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14

[Aber ja, Nancy war mitgegangen; denn Minta Doyle hatte sie mit ihrem stummen Blick und ausgestreckter Hand darum gebeten, als Nancy nach dem Lunch in ihre Bodenkammer flüchten wollte, um den Schrecknissen des Familienlebens zu entrinnen. Da blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Sie hatte keine Lust dazu. Sie hatte keine Lust, sich in all das hineinziehen zu lassen. Denn auf dem ganzen Weg zur Klippe hielt Minta ihre Hand. Dann ließ sie sie los. Dann nahm sie sie wieder. Was will sie eigentlich von mir? fragte Nancy sich. Denn irgend etwas wollten die Leute immer; als Minta ihre Hand nahm und festhielt, sah Nancy mit Widerstreben die ganze Welt unter sich ausgebreitet; das war so, als erblickte man Konstantinopel durch einen Nebel und müßte nun, so schwer einem auch die Lider waren, wohl oder übel fragen: Ist das die Hagia Sophia? Ist das das Goldene Horn? So fragte sich Nancy, als Minta ihre Hand nahm: Was will sie? Ist es dies? Und was war das ›dies‹? Hier und dort tauchte (als Nancy auf das unten ausgebreitete Leben blickte) eine Zinne, eine Kuppel aus dem Nebel auf; ragende Dinge, ohne Namen. Sobald aber Minta ihre Hand losließ, wie sie es tat, als sie hügelabwärts liefen, sank alles, was aus dem Nebel aufgetaucht war, die Kuppel, die Zinne – sank alles in den Nebel zurück und verschwand.

Minta, so bemerkte Andrew, war gut zu Fuß. Sie kleidete sich vernünftiger als die meisten Frauen. Sie trug sehr kurze Röcke und schwarze Kniehosen. Sie brachte es fertig, mit beiden Beinen in einen Wasserlauf zu springen und durchzuwaten. Ihm gefiel ihr Ungestüm, aber er sah auch, daß es zu nichts Gutem führen würde – sie würde sich über kurz oder lang auf irgendeine blödsinnige Art den Hals brechen. Sie schien sich vor nichts zu fürchten – Bullen ausgenommen. Beim bloßen Anblick eines Stiers auf der Weide warf sie die Arme in die Luft und flüchtete kreischend, was natürlich gerade das richtige war, den Stier zu reizen. Aber sie scheute sich nicht, es einzugestehen; das mußte man zugeben. Bei Stieren sei sie abscheulich feige, das wisse sie, sagte sie. Vielleicht sei sie als Baby im Kinderwagen einmal herumgestoßen worden. Es war ihr offenbar gleich, was sie tat oder sagte. Zum Beispiel jetzt: sie hockte sich auf den Rand der Klippe und fing an zu singen, etwas wie

»Hol dich der Deubel, hol dich der Deubel!«

Alle mußten einfallen, den Kehrreim mitsingen und herausschmettern:

»Hol dich der Deubel, hol dich der Deubel!«

– aber es wäre schade, wenn die Flut käme und alle guten Jagdgründe bedeckte, bevor sie am Strand wären.

