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In welchem es zugeht wie in einem richtigen Roman und der geneigte Leser alles finden wird, was ihm zu wissen wünschenswert erschienen sein mag. Spielt bei Nacht und verbreitet Licht.
Da man am andern Morgen früh reisen wollte, gingen die Herrschaften nach der Andacht auch bald auf ihre Schlafzimmer, die beiden Grafen, um ihre leichten Koffer selbst zu packen, Herr von Norwig, um die versprochene Denkschrift auszuarbeiten, und die Gräfin, um in einem längeren Schreiben ihr Töchterchen der Tante Auguste warm ans Herz zu legen. Meister Fink kam der frühe Aufbruch auch gelegen, 88 weil er noch aus der frischen Erinnerung heraus eine Kopie der Zeichnung von Vicki in Wasserfarben ausführen wollte.
Im Schlafzimmer der jungen Damen herrschte noch rege Geschäftigkeit, da die Komtessen noch dabei waren, mit Hilfe von Anna und Louise Vickis großen Reisekorb zu packen. Bei dem Gedanken, daß sie fast nichts von ihren schönen Kleidern mitnehmen durfte, weil sie ja nun bald in die Uniform der christlichen Nächstenliebe gesteckt werden sollte, flossen immer neue Thränenströme, und Komteß Marie hatte dem Abschiedsschmerz und der Unvernunft der Schwester gegenüber, die am liebsten ihre ganzen Habseligkeiten mitgeschleppt hätte, einen schweren Stand. Es war nahezu elf Uhr geworden, ehe sie die beiden Mädchen entlassen und Vicki bewegen konnte, sich niederzulegen. –
Als Graf Bencken sein Zimmer betrat, kam ihm die Luft darin so schwül vor, daß er Thür und Fenster öffnete, um den frischen Nachthauch hindurchstreichen zu lassen. Man hatte ihn zwischen Fink und Fräulein Sophie einquartiert. Er legte sein altes Lieutenants-Kofferchen offen über zwei Stühle und begann seine Siebensachen einzupacken. Da kamen auch, sauber in Seidenpapier eingewickelt, jene berühmten Ballschuhe der schönen Frau von Norwig zum Vorschein. Er löste die rote Atlasschleife, mit welcher das Paket zierlich umschnürt war und wickelte die kostbaren Pfänder seiner schönsten Erinnerung aus ihrer Umhüllung. Da standen sie nun, hübsch auswärts gestellt auf dem Tische, und der Graf betrachtete sie durch seinen goldenen Klemmer mit zärtlichster Aufmerksamkeit.
Würde er noch im stande sein, seinen Schwur einzulösen? Er horchte aufmerksam, ob sich aus dem Nebenzimmer, wo die Holde schlief, kein Laut vernehmen ließe, der ihm Gewißheit brächte, ob sie schon zur Ruhe gegangen sei. Er vermochte jedoch nicht das leiseste Geräusch wahrzunehmen, und schloß daraus, daß Sophie ihr Zimmer noch nicht aufgesucht habe. Er nahm sich fest vor, den Augenblick, wo die Reizende an seiner offenen Thür vorbeikommen würde, zu einer Anrede zu benutzen, und dann – mochte ihm Amor gnädig sein! Die Erwartung regte ihn dermaßen 89 auf, daß seine Hände zitterten, und jedes Geräusch draußen oder im Hause ihn zusammenfahren machte. Er schloß das Fenster, ließ den Vorhang herab und stellte sich dann laut klopfenden Herzens dicht an der Thür auf die Lauer.
Jetzt hatte er sich nicht getäuscht! Die Treppe knarrte unter einem leichten Tritt, und nun näherte sich dieser unverkennbare Tritt seiner Thür. Sie war es! Wie zufällig überschritt Karl Egon Emich seine Schwelle und stammelte hastig: »Ah, Fräulein Bandemer! Noch nicht zu Bett?«
»Wie Sie sehen, Herr Graf,« versetzte sie lächelnd und wollte mit einer kleinen Verbeugung an ihm vorbei.
»Es ist heute so warm in den Zimmern!« stieß er überstürzt heraus. »Ich habe mir noch etwas Luft gemacht.«
Sie neigte abermals das Haupt und sagte nur, da seine Bemerkung wohl kaum eine Antwort erheischte: »Ich wünsche wohl zu schlafen, Herr Graf.«
Mit dem Mute der Verzweiflung wagte er ihr zwei Schritte nachzuthun und sagte: »Ich fürchte, aus dem Schlafen wird wenig werden!«
»Wieso?«
»Nun weil . . . ich meine . . . äh! Ich werde zuviel an eine gewisse . . . äh! reizende Dame . . .« Er schielte hilflos zu ihr hinüber.
Sie drohte ihm schelmisch mit dem Finger: »Ach – Herr Graf sind verliebt?«
»In der That, das ist das rechte Wort – ich kann unmöglich von hier abreisen, ohne Ihnen gesagt zu haben, daß . . .«
»Aber Herr Graf, ich bitte Sie – wenn uns jemand hörte!«
»Sie haben recht, ja . . . wollen Sie nicht einen Augenblick in mein Zimmer treten?«
»Nein, nein, das geht nicht, um keinen Preis!« flüsterte sie ängstlich und wandte sich zum Gehen.
Da ergriff er sie bei der Hand und sagte leise: »Fürchten Sie nichts. Sie sind im Schutze eines Kavaliers. Ich wollte Sie nur um eine kleine Gefälligkeit bitten.«
»O, Herr Graf, ich weiß nicht . . .«
90 Sie ließ sich, nur leicht widerstrebend, als sei sie von seinen Worten wie bezaubert, in das Zimmer führen. Doch blieb sie dicht an der Thür stehen und heftete in reizender Verwirrung ihren Blick auf den Boden.
