände ergreifend, »lassen Sie mich Ihnen aussprechen, wie glücklich ich bin, daß ich Sie heute hören durfte, hören und sehen, daß Sie, ein scheuer, einsamer Vogel im Nest, hier heute so schimmernd Ihr Goldgefieder gezeigt, das ich schon vor Jahren in Tannenrode geahnt.«
Ein schmerzliches Zucken umflog Anianens Mund und erinnerte an das weinerlich verzogene Kindermündchen, das ihn einst so entzückt.
»Wollen Sie wieder Ihr Mitleid betätigen, wie einst in der Tanzstunde, Herr Rittmeister?« fragte Aniane nicht ohne Bitterkeit. »Ihre Freundlichkeit erinnert mich an eine der entsetzlichsten Stunden meines Lebens.«
»Daran sollen Sie auch denken, jetzt und zu jeder Stunde! Nie sollen Sie die Stunde, die Hochmut und grenzenloser Egoismus Ihnen bereitete, vergessen und immer soll sie Ihnen gegenwärtig sein, wenn süßes Schmeichelgift Ihr Ohr betört, wenn Sie glauben und wünschen, daß diese Stunde nie gewesen!«
Befremdet sah Aniane in des Rittmeisters Gesicht, das, von tiefer Glut übergossen, sich so ernst und zwingend zu ihr niederbeugte.
»Ich verstehe Sie wirklich nicht, Herr von Rammelsburg,« entgegnete sie voll stolzer Abwehr, den blonden Kopf hebend.
»Ich kann und darf nicht deutlicher sein, gnädiges Fräulein, aber, als Sie noch ein halbes Kind waren, da sagte ich Ihnen, daß Sie keinen treueren Freund hätten als mich. Wenn nun ein Freund den andern in einer großen Gefahr sieht, von der er ihn erretten möchte, so bangt und zittert er, wenn er seine Ohnmacht bekennt, zu retten und zu helfen. In einer solchen Lage bin ich, mein gnädiges Fräulein, und ich flehe Sie an, vergessen Sie die Tanzstunde in Tannenrode nicht und das Weh, das Sie dort durchkostet, dann sind Sie gefeit.«
Aniane lächelte und reichte dem Rittmeister warm die Hand.
»Sie sehen Gespenster, die gar nicht vorhanden sind, Herr von Rammelsburg. Aber das Versprechen kann ich Ihnen geben, immer an die Tanzstunde zu denken. Sie steht mit Flammenschrift in meinem Herzen.«
»So will ich ruhig Ihrer Zukunft vertrauen. Haben Sie schon bestimmte Pläne gefaßt oder hat der heutige grandiose Erfolg wieder alles umgeworfen?«
»Ich denke noch kurze Zeit hier zu bleiben, um bei meinem alten Lehrer weiter zu studieren. Verschiedene kleine Konzertreisen werden wohl die einzigen Unterbrechungen bilden, bis ich wahrscheinlich zum Herbst irgend ein festes Engagement annehme.«
»Sie wollen zur Bühne?« fragte Rammelsburg entsetzt.
»Ja, aber natürlich! Meine ganze Begabung weist darauf hin. Ich selbst kann mir nichts Schöneres denken, als die herrlichen Frauengestalten aus der Bühne zu verkörpern, die uns unsere großen Meister geschaffen. Doch bis dahin ist es ja noch weit! Ich bin ja schon glücklich, mich heute behauptet zu haben. Aber lassen wir mich und meine Kunst! Erzählen Sie mir lieber, wie es Ihnen ergangen ist, Herr Rittmeister. Ich glaube, gehört zu haben, daß Sie aus dem persönlichen Dienste des Prinzen ausgeschieden sind?«
»Ja, auf meinen ausdrücklichen Wunsch. Ich war bis vor ganz kurzer Zeit am Hofe zu Büsingen Flügeladjutant, bis mich der Befehl meines hohen Gebieters zwang, mit dem Prinzen nach Leipzig zu gehen, um Dolf Dietram, der hier ein Semester seinen Studien obliegen will, nahe zu sein. Ich hätte niemals den Prinzen Dolf Dietram in Tannenrode allein lassen dürfen. Der Kammerherr von Türkheim, der ihm zugestellt wurde, und der wohl wenig die prinzlichen Gepflogenheiten und Eigenheiten des jungen Fürsten kannte, scheint einen wenig heilsamen Einfluß auf den Jüngling ausgeübt zu haben, den zu bannen ich mir jetzt Mühe gebe.« Er brach erschreckt ab, als hätte er schon zuviel gesagt.
»Und Zilla von Wolfhardt?« fragte Aniane stockend. »Wissen Sie auch etwas von ihr?«
Der Rittmeister zuckte die Achseln. »Es ist eine fixe Idee der schönen Rahel, daß der Prinz an dem Verschwinden ihrer Schwester beteiligt ist. Diese Idee geht so weit, daß sie in einer Audienz bei dem Fürsten Dolf Dietram anklagte. Der Fürst war natürlich empört und nahm den Prinzen scharf ins Gebet. Dolf Dietram erklärte, nichts von Zilla zu wissen. Ebenso sind alle behördlichen und privaten Nachforschungen umsonst gewesen. Man nimmt an, daß das junge Mädchen entweder selbst Hand an sich gelegt hat oder irgendwo verunglückt ist.«
Aniane schauderte. »Die Arme,« sagte sie teilnahmsvoll. »Sie war so jung, so hübsch und lebensfroh.«
»Sie liebte den Prinzen, das ist wenigstens erwiesen,« kam es stockend von den Lippen des Rittmeisters, gleichsam, als wollte Rammelsburg nachdrücklich diese Tatsache feststellen.
