Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Ja, das ist ihr Boot, entschied Lily, die droben am Rande des Rasens stand. Es war das Boot mit den bräunlichgrauen Segeln; jetzt sah sie, wie es sich streckte im Wasser und quer über die Bucht davonschoß. Da sitzt er, dachte sie, und die Kinder sagen kein Sterbenswort. Und sie konnte ihn auch nicht erreichen. Das Mitgefühl, das sie ihm nicht geschenkt hatte, drückte sie nieder mit seinem Gewicht. Es machte ihr das Malen schwer.

Sie hatte ihn überhaupt immer schwierig gefunden. So war sie, fiel ihr ein, nie imstande gewesen, ihn ins Gesicht zu loben. Dadurch bekam ihr Verhältnis zu ihm etwas Sachliches, dem der Schuß Erotik fehlte, der ihn in seinem Benehmen Minta gegenüber so ritterlich, fast fröhlich machte. Er pflückte eine Blume für sie, er lieh ihr seine Bücher. Aber ob er wirklich glaubte, daß Minta sie las? Sie schleppte sie überall im Garten herum und legte Blätter als Lesezeichen hinein.

»Entsinnen Sie sich noch, Mr. Carmichael?« hätte sie am liebsten gefragt, als ihr Blick auf den alten Mann fiel. Der aber hatte den Hut tief in die Stirn gezogen; er schlief wohl, oder er träumte, oder er lag da und haschte nach Wörtern.

»Entsinnen Sie sich noch?« hätte sie am liebsten gefragt, als sie an ihm vorüberging, denn wieder mußte sie an Mrs. Ramsay und die Szene am Ufer denken; an das auf und nieder tanzende Faß, an die fliegenden Briefblätter. Warum hatte dieses Bild all die Jahre überlebt, fest umrissen, hell beleuchtet, sichtbar bis in die letzte Einzelheit, wo doch alles vor ihm und alles hinter ihm leer war, Meilen und aber Meilen weit?

»Ist das ein Boot? Oder ist es ein Kork?« würde sie fragen; ja, das würde sie, dachte Lily und wandte sich widerstrebend ihrer Leinwand wieder zu. Der Himmel sei gepriesen: das Problem des Raumes blieb, dachte sie und griff wieder zum Pinsel. Es starrte ihr entgegen. Der Hauptteil des Bildes mußte damit in Einklang gebracht werden. Schön und licht sollte es auf der Oberfläche sein, federleicht und fließend; die Farben sollten ineinander verschmelzen wie die Farben auf einem Schmetterlingsflügel; aber darunter mußte die Struktur verklammert sein wie mit eisernen Bolzen. Es mußte etwas sein, was ein Hauch wegblasen, und zugleich etwas, was ein Pferdegespann nicht von der Stelle rücken könnte. Und sie begann hier ein Rot, dort ein Grau aufzulegen, und sie begann sich in den Hohlraum da einen Weg zu bauen. Gleichzeitig aber war ihr, als säße sie mit Mrs. Ramsay am Strand.

»Ist das ein Boot? Oder ist es eine Tonne?« fragte Mrs. Ramsay. Und sie suchte eifrig nach ihrer Brille. Nachdem sie sie gefunden hatte, saß sie stumm da und sah aufs Meer hinaus. Und während Lily unablässig malte, war ihr zumute, als hätte eine Tür sich aufgetan und man ginge hinein und stünde schweigend und blickte sich in einem hohen Raum um, dem Inneren eines Domes gleich, sehr dunkel, sehr feierlich. Rufe drangen herüber aus einer fernen, ganz fernen Welt. Dampfer schwanden am Horizont zu Rauchstengeln dahin. Charles warf Steine und ließ sie übers Wasser hüpfen.