Er zog die Thür hinter sich zu, ergriff zaghaft ihre beiden Hände und begann dann stockend: »Ich kann es immer noch nicht fassen, daß Sie nicht Frau von Norwig sein sollen: die Aehnlichkeit ist effektiv lächerlich – sogar die Sprache! Und die wunderbarste Aehnlichkeit liegt im Fuß . . . Pardon mein Fräulein! . . . Außer bei Frau von Norwig habe ich nie etwas Aehnliches von Grazie und Finesse bei einer Dame gesehen! Der Fuß ist für mich das Entscheidende! . . . äh! Ich möchte behaupten . . .«
»Sie haben diese Frau von Norwig wohl geliebt, Herr Graf?«
»Und wie!« versicherte er treuherzig. »Ich bin bis heute noch Junggeselle geblieben, weil ich die Erinnerung an diese Frau nicht los werden kann. Als ich aber Sie hier sah . . . Sie begreifen, mein Fräulein!«
Sie zog ihre Hände aus den seinen, zupfte verlegen an ihrer Schürze und flüsterte: »O, Herr Graf . . . Sie beschämen mich! Ich weiß wohl, daß ich keinen Anspruch auf Schönheit machen darf. Ich bin ein armes, einfaches Mädchen . . .«
»Nein, Pardon!« unterbrach Graf Emich fast feurig. »Ihre entzückenden Füße sind für mich so gut wie ein Adelsbrief. Das ist ein untrügliches Merkmal guter Rasse – ich möchte parieren so hoch Sie wollen, daß Sie blaues Blut in der Familie haben.«
Sophie lächelte schamhaft und ließ ihr Köpfchen noch tiefer hängen. »Ich will es nicht leugnen, Herr Graf, da Sie es doch einmal erraten haben – mein Vater war allerdings . . . sein Rang erlaubte ihm nicht, meiner Mutter die Hand zu reichen.«
»Ah, ich verstehe!« rief der Graf mit triumphierendem Lächeln. »Es konnte nicht anders sein!« Und dann nahm er die zierlichen Atlasschuhe vom Tische und sagte: »Sehen Sie diese Chaussüre – kann man sich etwas Feenhafteres vorstellen!«
91 »Ach wie entzückend!« rief sie, näher tretend und klatschte kindlich in die Hände. »Ja, die vornehmen Damen haben es freilich leicht, sich hübsch zu machen!«
»Wie sich wohl Ihr Füßchen darin ausnähme?« sagte der Graf zögernd. »Würden Sie mir es sehr übel nehmen, wenn ich Sie bäte, sie einmal anzuprobieren?«
Der Graf hatte nie in seinem Leben Goethes Faust aufführen sehen, da er grundsätzlich nicht in klassische Stücke ging, sonst würde er wohl durch die allerliebste Komödie, welche Fräulein Sophie vor diesen Schuhen aufführte, an die Scene erinnert worden sein, wo Gretchen das Schmuckkästchen findet. Nachdem sie eine schickliche Weile zwischen Eitelkeit und Befangenheit gekämpft hatte, ließ sie sich endlich herbei, seinem Wunsche zu entsprechen, streifte im Stehen ihre Lederschuhe ab und schlüpfte dann, ihm den Rücken kehrend, ohne Schwierigkeit in die Atlasschuhe, welche sie vor langen Jahren auf jenem Kasinoballe getragen hatte.
»Nein, wirklich . . . sehen Sie nur! Sie sitzen wie angegossen,« rief sie glückstrahlend, indem sie sich auf dem Haken herumdrehte und dann kokett den Saum ihres Kleides zurückschob.
In diesem Augenblicke hallte ein lauter Schlag durch den Korridor. Die beiden fuhren erschrocken zusammen und lauschten erbleichend nach der Richtung, aus welcher der Schall gekommen war, hin. (Hanswurstfink hatte nämlich seine Stiefel etwas unsanft vor die Thür gesetzt.)
»Ach Gott, ich armes Geschöpf,« begann Sophie händeringend. »Es kam von Herrn Finks Zimmer her. Er hat uns gewiß belauscht. Nein, nein, ich weiß es bestimmt! Er spürt mir überall nach, der abscheuliche Mensch! Er wurde so dreist gegen mich neulich Abend, und da habe ich ihn gehörig abfallen lassen, darum sein Haß auf mich. O Herr Graf, was haben Sie gethan! Man wird mich aus dem Hause weisen . . . wie soll ich mich rechtfertigen? Sie haben mein Lebensglück zerstört! Man wird mich in keinem anständigen Hause mehr aufnehmen wollen!« So hasteten beinahe schluchzend die abgebrochenen Sätze hervor, und der 92 gute Karl Egon Emich fühlte sich schier erdrückt von der schweren Schuld, die er auf sich geladen hatte.
»Mein teures Fräulein, ich bedaure unendlich . . . ich hoffe, Sie haben sich getäuscht! Aber wenn wirklich fatale Folgen für Sie entstehen sollten . . . ein Bencken hat niemals eine Dame kompromittiert, ohne nachher seine Schuldigkeit zu thun! Hier ist meine Karte, Fräulein: Friedenau bei Berlin – ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung.« Er verbeugte sich militärisch vor ihr und spähte dann zur Thür hinaus. »Die Luft ist rein,« flüsterte er.
Sie zog hastig die Atlasschuhe ab, nahm ihre eignen in die Hand und huschte auf Strümpfen an ihm vorbei und in ihr Zimmer. Noch einmal steckte sie den dunklen Kopf heraus, drohte ihm schmollend und warf ihm dann eine Kußhand zu, welche er mit dem Bestreben zurückgab, bei dieser Handbewegung die Grazie eines alten Marquis zu entwickeln. Dann zog sie geräuschlos die Thür hinter sich zu – und er hörte sie den Riegel vorschieben.
Der Graf drückte die fortgeworfenen Schuhe, welche die kleinsten Füße der Welt soeben erst zu erwärmen begonnen hatten, mit Inbrunst und zu wiederholten Malen an seine Lippen, bevor er sie wieder mit dem Seidenpapier und dem rosa Bändchen umwickelte. Dann setzte er das Licht vor den Spiegel und betrachtete sich lange Zeit darin, ehe er daran dachte, sich zur Ruhe zu begeben. – –
Etwa eine halbe Stunde nachdem Komteß Marie die beiden Zofen entlassen hatte, öffnete Sophie geräuschlos ihre Zimmerthür und tappte im Dunkeln vorsichtig den Korridor entlang und dann die Treppe hinunter. Obwohl sie auf Strümpfen ging und möglichst leise auftrat, konnte sie doch nicht verhindern, daß die hölzerne Treppe bei der tiefen Stille der Nacht vernehmlich knarrte. Es war nicht das erste Mal in ihrem Leben, daß sie ein abenteuerliches Wagnis unternahm, aber doch klopfte ihr das Herz so arg, daß sie öfters stehen bleiben und nach Atem ringen mußte. Unten im Hausflur angekommen, machte sie noch einmal Halt, ja sie mußte sich sogar für einen Augenblick auf der dort aufgestellten Bank niedersetzen, bis ein leichter Schwindelanfall 93 vorüber ging. Die große alte Wanduhr aus dem vorigen Jahrhundert, welche der Hausthür gegenüber in einer Nische aufgestellt war, tickte so vordringlich laut, daß die ängstlich ringsum Lauschende keine Gewißheit erlangen konnte, ob sonst im Hause alles still sei. Der plumpe langsame Pendelschlag hallte in dem leeren weiten Steingewölbe des Vorplatzes unheimlich wider, und einer der hellen Mondstrahlen, die durch die schmalen hohen Bogenfenster über den Estrich bis nach der gegenüberliegenden Wand hinliefen, beleuchtete gespenstisch den unteren Teil des Uhrgehäuses, in dessen dunkles Mahagoni-Fournier die Gestalt des Todes mit Stundenglas und Hippe aus Elfenbein eingelegt war.