»Ja, das wäre schade«, sagte Paul und sprang auf; und während sie rutschend hinunterstiegen, zitierte er andauernd aus dem Reiseführer: »Die Inseln sind mit Recht berühmt wegen ihrer parkähnlichen Ausblicke und der Menge und Vielfalt ihrer maritimen Besonderheiten.« Aber das war auch nicht das richtige, dachte Andrew beim Abstieg, das Brüllen und das ›Hol dich der Deubel!‹, oder daß man mich auf den Rücken schlägt und ›alter Junge‹ nennt und so weiter; das ist auch nichts. Man soll auf solche Wege keine Frauenzimmer mitnehmen, das ist das Dümmste. Sobald sie am Strand waren, trennten sie sich. Andrew ging zur ›Papstnase‹, zog die Schuhe aus, steckte die Strümpfe hinein und überließ das Pärchen sich selbst. Nancy watete hinaus zu ›ihren‹ Klippen und suchte ›ihre‹ Tümpel und überließ das Pärchen sich selbst. Sie kauerte sich nieder und berührte die weichen, gummiartigen Seeanemonen, die wie Gallertklumpen am Felsen klebten. Im Grübeln wurde ihr die Pfütze zum Meer, die Elritzen wurden zu Haifischen und Walen; sie überschattete diese winzige Welt mit gewaltigen Wolken, indem sie die Hand vor die Sonne hielt und so über Millionen ahnungsloser und unschuldiger Geschöpfe Finsternis und Verlassenheit brachte, wie Gott selbst, dann nahm sie die Hand plötzlich weg und ließ die Sonne niederströmen. Draußen auf dem hellen, kreuz und quer zerfurchten Sand stapfte hochbeinig, gestiefelt und gespornt, ein sagenhaftes Ungeheuer (noch immer wurde ihr die Pfütze zum Meer) und schlüpfte in eine riesige Spalte im Felsenhang. Dann glitten ihre Blicke unmerklich über den Tümpel hinaus und ruhten auf der flimmernden Linie von Himmel und Meer, auf den Baumstämmen, die der Rauch von den Dampfern am Horizont schwanken ließ, die ungeheure Gewalt, mächtig hereinbrausend und unaufhaltsam wieder zurückweichend, bannte sie; das Bewußtsein von beidem – dort der unendlichen Größe, hier der unendlichen Kleinheit (denn der Tümpel war nun wieder ein Tümpel), die darin blühte, ließ sie glauben, sie wäre an Händen und Füßen gefesselt und zu keiner Bewegung imstande, so erfüllt war sie von Empfindungen, durch die ihr Körper, ihr Leben, das Leben aller Menschen auf der Welt in alle Ewigkeit zum Nichts zusammenschrumpften. So grübelte sie, den Wogen lauschend, niedergekauert am Tümpel.

Als Andrew rief, die Flut käme, sprang sie planschend durch die niedrigen Wellen ans Ufer, rannte strandaufwärts und wurde von ihrem eigenen Ungestüm und ihrer Lust an rascher Bewegung geradeswegs hinter einen Felsen getragen, und da, o Himmel! lagen Paul und Minta einander in den Armen, und wahrscheinlich küßten sie sich. Sie war wütend, empört. Sie und Andrew zogen stillschweigend Schuhe und Strümpfe an, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Sie waren beide in ziemlich gereizter Stimmung. Sie hätte ihn doch rufen können, als sie den Krebs gesehen habe oder was es sonst gewesen sei, knurrte Andrew. Aber sie hatten beide das Gefühl, es ist nicht unsere Schuld. Sie hatten nicht gewollt, daß dieser gräßliche Unfug geschah. Trotzdem störte es Andrew, daß Nancy eine Frau sein sollte, und Nancy störte es, daß Andrew ein Mann sein sollte, und sie schnürten ihre Schuhe besonders ordentlich und banden die Schleifen recht fest.

Sie waren schon wieder die Klippe ganz hinaufgeklettert, da schrie Minta plötzlich, sie habe die Agraffe ihrer Großmutter verloren – die Agraffe ihrer Großmutter, das einzige Schmuckstück, das sie besitze –, eine Trauerweide aus Perlen (sie müßten sich doch erinnern). Sie müßten sie doch gesehen haben, sagte sie, und die Tränen liefen ihr über die Wangen, die Agraffe, mit der ihre Großmutter bis zum letzten Lebenstag ihr Häubchen festgesteckt habe. Und nun habe sie sie verloren! Alles andere hätte sie eher verlieren mögen als diese Agraffe! Sie müsse umkehren und suchen. Sie kehrten alle um. Sie stocherten und spähten und guckten. Sie bückten die Köpfe sehr tief und ließen kurze, mürrische Bemerkungen fallen. Paul Rayley suchte wie ein Verrückter um den ganzen Felsen herum, hinter dem sie gesessen hatten. Dieses ganze Aufheben wegen einer Agraffe ist wirklich nicht am Platze, dachte Andrew, als Paul ihn anwies, »zwischen hier und da alles genau abzusuchen«.

Die Flut kam rasch herein. Eine Minute noch und die Stelle, wo sie gesessen hatten, war vom Wasser bedeckt. Es bestand auch nicht die geringste Aussicht, daß sie das Ding jetzt noch fanden. »Wir werden abgeschnitten!« kreischte Minta in plötzlichem Schreck. Als ob das eine Gefahr wäre! Es war haargenau wie mit den Stieren – sie hatte sich nicht in der Gewalt, dachte Andrew. Frauen waren so. Der bejammernswerte Paul mußte sie beruhigen. Die Männer (Andrew und Paul bekamen plötzlich ein männliches Gehaben und waren anders als sonst) hielten kurzen Rat und entschieden, daß sie an der Stelle, wo sie gesessen hatten, Rayleys Spazierstock aufpflanzen und bei Ebbe zurückkommen wollten. Mehr ließ sich im Augenblick nicht tun. Wenn die Agraffe hier liege, dann würde sie auch morgen früh noch dasein, versicherten sie tröstend; aber Minta schluchzte noch während des ganzen Aufstiegs zur Höhe. Es sei die Agraffe ihrer Großmutter; alles andere könne sie leichter verschmerzen als gerade diese Agraffe: und doch hatte Nancy das Gefühl, daß ihr der Verlust wohl naheging, sie aber nicht nur deshalb weinte. Sie weinte auch aus einem andern Grund. Wir könnten uns alle hinsetzen und weinen, dachte Nancy. Warum aber, das wußte sie nicht.