Mrs. Ramsay saß stumm. Sie war glücklich, dachte Lily, einmal schweigend zu ruhen, ohne sich mitteilen zu müssen; in der dunklen Verborgenheit menschlicher Beziehungen zu ruhen. Wer weiß, was wir sind, was wir fühlen? Wer weiß selbst im Augenblicke tiefster Vertrautheit: Dies ist Wissen? Wird nicht, so hätte Mrs. Ramsay vielleicht gefragt (es kam Lily vor, als hätte sie oft stumm so an ihrer Seite gesessen), etwas dadurch zerstört, daß man die Dinge ausspricht? Ist unser Schweigen nicht viel ausdrucksvoller? Der Augenblick wenigstens schien ungemein fruchtbar. Sie bohrte ein kleines Loch in den Sand und füllte es, indem sie die Vollkommenheit des Augenblicks darin barg. Es war wie ein Silbertropfen, in den man den Pinsel tauchte, um das Dunkel der Vergangenheit aufzuhellen.

Lily trat zurück, um für ihre Leinwand die rechte Perspektive zu gewinnen – ja, so. Es war schon ein merkwürdiger Weg, den man beim Malen gehen mußte. Da wanderte man hinaus, ganz hinaus, weiter und weiter, bis man schließlich ganz einsam auf einer schmalen Planke über dem Meer zu stehen schien. Und als sie den Pinsel in das Blau tauchte, tauchte sie zugleich auch ein in die Vergangenheit. Jetzt stand Mrs. Ramsay auf, entsann sie sich. Es war Zeit, nach Hause zu gehen – Zeit zum Lunch. Alle gingen sie vom Strand zum Haus hinauf, sie mit William Bankes am Schluß, und Minta mit einem Loch im Strumpf vor ihnen. Wie doch das kleine runde rosige Hackenloch vor ihnen zu prahlen schien. Wie William Bankes es beklagte, wenn er auch, soweit sie sich entsann, kein Wort darüber sagte. Ihm bedeutete es die Zerstörung der Weiblichkeit und Schmutz und Unordnung, Dienstboten, die kündigten, und Betten, die mittags noch nicht gemacht waren – kurz, alles, was er zutiefst verabscheute. Er hatte eine Art zu schaudern und die Finger auszuspreizen, als wollte er einen unerfreulichen Anblick verdecken, was er auch jetzt tat – er hielt die Hand vor sich. Und Minta ging weiter voraus, und vermutlich traf sie sich mit Paul und verschwand mit ihm im Garten.

Die Rayleys, dachte Lily Briscoe und drückte grüne Farbe aus der Tube. Sie faßte ihre Eindrücke von den Rayleys zusammen. Das Leben der beiden erstand vor ihr als eine Szenenfolge; eine im Treppenhaus, in der Morgendämmerung: Paul war heimgekommen und früh zu Bett gegangen; Minta hatte sich verspätet. Da kam Minta dann ungefähr um drei Uhr morgens über die Treppe, geputzt, geschminkt, auffallend. Paul erschien im Schlafanzug und hatte einen Schürhaken in der Hand, für den Fall, daß es Einbrecher wären. Minta stand in halber Höhe der Treppe am Fenster, im leichenhaften Frühmorgenlicht, und aß ein Sandwich, und im Treppenläufer war ein Loch. Und was sagten sie? fragte sich Lily, als könnte sie sie nicht nur beobachten, sondern auch belauschen. Heftige Worte. Minta aß gelangweilt ihr Sandwich weiter, während er redete. Er sprach empörte, eifersüchtige Worte, beschimpfte sie halblaut, damit die Kinder, die beiden kleinen Jungen, nicht aufwachten. Er war ausgemergelt und erschöpft, sie üppig und unbekümmert. Denn etwa nach einem Jahr hatte es nicht mehr so recht geklappt, die Ehe hatte sich als einigermaßen schlecht erwiesen.

Und das, dachte Lily und nahm das Grün auf den Pinsel, dieses Zusammensetzen von Szenen aus dem Leben anderer, das nennen wir sie ›kennen‹, an sie ›denken‹, sie ›gern haben‹! Nicht ein Wort davon war wahr; sie hatte es erfunden; aber auf diese Weise kannte sie sie eben. Und sie grub sich weiter einen Weg in ihr Bild, in die Vergangenheit.