Sophie zog das schwarze Wollentuch fester um ihre Schultern, erhob sich tief aufatmend und schlich dann rasch durch den hinteren Korridor nach den Gesindestuben. Sie öffnete vorsichtig Lines Kammerthür und trat geräuschlos ein. Das Mädchen lag angekleidet auf seinem Bett und schnarchte fürchterlich. Sophie mußte sie erst eine längere Zeit kräftig am Arme schütteln, bevor sie unwillig grunzend die Augen aufschlug.
»Line, es ist Zeit! In einer halben Stunde machst du dich auf – verstanden?« Sie mußte ihre Worte mehrmals wiederholen, ehe das schlaftrunkene Mädchen deren Sinn erfaßt hatte. »Thu mir nur den Gefallen und schlaf nicht wieder ein, Mädel! Warte noch bis die Uhr Mitternacht geschlagen hat. Setze dich lieber im Vorplatz auf die Bank – hier schläfst du doch wieder ein. Die Hausthür findest du offen.«
Line versicherte nun alles begriffen zu haben, und Sophie entfernte sich auf demselben Wege, auf welchem sie gekommen war. Noch einmal trat sie an den Fuß der Treppe und horchte mit vorgehaltener Hand hinauf. Dann huschte sie, da sie nichts Verdächtiges wahrnehmen konnte, nach der Hausthüre, drehte mit einem entschlossenen Griff den großen Schlüssel herum – und war im nächsten Augenblick im Freien. Zunächst zog sie nun ihre Schuhe an, dann klinkte sie behutsam die schwere Thür hinter sich zu und lief endlich, den knirschenden Kies vermeidend, und sich fortwährend nach allen Seiten hin umschauend, den Fahrweg entlang nach 94 dem Parkthor. Unbemerkt erreichte sie den Hof und das Wirtschaftshaus. Hinter dem Fenster des ersten Stockwerks, rechts über der Hausthür, brannte Licht; dort saß also der Oberverwalter noch über seiner Schreiberei. Sophie drückte rasch die Klinke nieder – ah! die Thür gab nach – der Inspektor wartete also bereits in der Jasminlaube. Wieder zog sie die Schuhe von den Füßen, und dann flog sie mehr als sie ging die Treppe hinauf, und befand sich nach wenigen weiteren Schritten vor dem Zimmer ihres Gatten. Sie näherte ein Auge dem Schlüsselloch und sah ihn an seinem Schreibtisch sitzen. Die Lampe beleuchtete hell sein edles, scharf geschnittenes Gesicht und die weiße schlanke Hand, welche die Feder so rasch über das Papier hingleiten ließ. Eine ganze Weile beobachtete sie ihn und suchte aus dem Spiel seiner Mienen zu erraten, was sein Inneres bewegte, was seine Feder schrieb. Dann reckte sie sich langsam in die Höhe, lehnte sich gegen den Thürpfosten und strich mit beiden Händen ihr dunkles, schon für die Nachtruhe aufgelöstes Haar von den Schläfen zurück. Ihr Busen flog, in allen Schlagadern drängte und zerrte das Blut und ängstlich keuchend, fast pfeifend, ging ihr Atem aus und ein. Noch einmal preßte sie die Rechte fest gegen ihr Herz – dann trat sie ein. – –
Nachdem sie die beiden Mädchen entlassen hatte und Vicki eingeschlafen war, streckte sich Komteß Marie noch einmal auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer aus, um ihre Gedanken zu sammeln und aus den Vorgängen dieses ereignisreichen Tages für ihr ferneres Verhalten den Schluß zu ziehen. Sie hatte eben die Lampe gelöscht, um sich zur Ruhe zu begeben, als sie durch das Knarren der Treppe aus ihrem einsamen Sinnen aufgeschreckt wurde. Sie trat rasch in die Thür und lauschte aufmerksam auf das verdächtige Geräusch. Als alles wieder still zu sein schien, öffnete sie leise ihre Thür, trat ohne das Licht an die Treppe und beugte sich gespannt horchend über das Geländer. Doch außer dem schwerfälligen Ticken der Hausuhr war kein Laut zu vernehmen. Trotzdem verharrte sie unbeweglich wohl länger 95 als fünf Minuten und kehrte dann erst langsam nach ihrem Zimmer zurück. Aber in dem Augenblicke, als sie die Thür hinter sich zuziehen wollte, hörte sie deutlich das Knacken, welches die Umdrehung des Hausschlüssels verursachte. Nun war sie nicht mehr im Zweifel, daß hier irgend etwas Unrechtes vorgehe. Sie beeilte sich, einen wärmeren Schlafrock anzuziehen, und begab sich dann, so rasch die Schwäche in ihren Gliedern es erlaubte, in den Speisesaal hinüber, dessen Fenster nach vorn hinaus sahen. Sie spähte eifrig in die monderhellte Nacht, und glaubte eine dunkle Gestalt von der Parkthür aus nach dem Verwalterhause eilen sehen. Doch war die Entfernung zu groß, als daß sie hätte erkennen können, ob dieselbe einem Manne oder einem Weibe angehöre. Sie setzte sich am Fenster nieder und wartete, ob etwas Verdächtiges sich zeigen würde. Aber länger als eine Viertelstunde starrte sie vergebens nach dem Hof hinüber. –
Die Gestalt zeigte sich nicht wieder und auch im Hause rührte sich nichts. Die Augen begannen ihr schließlich von dem angestrengten Sehen weh zu thun, sie wandte sich ins Zimmer zurück und ließ den Blick ausruhend über die Wände des weiten Saales schweifen. Da schauten aus dem dunklen Getäfel die Bilder ihrer Ahnen auf sie hernieder und das unsichere graublaue Mondlicht verlieh allen diesen starren Augen etwas seltsam Lebendiges, als suchten sie gleich ihr die Dämmerung zu durchdringen und die Spur des Frevlers auf den betauten Wegen zu entdecken, welcher durch sein lichtscheues Beginnen den Burgfrieden der ehrlichen Pfungks verletzt hatte. Die Ritter im stählernen Harnisch, die Hofleute mit den schweren Gnadenketten und wallenden Locken, die bezopften Herren im gestickten Frack – und nicht minder die ehrwürdigen Damen mit den tadellosen Spitzenkrausen, die selbstbewußt dreinschauenden tief entblößten Schönheiten im steifen Mieder des siebzehnten Jahrhunderts, die geziert lächelnden des achtzehnten mit ihren großen Mandelaugen und endlich die freundlichen Herrschaften der jüngeren Vergangenheit – alle, alle schienen sie ihre Enkelin zu mahnen: es ist gut, daß du wachst! In unserm Hause soll nicht die Lüge nächtlich umgehen und mit ihrer Brut unter unserm 96 stolzen Dache sich einnisten, um Ratten gleich die Wurzeln unsrer Kraft zu benagen. Mache dich auf zur That – du stehst in unserm Schutze, du kühne, tolle Komteß!