Sie gingen voraus, Paul und Minta, und er tröstete sie und sagte, er sei bekannt als guter Finder. Als kleiner Junge habe er einmal eine goldene Uhr gefunden. Er wolle bei Tagesanbruch aufstehen und würde die Agraffe bestimmt finden. Er malte sich aus, es würde noch beinahe finster und irgendwie ziemlich gefährlich sein und er allein am Strande. Er sagte ihr jedoch, er würde sie gewiß finden, und sie sagte, sie wolle nichts davon hören, daß er bei Tagesanbruch aufstehe: es sei vergeblich, sie wisse das; sie habe schon so eine Ahnung gehabt, als sie am Nachmittag die Agraffe angesteckt habe. Worauf er insgeheim beschloß, ihr kein Wort zu sagen, sondern sich in der Dämmerung, wenn alle noch schliefen, aus dem Haus zu schleichen, und wenn er die Agraffe nicht fand, so wollte er nach Edinburgh fahren und ihr eine andere kaufen, eine ähnliche, aber schönere. Er würde zeigen, was er fertigbrachte. Und als sie auf den Hügel hinaustraten und die Lichter der Stadt unter sich sahen, da kam es ihm vor, als verkörperten die Lichter, die eins nach dem andern plötzlich aufblinkten, die Dinge, die ihm die Zukunft bringen sollte – seine Ehe, seine Kinder, sein Haus; dann wieder, auf der Landstraße, die von hohem Gebüsch beschattet war, malte er sich aus, wie sie sich zu zweit in die Einsamkeit zurückziehen und immer weiterwandern würden, er würde sie immer führen und sie sich dicht an seine Seite schmiegen (so wie jetzt). Als sie an der Kreuzung abbogen, dachte er daran, was für eine überwältigende Erfahrung er gemacht hatte, er mußte es jemandem erzählen – Mrs. Ramsay natürlich; denn es verschlug ihm den Atem, wenn er überlegte, wie er sich benommen und was er getan hatte. Der Augenblick, als er Minta bat, seine Frau zu werden, war der weitaus schlimmste seines Lebens gewesen. Er würde geradeswegs zu Mrs. Ramsay gehen, denn er hatte irgendwie das Gefühl, daß sie es gewesen war, die ihn dazu veranlaßt hatte. Sie hatte ihm den Glauben beigebracht, daß er alles leisten könnte. Niemand sonst nahm ihn ernst. Sie aber machte ihn glauben, daß er alles erreichen könnte, was er wollte. Er hatte den ganzen Tag ihre Blicke gefühlt, sie folgten ihm (wenn sie auch kein Wort sprach), als ob sie sagen wollte: Du kannst es. Ich glaube an dich. Ich erwarte es von dir. All das hatte sie ihm zu verstehen gegeben, und sobald sie wieder daheim wären (seine Augen suchten die Lichter des Hauses über der Bucht), wollte er zu ihr gehen und sagen: »Ich hab's geschafft, Mrs. Ramsay; ich danke Ihnen.« Als sie nun in den Heckenweg einbogen, der zum Haus führte, sah er, wie sich hinter den Fenstern des oberen Stockwerks die Lichter bewegten. Es mußte schrecklich spät sein. Sie zogen sich schon zum Dinner um. Das ganze Haus war erleuchtet, und das viele Licht nach der Dunkelheit füllte seine Augen ganz, und er sagte, als er den Fahrweg hinaufging, kindisch vor sich hin: »Lichter, Lichter, Lichter.« Das wiederholte er stumpfsinnig, als sie ins Haus kamen: »Lichter, Lichter, Lichter«; er blickte starr um sich, und sein Gesicht war wie steif. »Ach du lieber Gott«, sagte er zu sich selbst und faßte sich an die Krawatte, »ich darf mich nicht so albern benehmen.«]


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