Ein andermal hatte Paul gesagt, er ›spiele Schach in Kaffeehäusern‹. Auch auf dieser Äußerung hatte sie ein ganzes Phantasiegebäude errichtet. Das war so gewesen: Er rief das Mädchen an, und das Mädchen sagte: »Mrs. Rayley ist ausgegangen, Sir«, und da beschloß er, ebenfalls nicht heimzukommen. Sie sah ihn sitzen in der Ecke eines ungemütlichen Lokals, wo der Rauch am roten Plüschbezug haftet und die Kellnerinnen jeden Gast kennen und Schach spielen mit einem kleinen Mann, von dem Paul nichts weiter wußte, als daß er im Teehandel war und in Surbiton wohnte. Und dann war Minta nicht zu Hause, wenn er heimkam, und dann hatten sie die Auseinandersetzung auf der Treppe, wo er den Schürhaken nahm, falls es Einbrecher wären (aber jedenfalls auch, um ihr Schrecken einzujagen), und so bittere Worte sprach und sagte, sie hätte sein Leben zugrunde gerichtet. Fest stand jedenfalls, als sie sie damals in dem Landhaus in Rickmansworth besuchte, herrschte eine schreckliche Spannung zwischen beiden. Paul nahm sie mit in den Garten, um ihr die belgischen Kaninchen zu zeigen, die er züchtete, und Minta folgte ihnen trällernd und legte ihm den nackten Arm um die Schulter, nur damit er ihr nichts erzählen konnte.

Minta fand Kaninchen langweilig, dachte Lily. Aber Minta verriet sich niemals. Von ihr hörte man nie etwas vom Schachspielen im Kaffeehaus. Sie war viel zu selbstbewußt, viel zu sehr auf der Hut. Aber um mit der Geschichte vom Fleck zu kommen – sie hatten jetzt wohl die Gefahrenzone überwunden. Als sie letzten Sommer eine Zeitlang bei ihnen gewesen war und sie eine Panne mit dem Wagen hatten, mußte Minta ihm die Werkzeuge reichen. Er saß auf der Straße und reparierte den Wagen, und die Art, wie sie ihm die Werkzeuge reichte – sachlich, kameradschaftlich, freundlich –, bewies, daß nun alles in Ordnung war. Sie waren nicht mehr ineinander ›verliebt‹; im Gegenteil, er hatte ein Verhältnis mit einer anderen angefangen, mit einer ernsthaften Frau, die ihr Haar in Flechten trug und eine Aktentasche in der Hand (Mintas Schilderung von ihr klang dankbar, beinahe bewundernd), die Versammlungen besuchte und Pauls (von Jahr zu Jahr schärfer betonte) Ansichten über die Besteuerung des Grundbesitzes und eine Kapitalsteuer teilte. Dieser Bund hatte die Ehe nicht nur nicht zerrissen – er hatte sie sogar geflickt. Sie waren offenbar die besten Freunde, als er auf der Straße saß und sie ihm die Werkzeuge reichte.

Ja, das war also die Geschichte von den Rayleys, dachte Lily lächelnd. Sie malte sich aus, wie sie sie Mrs. Ramsay erzählte, die doch gewiß neugierig sein würde, was aus den Rayleys geworden wäre. Sie würde ein bißchen triumphieren, wenn sie Mrs. Ramsay erzählte, daß die Ehe nicht gerade ein Erfolg geworden wäre.