Wie wenn sie die heimlichen Stimmen vernommen hätte, erhob sich Gräfin Marie nun plötzlich und stieg rasch die Treppe hinunter nach dem Vorplatz. Schon wollte sie die Hausthür öffnen, als sie auf der Bank ein wunderlich vermummtes Wesen erblickte, das den Kopf tief auf die Brust herabgesenkt trug. Die Komteß trat geräuschlos heran, spähte tief herniedergebeugt der Sitzenden ins Gesicht und erkannte zu ihrem größten Erstaunen – Line, die Küchenmagd, welche diese harte Ruhestätte ihrem heißen Federbett vorgezogen zu haben schien, denn sie war in festen Schlaf verfallen. Seltsam! Das Mädchen hatte ihr nie den Eindruck gemacht, als könnte es etwa mondsüchtig sein, denn das wäre doch immerhin etwas Besondres gewesen, und an Line war schlechterdings alles gewöhnlich! Schon wollte sie ihr die Hand auf die Schulter legen, um sie wach zu rütteln, als die Uhr mit heiserem Schwirren und Schnarren ausholte, um Mitternacht zu verkündigen. Line zuckte zusammen, und die Komteß verbarg sich rasch hinter dem Kleiderständer rechts von der Thür, welcher, mit dem großen Wettermantel des Grafen und verschiedenen andren Kleidungsstücken behängt, genügende Deckung bot.
Line fuhr empor, rieb sich verwundert die Augen, schien sich zu besinnen, was sie hier gewollt – und schlurfte mit plumpem Schritt nach der Thür. Noch einmal sah sie sich um, dann öffnete sie sie mit ziemlichem Geräusch – und war verschwunden.
Die Komteß sah sie durch das Fenster am Hause entlang schleichen, dann ging sie nach der Thür und drehte den Schlüssel herum.
»So!« murmelte sie halblaut vor sich hin. »Nun wollen wir das weitere abwarten.« Sie tappte durch den Hinterkorridor bis zur Kellerthür, wo in einem Verschlage, der im Winter zur Aufnahme des Holzvorrats diente, die beiden Hunde ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten.
»He, Lord! Lady – aufgewacht!«
97 Die beiden Tiere erhoben dumpf brummend den Kopf, sprangen jedoch, als sie die Herrin erwittert hatten, auf und schmiegten sich an ihre Seiten, indem sie sich gähnend reckten und mit ihren Fahnen ihr Kleid peitschten. Sie nahm nun denselben Weg wieder zurück und hieß durch einen leisen Pfiff die Hunde folgen. In ihrer Begleitung betrat sie den links vom Eingang gelegenen Hubertussaal, rückte sich einen Korbsessel vor eins der verhängten Fenster und ließ sich erschöpft hineinsinken. Lord und Lady duckten sich alsbald bei ihr nieder, klopften mit den Schwänzen auf die Diele und blickten erwartungsvoll zu ihr empor.
»Schlaft nur, schlaft!« flüsterte sie lächelnd. Da legten sie die schönen Köpfe zwischen ihre Pfoten und ließen sich's behaglich gefallen, daß die Komteß mit ihren Fußspitzen ihnen den zottigen Rücken kraute. Sie stützte den Kopf sinnend auf ihre Rechte und schloß die Augen – aber sie schlief nicht! – –
Als seine Frau so plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihm stand, war Norwig mit einem unverständlichen Ausruf aufgesprungen und hatte zunächst das erste beste Aktenstück über die dicht beschriebenen Briefbogen auf seinem Schreibtisch geschoben. Dann trat er einige Schritte auf sie zu und flüsterte bebend vor Zorn und Ueberraschung: »Was soll das bedeuten? Wie bist du herein gekommen? Was ist das für ein sinnloses Beginnen?«
Mit bittend erhobenen Händen, sprachlos, schwer atmend, stand sie vor ihm.
»Was willst du von mir? Sprich! Du darfst hier nicht bleiben.«
Immer noch schien sie nach Worten zu ringen. Ihre Augen hefteten sich mit wunderbarem Glanze an die seinen und dann trat sie plötzlich dicht vor ihn hin – und sank laut aufstöhnend ihm zu Füßen.
»Was soll das?« rief er bestürzt. »Ich bitte dich, stehe auf! Um alles in der Welt keine Komödie!« Er faßte sie fast hart um die Arme und suchte sie aufzurichten.
Da umklammerte sie leidenschaftlich seinen Körper, bog 98 den Kopf weit zurück und blickte mit Augen voller Thränen flehend zu ihm empor.