Aniane sah fragend zu ihm auf.
»Mädchen, die das Unglück haben, sich in einen Prinzen zu verlieben,« ergänzte er, »werden stets ein dunkles Schicksal haben, von dem sie nichts, nichts erretten kann.«
Die junge Sängerin lächelte fein. Er wollte sie also warnen, der alte Freund. Er fürchtete, daß auch sie nicht frei sei von der Eitelkeit, die das Herz weitet, wenn ein fürstlicher Verehrer naht. Wie gering bewertete er sie doch. Nein, Prinz Dolf Dietram würde ihr nie gefährlich werden, sie trug andere Wünsche in der Brust, und sie besaß in der Vergangenheit, wie der Rittmeister ja selbst zugab, eine sichere Schutzwehr gegen jede Verirrung des Herzens.
»Ei, meine Gnädigste,« tönte da plötzlich die etwas erregte Stimme des Grafen Zichy durch das Gewirr von Palmen und Rankengewächsen zu ihr herüber. »Da finde ich Sie endlich! Ihre Frau Tante hat mich beauftragt, Sie ihr zuzuführen. Sie denkt an den Aufbruch. Ich selbst habe aber heute nicht den Vorzug gehabt, mit Ihnen zu tanzen.«
»Ich enthebe Sie gern dieser Pflicht, Herr Graf,« gab Aniane kühl zurück. »Es ist die höchste Zeit, daß ich mich zurückziehe, wenn ich morgen für meine Proben frisch sein will. Herr von Rammelsburg, wollen Sie mich zu meiner Tante führen?«
Sie nahm des Rittmeisters Arm, der den Grafen durch eine stumme Verbeugung grüßte, dann schritt sie, Graf Zichy flüchtig zunickend, mit Rammelsburg an ihm vorüber.
»Was ist das für ein widerlicher Kerl?« kritisierte der Rittmeister, unwillkürlich Anianens Arm an sich ziehend.
»Er gilt in musikalischen Kreisen für ein Licht. Er soll sehr begütert sein. Ich habe immer das Gefühl, als nahe sich mir ein Vampyr, und doch sehe ich ihn oft,« schloß sie seufzend, »zu oft.«
Graf Zichy aber sah dem davonschreitenden Paare mit glühenden Augen nach und seine kleine magere Gestalt reckte sich zürnend auf. Fast war es, als balle er drohend die gelbe Hand, dann aber flog ein Lächeln um seine schmalen, von einem spärlichen schwarzen Schnurrbart beschatteten Lippen und er flüsterte, seine Faust krampfhaft auf die schmale Brust gepreßt: »Sie wird doch mein, die stolze Spröde. Niemand soll sie mir entreißen, niemand.«
Vor Aniane aber neigte sich unten in der Halle Prinz Dolf Dietram so tief, als grüße er eine Königin, und seine Stimme hatte einen heißen leidenschaftlichen Flüsterton, als er, tief Atem holend, sich verabschiedend sagte: »Ich hoffe, daß ich in Leipzig oft das Glück haben werde, Sie, mein gnädiges Fräulein, zu sehen und dem süßen Zauberklange Ihrer Stimme zu lauschen.«
»Was wollte der Prinz von dir?« fragte Tante Malchen, als sie mit ihrem Manne und Aniane im Wagen saß – die Geheimrätin hatte es sich nicht nehmen lassen, Aniane und die lieben Gäste aus Tannenrode in ihrem eigenen Wagen nach Hause fahren zu lassen – »ich verstand kein Wort davon.«
Aniane lächelte vor sich hin. Die gute Tante! Nein, sie verstand wohl wenig von der ganzen Welt hier draußen, und plötzlich überkam es Aniane wie heiße, brennende Sehnsucht nach Tannenrode, nach der alten langen dunklen Gasse mit den grauen Häusern, und sie nahm die kleine dicke Hand der Tante und preßte sie an ihre von Tränen schimmernden Augen.
»Nanu, ich glaube, du weinst gar, Mädel,« tadelte Tante Malchen. »Nach einem solchen Abend weinen! Stolz kannst du sein, sehr stolz. Und das Beste weißt du noch gar nicht! Fürstin Elinor will dich sehen! Morgen vormittag zwölf Uhr erwartet sie dich im Hotel Hauffe, wo Ihre Durchlaucht Wohnung genommen hat. Sie reist schon morgen wieder ab. Sie ist ganz entzückt von deiner Stimme. Sie ließ den Onkel und mich vorhin in der Pause in ihre Loge bitten. Ich sage dir, es war großartig, wie liebenswürdig und verbindlich sie war – ich bin nur froh, daß es die Geheimrätin gesehen hat. Nun weiß sie doch, was wir eigentlich für Leute sind, und dir wird es zugute kommen! Meinst du nicht auch, Alter?«
Der Major aber gab in seiner Wagenecke nur einen grunzenden Ton von sich. Er schlief nach den ungewohnten Anstrengungen des Tages, trotz der aufregenden Fürstengunst, die Tante Malchen so einnahm, und allem Ruhm der kleinen Aniane den Schlaf der Gerechten. »Empörend« fand das Tante Malchen.
Aniane aber lächelte liebreich über den Schläfer hin und es war ihr plötzlich, als möchte auch sie schlafen, tief und schwer, um nie wieder zu erwachen. Und doch war heute ein so strahlender Glückstag für sie, wo alle Sterne für sie flammten.