Die Toten! dachte Lily und trat ein wenig zurück, da sie bei ihrem Entwurf auf eine Schwierigkeit gestoßen war, die eine Überlegungspause notwendig machte. Ach, die Toten! murmelte sie, man bedauerte sie, schob sie beiseite, verachtete sie sogar ein bißchen. Sie sind in unserer Gewalt. Mrs. Ramsay ist vergangen und verschwunden, dachte sie. Wir können ihre Wünsche mißachten, können ihre begrenzten, altmodischen Vorstellungen durch Verbesserungsversuche verderben, bis nichts mehr davon übrigbleibt. Sie entfernt sich mehr und mehr von uns. Spöttisch glaubte sie sie am Ende des langen Gangs der Jahre sitzen zu sehen und zu hören, wie sie von allen Ungereimtheiten die ungereimteste sagte: »Heirate, heirate!« (so wie damals, als sie gerade aufgerichtet im Morgenlicht saß und die Vögel draußen im Garten zu zwitschern begannen). Und da müßte man ihr sagen: Es ist alles anders gegangen, als du es haben wolltest. Sie sind auf ihre Weise glücklich, ich bin es auf die meine. Das Leben ist ganz anders. Dabei kam ihr ihr ganzes Wesen, ja sogar ihre Schönheit einen Augenblick verstaubt und überlebt vor. Einen Augenblick lang triumphierte Lily, wie sie dastand, den Rücken von der Sonne bestrahlt, und die Bilanz der Rayleys zog, über Mrs. Ramsay, die nie erfahren würde, daß Paul in Kaffeehäuser ging und eine Geliebte hatte, daß er am Boden saß und Minta ihm die Werkzeuge reichte und daß sie hier stand und malte und nicht geheiratet hatte, nicht einmal William Bankes.

Das war Mrs. Ramsays Plan gewesen. Vielleicht hätte sie es auch durchgesetzt, wenn sie am Leben geblieben wäre. Schon damals im Sommer war er ›der liebenswürdigste Mensch‹. Er war ›der erste Wissenschaftler seiner Zeit, sagt mein Mann‹. Er war auch ›der arme William – es macht mich ganz unglücklich, wenn ich zu ihm komme und kein bißchen Behaglichkeit finde – niemanden, der für Blumen sorgt‹. Sie wurden also auf gemeinsame Spaziergänge geschickt, und sie wurde mit dem feinen Anflug von Spott, der einem Mrs. Ramsay aus den Fingern schlüpfen ließ, darüber belehrt, daß sie Sinn für die Wissenschaft hätte; daß sie Blumen liebte; und daß sie so gewissenhaft wäre. Warum war sie nur so aufs Ehestiften versessen? fragte sich Lily und trat hin und her vor der Staffelei.

(Plötzlich, so plötzlich, wie ein Stern im Himmelsraum dahinschießt, flammte ein rötliches Licht in ihr auf; es verdeckte Paul Rayley, aber es strahlte von ihm aus. Es schoß auf wie ein Feuer, das an einer fernen Küste die Wilden als Wahrzeichen eines Festes entzünden. Sie vernahm das Donnern und Prasseln. Auf Meilen in die Runde war das Meer in Rot und Gold getaucht. Ein Duft nach Wein mischte sich damit und berauschte sie: denn wieder spürte sie den ungestümen Drang, sich vom Felsen zu stürzen und zu ertrinken, während sie am Strand nach einer Perlenagraffe suchte. Und vor dem Donnern und Prasseln wich sie zurück voll Furcht und Abscheu, als sähe sie wohl seinen Glanz und seine Pracht, aber auch, daß es sich vom Schatz des Hauses nährte, in widerlicher Gier; und sie haßte es. An Pracht des Anblicks aber, an strahlender Glorie übertraf es alles, was sie kannte, und es brannte Jahr für Jahr wie ein Signalfeuer auf einer einsamen Insel im fernen Meer, und man brauchte nur das Wort ›Liebe‹ auszusprechen – sogleich schoß Pauls Feuer wieder empor wie eben jetzt. Und es sank in sich zusammen, und sie sagte lachend zu sich selbst: »Die Rayleys«; und Paul ging in Kaffeehäuser und spielte Schach.)