»Was willst du?« sagte er etwas sanfter. »Ich kann dich hier nicht anhören. Versuche unbemerkt in den Park zu kommen – ich will dir dahin folgen.«
Aber sie achtete seiner dringenden Mahnung nicht. Es schien, als hätte sie seine Worte gar nicht verstanden. Sie starrte nur wie verzückt zu ihm empor, und dann endlich sagte sie ganz leise, mit tief zu Herzen dringendem, bebendem Geflüster: »Vergib mir, mein Rolf, vergib mir! Ich liebe dich unsäglich – ich kann nicht ohne dich leben!«
Mit einem heftigen Ruck machte er sich von ihr los, trat einen Schritt zurück und streckte gebieterisch die Hand nach der Thür aus. »Geh!« rief er heiser. »Zwischen uns ist alles aus! Glaube nicht, daß du mich noch einmal schwach sehen wirst. Dein ganzes Leben ist Lüge gewesen von jeher. Hättest du mich je geliebt, dann hättest du nicht so grausam mein Leben zerstören können. Wozu also die erbärmliche Komödie!«
»Es ist wahr,« sagte sie, »ich habe mich schmählich gegen dich vergangen – ich war ein eitles, selbstsüchtiges Geschöpf – ich war deiner Liebe nicht wert – ich habe sie schändlich ausgebeutet, um mein elendes Dasein mit hohlem Glanze zu füllen – in einem ewigen Rausche Entschädigung zu suchen für die Leere, die das Aufgeben meiner Kunst in meiner Seele gelassen hatte.«
»Das lügst du wieder! Du bist niemals eine echte Künstlerin gewesen. Die Bühne hat dir gerade so wie die Ehe nur dazu dienen sollen, deine maßlose Selbstsucht und Eitelkeit zu befriedigen. Deine Rollen hast du ebensowenig ernst genommen, wie nachher deine Pflichten als Hausfrau, als Gattin und Mutter. Wenn du mir nach einiger Zeit gesagt hättest: ›Laß mich fort – ich kann ohne meine Kunst nicht leben,‹ dann hätte ich dich sicherlich nicht zurückgehalten und meinen Namen nicht entehrt geglaubt, wenn eine wahre Künstlerin ihn in die Oeffentlichkeit getragen hätte. Aber eine solche Sehnsucht hat dich nie angewandelt – leugne es nicht! Die leichten Triumphe, die deine wenig wählerische 99 Gefallsucht in der Gesellschaft dich feiern ließ, waren dir weit wertvoller, als der Pöbelbeifall, den deine erlogene Kunst fand. Im Salon fühltest du dich als große Schauspielerin – auf der Bühne konnte ein Hauch von Natur und Empfindung den ganzen Zauber deiner Reize vernichten. Du bist viel zu klug, um das nicht selbst empfunden zu haben! – Was hinderte dich denn, jetzt wieder zur Bühne zu gehen, wenn der Drang so mächtig in dir wäre? Aber du ziehst ja auch jetzt noch das Komödienspiel in der Gesellschaft weit vor. Es wäre mir wahrhaftig lieber, du trätest als Frau von Norwig in Krähwinkel auf, als daß du hier unter falschem Namen dich in ein Haus einschleichst, das . . .«
»O schweig! Wie kannst du mich so verkennen? Was anders hat mich denn in die Heimat zurückgetrieben, als die Hoffnung, dich wiederzufinden? Ist nicht der Zufall, der uns hier zusammenführte, ein deutlicher Wink des Schicksals? Kannst du nicht vergessen? Habe ich dir nicht auch so viel zu vergessen? – Und doch liege ich hier und bettle demütig um deine Liebe – die Liebe, die du mir einst mit tausend Eiden zugeschworen hast!«
Er trat rasch auf sie zu, blickte ihr finster ins Auge und rief: »Ich sage dir, du lügst wieder! Warum der erborgte Name, warum dies unwürdige Versteckspiel, warum all der Hohn, die Drohung? . . .«
»Ich wählte die Maske, weil dein Name hier in Deutschland uns beiden gefährlich werden konnte. Ich habe sie beibehalten, wahrhaftig mehr um deinet- als um meinetwillen. Kann es dich wundern, wenn zunächst der tiefe Groll sich Luft machte, den ich gegen dich hegen mußte? Du magst recht haben mit allem, was du mir hier vorwirfst – ich bin deiner Liebe unwert gewesen. Aber als du mich verließest, mein Kind mit dir fortnahmst und für mich verschollen bliebst – Jahr und Tag – da begann sich erst die große Leere in meinem Herzen fühlbar zu machen. Und als ich hörte, daß du dich nun auch vor dem Gesetz von mir scheiden wolltest, da ergriff mich eine furchtbare Sehnsucht – da erst, das gestehe ich dir heute, da erst begann 100 ich dich zu lieben. Es war die Liebe, die mich über das Meer zu dir trieb!«
Norwig lachte kurz auf: »Damals hast du anders gesprochen. Ich sehe noch die wilde Schadenfreude aus deinen Augen blitzen, als du erfuhrst, daß es dir gelungen war, mir abermals die Möglichkeit eines neuen Glückes, eines würdigen Lebens zu zerstören.«
»Zeige mir die Frau, die nicht zur Furie würde, wenn sie sich so schmählich verraten sieht!« rief sie laut.
»Schweig, ich bitte dich – die Wände haben hier Ohren!«
»Siehst du, wie du zitterst vor den Folgen deines Verbrechens!« Sie erhaschte seine Hand und sah, sie fest zwischen ihre beide pressend, mit lohnenden Blicken zu ihm empor. »Ich zittere nicht vor der Entdeckung meines Betruges. Bedingungslos will ich mich dir hingeben und dir folgen unter welchem Namen du willst. Und wenn die Strafe dich ereilt – sie muß dich ereilen, denn diese Menschen sind unversöhnlich – dann will ich die ganze Schwere deiner Schmach mit dir tragen – und das alles, weil ich dich liebe, weil ich nicht ohne dich leben kann!« Sie schluchzte laut auf und bedeckte seine Hand mit brennenden Küssen.