Sie war nur mit genauer Not entronnen, dachte sie. Sie hatte aufs Tischtuch geblickt, und ihr war blitzartig klar geworden, daß sie den Baum in die Mitte rücken würde und niemanden zu heiraten brauchte, und sie hatte ungeheuren Jubel empfunden. Jetzt könnte sie es mit Mrs. Ramsay aufnehmen, hatte sie gefühlt – im Grunde eine Huldigung für die erstaunliche Macht, die Mrs. Ramsay über andere hatte. Sie sagte: Tu das – und man tat's. Sogar ihr Schatten, wie sie mit James am Fenster saß, war voll gebieterischer Macht. Sie erinnerte sich, wie betroffen William Bankes gewesen war, weil sie die Bedeutung von Mutter und Sohn so nebensächlich behandelt hatte. Ob sie die Schönheit der beiden denn nicht bewunderte? hatte er gefragt. Dann aber hatte William, fiel ihr ein, mit seinen klugen Kinderaugen zugehört, als sie ihm auseinandergesetzt hatte, es wäre nicht Mangel an Ehrfurcht: Sie brauchte eben hier ein Licht und deshalb da einen Schatten, und so weiter. Es käme ihr nicht in den Sinn, etwas herabzusetzen, was Raffael, da wären sie der gleichen Meinung, mit göttlicher Kunst gestaltet hätte. Sie wäre nicht zynisch. Ganz im Gegenteil. Dank seiner wissenschaftlichen Bildung hatte er sie verstanden – ein Beweis unvoreingenommener Klugheit, der sie gefreut und ungemein getröstet hatte. Man konnte also doch mit einem Mann ernsthaft über Malerei sprechen. Wirklich, die Freundschaft mit ihm hatte zu den Freuden ihres Lebens gezählt. Sie hatte William Bankes geliebt.

Sie fuhren nach Hampton Court, und er ließ ihr als vollendeter Gentleman, der er war, immer reichlich Zeit zum Händewaschen, während er am Fluß entlangschlenderte. Das war bezeichnend für die Art ihrer Freundschaft. Vieles blieb ungesagt. Dann spazierten sie durch die Höfe und bewunderten Sommer um Sommer die Übereinstimmung aller Teile und die Blumen, und er sprach von allem möglichen, von Perspektive, von Baukunst; und dann blieb er stehen, um einen Baum zu betrachten oder den Ausblick über den See oder um sich über ein Kind zu freuen (das war sein großer Kummer – er hatte keine Tochter); alles in der abwesenden, gleichsam abgerückten Art, wie sie natürlich war für einen Mann, der soviel Zeit in Laboratorien verbrachte, daß ihn, wenn er sie verließ, die Welt zu blenden schien; also schritt er langsam, hob die Hand, um die Augen zu schirmen, und blieb zuweilen mit zurückgeworfenem Kopf stehen, um einfach nur die Luft zu atmen. Dann erzählte er auch wohl, seine Haushälterin hätte ihren freien Tag; oder, er müßte einen neuen Läufer fürs Treppenhaus kaufen. Ob sie vielleicht mitgehen würde, um einen neuen Läufer für das Treppenhaus auszusuchen? Einmal kam er auch irgendwie auf die Ramsays zu sprechen: als er Mrs. Ramsay zum ersten Male gesehen hätte, sagte er, da hätte sie einen grauen Hut getragen; sie wäre nicht älter als neunzehn oder zwanzig gewesen. Sie wäre verblüffend schön gewesen. Dabei hatte er die Allee in Hampton Court hinabgeblickt, als sähe er sie inmitten der Springbrunnen.

Lily Briscoe blickte zu den Stufen vorm Wohnzimmer hinüber. Und sie sah, mit Williams Augen, die Gestalt einer Frau, friedvoll und stumm, mit niedergeschlagenen Augen. Sie saß sinnend und wägend (sie trug an dem Tag ein graues Kleid, dachte Lily). Ihr Blick war gesenkt. Sie würde ihn nie mehr heben. Ja, dachte Lily und sah angestrengt hinüber: so muß ich sie gesehen haben, in dieser Haltung – aber nicht in Grau; auch nicht so still, nicht so jung, nicht so friedvoll. Rasch und leicht formte ihr Gedächtnis die Gestalt. Verblüffend schön wäre sie gewesen, hatte William Bankes gesagt. Aber Schönheit war nicht alles. Schönheit hatte einen Nachteil – sie trat zu direkt, trat zu vollkommen auf. Sie ließ das Leben erstarren, gefrieren. Man vergaß darüber die kleinen Aufregungen: das Erröten, das Blaßwerden, mancherlei merkwürdige Verzerrung, ein Licht oder einen Schatten, was ein Gesicht für den Augenblick unkenntlich machte und ihm doch einen Zug hinzufügte, der für alle Zeit im Gedächtnis haftete. Es war einfacher, all das mit der Schönheit zu bemänteln. Wie aber sah sie aus, sann Lily weiter, wenn sie sich den breitkrempigen Hut aufstülpte oder über den Rasen lief oder mit dem Gärtner Kennedy schalt? Wer konnte ihr das sagen? Wer konnte ihr helfen?