Er ward wider seinen Willen ergriffen. Er fürchtete sich, ihrem Auge zu begegnen, und versetzte, düster zur Seite blickend: »Es ist zu spät. Ich habe dich zu oft in deiner wahren Gestalt gesehen. Ich will glauben, daß diese Regung dir aus dem Herzen kommt, aber ich kann nicht glauben, daß sie andauern wird. Kein Mensch ändert seine Natur so völlig – du bist nun einmal nicht zum Dulden und Entbehren geschaffen. Verlasse dieses Haus – und ich will versuchen, deiner ohne Groll zu gedenken.«
»Du weisest mich von dir wie eine Schuldige,« sagte sie mit mildem Vorwurf. »Haben wir nicht beide schwer gefehlt? Konntest du von mir erwarten, daß ich mich so ohne weiteres in die Stellung einer Landedelfrau hineinfinden würde, ich, ein Schauspielerkind, das kaum eine andre Natur kannte, als die gemalte der Coulissen. Ich war ja so jung und lebenslustig – hast du wirklich geglaubt, daß ich ohne 101 Verkehr, ohne Vergnügen, ohne allen nervösen Reiz des Gesellschaftslebens glücklich sein könnte? Warum hast du allen meinen Wünschen nachgegeben? Wenn du nicht selbst eitel auf mich gewesen wärst, hättest du ja meiner unsinnigen Verschwendung beizeiten einen Riegel vorschieben können. Und wenn ich auf deine Ermahnungen nicht hörte, warum hast du nicht Gewalt gebraucht? Du hättest mich einsperren, hungern lassen, mich schlagen können – ich hätte es dir alles vergeben und vergessen, denn ich hätte doch daraus gesehen, daß du um keinen Preis mich aufgeben wolltest, daß dir daran lag, den Dämon meiner Eitelkeit zu besiegen – mich zur Liebe zu zwingen!«
»Dich zwingen? Wer vermöchte überhaupt ein herzloses Weib zu irgend etwas zu zwingen? Mein Gedächnis ist nicht so kurz, daß du mir dergleichen vorgaukeln könntest. Habe ich nicht, schon ehe noch unsre Flitterwochen abgelaufen waren, deine furchtbare Herzensleere, deine völlige Gemütlosigkeit erkennen müssen? Und als das Kind geboren war und ich es erleben mußte, wie ein Weib selbst den Naturtrieb der Mutterliebe verleugnen kann, da starb die Liebe in meinem Herzen völlig ab, und was zurückblieb, war nur noch die halb wahnsinnige Sehnsucht meiner Sinne, die deine verruchte Koketterie immer noch lebendig zu erhalten wußte. Du zwangst mir die schmachvolle Rolle eines eifersüchtigen Ehemanns auf und triebst die Frechheit so weit, mich im Beisein deiner Liebhaber zu verspotten.«
»O, Rolf, was habe ich dir gethan!« rief sie in tiefer Zerknirschung, als gingen ihr jetzt erst die Augen auf über die wahre Größe ihrer Verworfenheit. »Hättest du mich doch damals vor allen den Leuten ins Gesicht geschlagen – das hätte mich zur Erkenntnis gebracht! Ich fühle es heute – das hätte mich gerettet!«
»So? Wirklich? Erinnerst du dich nicht mehr deiner Worte, als ich wirklich einmal die Hand zum Schlage gegen dich erhob, damals, als unser Bill im Fieber lag und du durchaus zum Balle fahren wolltest? – ›Schlage mich nur‹ – sagtest du ganz kühl – ›dann lasse ich mich wegen Mißhandlung scheiden. Du mußt mir noch eine Rente zahlen 102 und über neun Monate beglücke ich irgend einen andern mit meiner Hand – den erlauchten Büsterloher zum Beispiel – er ist reicher als du und hat dabei noch den Vorzug, so dumm wie ein Puter und so verliebt wie ein Frosch zu sein!‹ – Du siehst, ich habe sogar deine geschmackvollen Vergleiche auswendig behalten – du wußtest mir jede Stunde, die wir miteinander allein waren, zu einer wahren Höllenqual zu machen. Ich sah meinen Ruin vor mir – und ich ließ mich mit vollem Bewußtsein mit in den Strudel hineinreißen, denn ich wußte, daß du das Leben der Entbehrung und der Arbeit, das meiner wartete, nicht mit mir teilen würdest. Du hättest dich dann doch endlich einem andern an den Hals geworfen – und ich wäre befreit gewesen!«
»Du weißt, es kam nicht so. Ich bin dir treu geblieben, selbst nachdem du mich mit dem Kinde heimlich verlassen hattest. Der Verdacht, auf den hin du dich scheiden lassen wolltest, war grundlos – ich schwöre es dir!«
»Das weiß ich, aber ich weiß nicht, ob nicht kühnere Bewerber mehr Glück bei dir gehabt haben. Doch wenn das auch nicht der Fall gewesen wäre, so wärest du doch nur standhaft geblieben, um deine Rache wirksamer zu machen. Diese Zurückhaltung läßt dich unendlich viel verworfener erscheinen, als ein heißblütiges Weib, das im Rausche einer unwiderstehlichen Leidenschaft ihre Pflichten als Gattin verletzt. Hat dich deine Treue je einen Kampf gekostet? Nein! Du wartetest nur die Zeit ab, um deinen Haß befriedigen zu können. Du wolltest deine Stellung in der Gesellschaft verbessern – und das konntest du nur, wenn du eine Scheidung zu deinen Gunsten erreichtest. Du wärest mir nicht nach Amerika nachgekommen, wenn du nicht erfahren hättest, daß ich mich dort emporgearbeitet hatte, daß es mir gut ginge. Ein amerikanisches Abenteuer war ganz nach deinem Sinn – und du magst wohl schon im voraus geschwelgt haben im Genusse deiner befriedigten Rachsucht. Was hast du in New York getrieben nach meiner Flucht?«
»Ich habe mich mit den Clarks verbunden, dir nachzuspüren, um dich deiner Strafe zuzuführen,« erwiderte sie reuig. »Aber seitdem ich dich nun wirklich gefunden hatte, 103 da schwanden mir alle Rachegedanken. In diesem freudlosen Jahre bin ich zur Besinnung gekommen über mich selbst, und ich habe gelernt die Welt zu erkennen, seit ich genötigt war, mir unter Fremden mein Brot zu verdienen. Und als ich dich hier wiederfand, als ich sah, wie du, der du zum Dienen gekommen warst, dich sofort und ohne Widerspruch zum Herrscher aufwerfen konntest in diesem Inselreiche des geistlosen Hochmuts und der pfäffischen Beschränktheit, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, da erkannte ich erst deinen wahren Wert – und liebte dich mit der ganzen Glut einer ersten, reinen Liebe!«
»Worte, Worte, nichts als Worte! Du hast dir deine Rede herrlich einstudiert! Aber das verfängt jetzt alles nicht mehr. Auch mir sind in diesem Inselreiche – der Ausdruck ist wirklich gut – auch mir sind hier die Augen aufgegangen über die verhängnisvolle Thorheit meiner Jugend. Hier ist es mir erst klar geworden, was in unsrer Zeit ein Edelmann sich schuldig ist! Beschränkt mögen diese Menschen sein, aber sie sind aus edelm Stoff gemacht, sie sind kerngesund, weil sie wahr sind gegen sich selbst. Ich will jetzt auch wahr sein gegen mich – weißt du, was ich thun werde? Ich werde mich selbst den Gerichten stellen, ich werde meine Strafe auf mich nehmen, und dann werde ich hingehen und die Scheidung von dir verlangen! Und diesmal werde ich durchdringen! Dank dem Zufall, der diesen Fink ins Haus führte, werde ich dir beweisen können, was das Gesetz verlangt. Der junge Wuvermann . . .«
Mit wutfunkelnden Blicken war sie emporgesprungen und unterbrach ihn nun fast schreiend: »Und dann willst du diese garstige, plumpe Person heiraten, die dir das alles zugetragen hat, der du im Pferdestall Liebeserklärungen machst . . . ah! Laß doch sehen, was du da für ein kostbares Schriftstück so eilig zu verstecken hattest!« Mit einem Sprunge war sie am Schreibtisch und hatte, ehe er es verhindern konnte, die beschriebenen Briefbogen an sich gerissen.