Nun war sie gegen ihren Willen an die Oberfläche gekommen und fand sich halb außerhalb des Bildes; sie stand und starrte ein bißchen leer, wie etwas Unwirkliches, Mr. Garmichael an. Er lag in seinem Stuhl, die Hände über dem dicken Bauch gefaltet; er las nicht, er schlief nicht, er sonnte sich, ein Geschöpf, das voller Leben war. Sein Buch war ins Gras gefallen.

Am liebsten wäre sie geradeswegs zu ihm gegangen und hätte gesagt: »Mr. Carmichael!« Dann würde er sie mit seinen wolkig verschwommenen grünen Augen ansehen, wohlwollend wie immer. Aber man weckte jemanden doch nur, wenn man wußte, was man ihm sagen wollte. Und sie wollte nicht nur über etwas, sie wollte über alles reden. Unbedeutende Worte, die den Gedanken nur zersetzen und zerstückeln, hatten keinen Sinn. »Über das Leben, über den Tod, über Mrs. Ramsay« – nein, dachte sie, man kann nichts und zu niemandem sagen. Der ungestüme Drang des Augenblicks verfehlte immer sein Ziel. Die Worte irrten ab und trafen das Gemeinte um Zollbreiten zu tief. Dann gab man es auf; dann ging der Gedanke wieder unter; dann wurde man, wie die meisten Menschen in mittleren Jahren, vorsichtig und unaufrichtig, bekam Fältchen zwischen die Augen und den Blick immerwachen Argwohns. Denn wie konnte man mit Worten diese körperlichen Empfindungen ausdrücken? wie die Leere da drüben? (Sie blickte zu den Stufen vorm Wohnzimmer hinüber: sie sahen seltsam leer aus.) Denn es war ein körperliches, nicht ein seelisches Empfinden. Und diese körperlichen Empfindungen, die sich beim Anblick der leeren Stufen einstellten, waren plötzlich höchst unbehaglich geworden. Sich nach etwas zu sehnen und es nicht zu bekommen, das erfüllte ihren Körper mit einer Härte, einer Leere, einer Spannung. Sich sehnen und es nicht bekommen – sich sehnen, sich immer nur sehnen –, oh, wie es das Herz zusammenpreßte, wieder und immer wieder! O Mrs. Ramsay! rief sie stumm jenem Wesen zu, das beim Boot saß, dem abstrakten Wesen, das sie aus Mrs. Ramsay gemacht hatte, der Frau in Grau – rief sie an, als wollte sie sie schelten, weil sie gegangen und dann, als sie gegangen, wiedergekommen war. Sie hatte sich so sicher gefühlt, wenn sie an Mrs. Ramsay dachte. Geist, Luft, Nichts, ein Ding, mit dem sie zu jeder Stunde des Tages und der Nacht mühelos und gefahrlos spielen konnte – ja, das war Mrs. Ramsay gewesen; und nun streckte sie plötzlich die Hand aus und preßte einem das Herz zusammen. Plötzlich kamen ihr die leeren Stufen zum Wohnzimmer, die Fransen des Stuhls da drinnen, der kleine Hund, der ungeschickt auf der Terrasse tollte, das Gewoge und Gewisper des Gartens wie Schmuckbögen und Arabesken vor, die sich um einen Mittelpunkt aus vollkommener Leere rankten.