Er versuchte sie von hinten zu umfassen, um ihr die Arme an den Leib zu drücken. Doch sie drehte sich mit einem 104 kräftigen Ruck herum und stieß ihn mit beiden Händen vor die Brust, so daß er einen Schritt zurücktaumelte.
Einen Blick warf sie auf das zerknitterte Papier in ihrer Rechten und las laut die Worte: »Sie, teuerste Komteß, werden die Verworfenheit dieses Weibes . . .«
Er umspannte mit eisernem Griff ihre Rechte. »Nicht weiter!« knirschte er.
»Ist auch nicht nötig,« höhnte sie. »Ich weiß genug!« Und blitzschnell griff sie mit der freien Linken zu und riß die Papiere in Fetzen auseinander.
Er ließ sie los und trat erbleichend zurück. Unfähig zu sprechen, wies er mit bebenden Lippen nach der Thür.
»Ja, ich gehe,« sagte sie kurz auflachend. »Und da – so werfe ich dir deinen Namen und all den lächerlichen Plunder vor die Füße! Du hast es nicht anders gewollt – du sollst bald von mir hören!«
Noch einmal riß sie die Stücken durch und warf sie heftig vor ihn hin, so daß sie weit zerstreut über die Diele hinflatterten. Dann verließ sie raschen Schrittes das Zimmer.
Rolf Norwig sank wie gelähmt in den Sessel vor seinem Schreibtisch und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Als Josephine von Norwig aus der Hausthür trat, stand Inspektor Reusche vor ihr. Er stieß einen Ruf der Ueberraschung aus und sagte: »Haben Sie mich dort gesucht, Sophie? Ich glaubte schon . . . Ach, du bist ein süßer Schelm!«
Er wollte sie umarmen, aber sie entzog sich ihm behende und rief verächtlich: »Was fällt Ihnen ein?« Und ohne ihn noch weiter eines Blickes zu würdigen, schritt sie eilig davon.
Der Inspektor war aus allen Himmeln gefallen. »Falsche Schlange!« murmelte er grimmig und trat über die Schwelle. – –
Komteß Marie hatte nicht lange auf ihrem Beobachtungsposten auszuharren gebraucht. Schon nach etwa zehn Minuten hatte sich Lines schlurfender Schritt wieder auf dem Kies vernehmen lassen. Die Komteß war sofort nach der 105 Hausthür geeilt, hatte aufgeschlossen und sodann, die beiden Hunde am Halsband festhaltend, Lines Eintritt abgewartet.
Das Mädchen mußte das Knacken des Schlosses überhört haben, denn es trat arglos herein und kreischte laut auf, als es die hohe Gestalt ihrer jungen Gebieterin mit den knurrenden Hunden zur Seite so unvermutet vor sich stehen sah.
»Wo warst du, Line?« frug die Komteß streng.
»Ach Gott, ach Gott! Ick . . . wär man'n bäten in'n Gaarden. Dat Fröln het mi seggt, ick süll man nah'n bäten nah den Mand kieken, de schint so schön!«
»Ist das Fräulein etwa auch im Garten?«
»Dat weit ick nich. Dat Fröln het mi blot de Döhr upsloten, un denn, seggt dat Fröln, ick sall nah'n bäten täuwen, bis de Klock Twölfe sleiht. Ach Gott, gnä Kunteß, ick wihr ja nich alleen rut – dat Fröln her mi blot tum Narren hallen woll'n!«
»Schon gut, Line, schon gut! Lat mi man blot mit din Fröln tofräden. Geh to Beer un holl din Mul, sust – du weitst woll as dat Sprüchwurt seggt: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht sorgen.«
Das Mädchen brach in Thränen aus und schlich sich zitternd davon. Die Komteß aber schloß wieder zu und setzte sich sodann auf die Bank im Vorplatz. Wiederum hatte sie nur wenige Minuten gewartet, als die Klinke vernehmlich heruntergedrückt wurde. Rasch war sie zur Stelle und öffnete. Lord, den sie dabei hatte loslassen müssen, war mit einem Sprunge draußen und hätte fast die erschrockene Frau von Norwig rückwärts die steinernen Stufen hinunter gestoßen. Unwillkürlich war sie über die Treppenwange auf den Rasen heruntergesprungen und drückte sich aufschreiend an die Wand, um sich den Rücken zu decken.
»Zurück, Lord!« rief die Komteß gedämpft.
Aber die Tiere waren durch das Ungewöhnliche dieses nächtlichen Abenteuers, durch das Warten unruhig geworden und sahen in der ihnen noch nicht vertrauten Person der Stütze den erwarteten Feind. Lord gehorchte nicht gleich, sondern sprang an der angstvoll in die Ecke gedrückten Frau 106 hinauf, freilich ohne nach der gutmütigen Art seiner Rasse zuzubeißen. Auch Lady zerrte so heftig vorwärts, daß Komteß Marie die Treppe mit hinunter mußte. Dann aber gelang es ihr, auch Lord wieder beim Halsband zu fassen und beide Tiere mit aller Kraft zurückzureißen. Während sie noch damit beschäftigt war, die Hunde zu beruhigen, vermochte Frau von Norwig Atem zu schöpfen und sich zu sammeln.
»Ah, bravo Komteß!« keuchte sie mühsam hervor und preßte ihre beiden kleinen Fäuste gegen ihre heftig arbeitende Brust. »So ist es recht – hetzen Sie nur Ihre Hunde auf die Leute, die Ihnen ein Dorn im Auge sind! Das ist vermutlich sehr aristokratisch!«
»Schweigen Sie und antworten Sie mir, was ich Sie frage!« herrschte die Komteß sie an. »Wo kommen Sie her?«
Mit vorgebeugtem Nacken, wie eine zum Sprunge bereite Katze, trat das falsche Fräulein auf die Komteß zu. Sie war fast um zwei Kopfeslängen kleiner als diese und sah hohnlächelnd zu ihr empor, so daß ihre dunkeln Augensterne fast unter den Lidern verschwanden und das Weiße unheimlich glänzte. »Wo ich herkomme? Nun, Ihnen kann ich es ja sagen – aus dem Zimmer meines Mannes.«
Die Komteß war keines Wortes mächtig. Sie mußte ihre ganze Kraft zusammennehmen, um dieser Frau gegenüber ihre Haltung zu bewahren.