»Was bedeutet das alles? Wie erklären Sie es sich?« hätte sie gern wieder Mr. Carmichael gefragt. Denn die ganze Welt schien sich zu dieser frühen Morgenstunde in einem Teich aus Gedanken, in einem tiefen Becken aus Wirklichkeit aufzulösen, und hätte Mr. Carmichael gesprochen, so wäre es doch denkbar gewesen, daß ein kleiner Riß die Oberfläche des Teiches gespalten hätte. Und dann? Dann würde etwas auftauchen. Eine Hand würde sich heraufstrecken, eine Klinge würde aufblitzen. Das alles war natürlich Unsinn.

Ihr kam die seltsame Vorstellung, daß er schließlich doch all die Dinge hörte, die sie nicht sagen konnte. Er war unergründlich, der Alte mit dem gelben Fleck im Bart, seinen Gedichten und seinen Rätseln; heiter segelte er durch eine Welt, die allen seinen Wünschen genügte, so daß er, dachte sie, nur da, wo er im Gras lag, die Hand auszustrecken brauchte, um alles einzufangen, was er haben wollte. Sie sah ihr Bild an. Ja, so hätte vermutlich seine Antwort gelautet – wie ›du‹ und ›ich‹ und ›sie‹ vergehen und dahinschwinden; nichts bleibt; alles wandelt sich; nur Worte nicht, nur Farbe nicht. Und doch würde es in einer Bodenkammer hängen, dachte sie; es würde zusammengerollt und unter ein Sofa gestopft werden; aber trotz alledem war es wahr, es galt selbst für ein solches Bild. Sogar von diesem Geschmier, nicht von dem eigentlichen Bild vielleicht, aber von dem, was damit erreicht werden sollte, könnte man behaupten, daß es ›immer bliebe‹, wollte sie sagen oder vielmehr stumm andeuten, da sogar ihr die gesprochenen Worte zu prahlerisch klangen; dabei blickte sie auf ihr Bild und merkte zu ihrer Überraschung, daß sie es gar nicht sah. Ihre Augen waren voll von einer heißen Flüssigkeit (zuerst fiel es ihr nicht ein, daß es Tränen sein könnten), die ihr über die Wangen rann, ihre festgeschlossenen Lippen zwar nicht erzittern ließ, aber die Luft schwer machte. In jeder anderen Hinsicht – o ja! – hatte sie sich völlig in der Gewalt. Weinte sie denn um Mrs. Ramsay, ohne sich irgendwie bewußt zu sein, daß sie unglücklich war? Wieder richtete sie die stumme Frage an Mr. Carmichael: Was war es also? Was bedeutete es? Gab es etwas, was jäh die Hand ausstrecken und einen packen konnte? Konnte die Klinge treffen, die Faust einen in eisernem Griff halten? Gab es keine Sicherheit? Lernte man es nie, sich in der Welt blindlings zurechtzufinden? Gab es nichts, was einen leitete, nichts, was Zuflucht gewährte, war alles nur Wunder und so, als würde man von der Zinne eines Turmes in die Luft springen? War es möglich, daß selbst für ältere Menschen das Leben so war – überraschend, unerwartet, unbekannt? Einen Herzschlag lang glaubte sie, wenn wir beide jetzt aufbegehren, hier, auf dem Rasen, und eine Erklärung verlangen, weshalb es so kurz, weshalb es so unausdeutbar wäre, wenn wir sie mit Nachdruck fordern, in der Sprache, wie zwei reife und fertige menschliche Wesen, vor denen nichts verborgen gehalten werden sollte, sie führen dürfen, so würde die Schönheit sich entfalten, der Raum sich füllen, das nichtige Schnörkelwerk Gestalt annehmen; und wenn sie laut genug riefen, so würde Mrs. Ramsay wiederkehren. »Mrs. Ramsay!« sagte sie laut, »Mrs. Ramsay!« Die Tränen liefen ihr übers Gesicht.


 << zurück weiter >>