Und jene fuhr fort: »Leider störte ich ihn bei einer sehr wichtigen Beschäftigung. Er war im Begriff, für eine gewisse ›teuerste Komteß‹ seine Memoiren zu schreiben. Sie verdenken es mir hoffentlich nicht, daß ich so frei war, dies kompromittierende Schriftstück zu vernichten!«
»Das haben Sie gethan? Was glauben Sie damit erreicht zu haben?« entgegnete die Komteß. »Sind Sie noch nicht überzeugt davon, daß für Sie kein Raum in diesem Hause ist? Sie werden es morgen verlassen!«
»Allerdings werde ich das, und zwar ohne Sie zu fragen.«
»Hoffen Sie nicht, daß man Sie weiter schonen wird aus Furcht vor Ihren Drohungen. Was Herr von Norwig 107 auch gefehlt haben mag, den Dank hat er sich um uns verdient, daß wir ihn vor der Schmach der Lüge befreien, die Sie ihm aufzwingen wollen. Da Sie einmal wissen, daß ich Ihre Beziehungen kenne – ich ahnte sie von dem Augenblick an, als ich Sie in sein Zimmer treten hörte in der ersten Nacht Ihres Hierseins! – so mögen Sie auch wissen, daß ich alles daran setzen werde, um die Beweismittel zur Stelle zu schaffen, wie unwürdig Sie sich seiner gezeigt haben.«
»Und sich dann selbst an meine Stelle setzen – ha ha! Entschuldigen Sie, meine gnädigste Komteß, daß ich lache! Ihr Schicksal ist wirklich tragikomisch! Der erste Mann, der Ihr stolzes Herz zu rühren vermochte – Ihr Achilles, schöne Penthesilea – er hat einen dummen Streich begangen, eine Mesalliance – du lieber Gott, das kommt in den besten Familien vor! Man beweist einfach der Person einen kleinen Fehltritt – der nötige junge Mann stellt sich ja wie gerufen ein! – und dann reicht man ihm selbst die allergnädigste gräfliche Hand und sühnt damit den Frevel wider das blaue Blut.«
»Unverschämte – ich verbitte mir diese Sprache!«
»Haben Sie nicht auch einen Revolver in der Tasche?« höhnte die zierliche Furie weiter. »Ich möchte mich nicht gern in einen Kampf mit diesen Vierfüßlern einlassen – da ich leider nicht über Ihre Körperkräfte verfüge, Komteß!«
Die Komteß schleppte sich die Stufen wieder hinauf und betrat mit den beiden Hunden den Vorplatz. Dort ließ sie sie los und jagte sie in ihren Verschlag zurück.
Frau von Norwig war ihr ins Haus gefolgt und hatte die Thür hinter sich zugeschlossen. Mit herausfordernd erhobenem Haupte wartete sie die Rückkehr der Komteß ab. Diese wollte stumm an ihr vorbei die Treppe hinaufschreiten, als sie sie mit gedämpfter Stimme nochmals anredete: »Nur ein Wort, Komteß!«
»Ich habe keine Lust, Ihre Insulten weiter anzuhören.«
»Ich will auch nur meinem Manne die Mühe sparen ein zweites Manuskript zu verfassen. Ich war ja auch mit meiner Tragikomödie noch nicht fertig! Also denken Sie 108 sich: wenn Sie mich arme Unwürdige auch wirklich in mein Nichts zurückstoßen – ha ha! – so ist er darum doch noch nicht frei für Sie, denn . . .« Sie trat dicht an die Komteß heran und flüsterte ihr langsam und deutlich, jede Silbe betonend, ins Ohr: »Er hat noch eine zweite Frau in Amerika, die nur darauf wartet, daß ich ihr seinen Aufenthalt verrate, um ihn den Gerichten auszuliefern.«
Komteß Marie mußte sich an das Treppengeländer anklammern, um nicht umzusinken. »Eine zweite Frau!« stöhnte sie heiser.
»Ja, so ist es – Bigamie nennt man das ja wohl? Er hat ein so weites Herz, mein teurer Gatte! Die Dame, Miß Clark hieß sie, wenn Sie es wissen wollen, verliebte sich in ihn, wie Sie, Komteß! Er war bei ihrem Vater in Stellung und sollte als Teilhaber in das Geschäft eintreten, wenn er die Tochter mit in den Kauf nehmen wollte. Es wäre doch unritterlich gewesen, einer werbenden Dame einen Korb zu geben, nicht wahr? Zudem war Miß Clark gar nicht so übel, eine sehr energische, gebildete junge Dame – wie Sie, Komteß! Und dabei eine stattliche Erscheinung – hm – wie Sie, Komteß! Was that es, daß sich Norwig als Witwer ausgegeben hatte? Eine Scheidung mußte sich leicht bewerkstelligen lassen. Ein guter Freund empfahl ihm Ihren edeln Vetter Karl Egon Emich als Sündenbock – aber leider hatte der gute Graf niemals an so unmoralische Dinge gedacht! Und außerdem ging die Sache unsre Gerichte nichts an, weil mein Mann seinen Wohnsitz drüben hatte. Als ich etwa drei Wochen später in New York ankam, da war das Unglück geschehen und unser gemeinschaftlicher Gatte sah sich veranlaßt, sich in die Pampas zu flüchten. – Da haben Sie den ganzen Roman. Nun fehlte nur noch, daß wir nach Salt Lake City auswanderten und Sie sich als Dritte im Bunde ihm ansiegeln ließen! – Und nun wünsche ich wohl zu schlafen, Komteß!«
Sie streifte die zierlichen Schuhe von den Füßen und huschte leicht wie eine Sylphe die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. – –
Die Hausuhr verkündete dumpf die erste Stunde des 109 neuen Tages, als Komteß Marie aus einer tiefen Ohnmacht zu sich kam. Schwerfällig schleppte sie sich hinauf in ihr Zimmer. Gegen Morgen erst scheuchte der barmherzige Schlaf das wilde Heer quälender Gedanken von ihrem Lager.