Ernst von Wolzogen
Die tolle Komteß
Ernst von Wolzogen

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Drittes Kapitel.

In welchem die tolle Komteß einem Ochsen das Leben, und Herr von Norwig seine Ehre als Reiter, wie als vernünftiger Mensch rettet, und endlich Fräulein Sophie erklärt, daß er eine ganz andre Nase habe.

Die Alpenlandschaft auf den Rollvorhängen des kleinen Fremdenzimmers leuchtete in hellen Farben, als Herr von Norwig am andern Morgen die Augen aufschlug. Und als er zehn Minuten später das Fenster weit öffnete, da strömte ihm mit taufrischem, wonnig belebendem Hauche die lichtdurchflutete Herbstluft entgegen. Der Himmel war von einer wunderbar durchsichtigen Bläue, durch welche nur einige vereinzelte Flockenwölkchen langsam dahinsegelten, so lustig und mühlos, wie etwa Fischer am Sonntage mit der Herzliebsten allein auf den stillen See hinausfahren mögen.

34 Die bunten Wipfel des Parkes rauschten so leise und friedlich, wie die Kleider der Frauen in der Kirche, ehe die Predigt beginnt. Norwig sah eine lange Allee von dunklen Tannen hinunter, welche hügelab einem kleinen Teich zuführte, dessen Wasserspiegel fast ganz bedeckt war von den großen schwimmenden Blättern der weißen Wasserrosen. Darüber hinaus dehnte sich die weite Hügellandschaft in die klare Ferne, wie mit einem steifgemusterten Teppich überdeckt. Streifen gelben Stoppelfeldes wechselten ab mit grünen Matten und braunen, frisch gepflügten Feldern. An einigen Stellen konnte er zwischen den Bäumen hindurch das eiserne Stabgitter erkennen, welches den Park abschloß. Dort versuchte eine rotbunte Kuh vergebens, ihren großen Kopf zwischen zwei Stäben hindurch zu stecken. Sie gab den Versuch mißmutig brummend auf und eilte dann mit raschen Sprüngen klingelnd davon. Dicht unter dem Fenster lärmte eine Spatzenschar durcheinander, bis plötzlich, Norwig wußte nicht woher, mit schwerem Flügelschlage ein Pfauhahn herabgeflattert kam und die Zankenden auseinander jagte.

Der Gärtnerbursche trollte mit einem leeren Schubkarren pfeifend den Tannengang hinunter, hinter ihm her, mit schwerfälligem Geblaff, zwei mächtige Bernhardiner. Die drei verloren sich in einem Seitenwege, und dann herrschte wieder die Stille von zuvor, nur von dünnen Vogelstimmchen hin und wieder träumerisch unterbrochen. Es war ein Tag wie geschaffen zum Beginnen eines neuen Lebens. Ein Tag wie geschaffen, einen Friedensvertrag mit dem Schicksal zu unterzeichnen und nach langer, wüster Kriegsarbeit wieder frohgemut zum liebgewohnten Spaten zu greifen.

Es war für ländliche Verhältnisse schon etwas spät geworden, und Herr von Norwig beeilte sich, zum Frühstück hinunterzukommen. In der That hatte die gräfliche Familie ihren Kaffee bereits getrunken, nur Komteß Vicki, welche immer und überall zu spät kam, saß noch am Frühstückstische, stippte 35 ihren Zwieback in den kalten Kaffee und machte dabei hin und wieder einen Klecks auf das Buch, in welchem sie eifrig las. Mit einiger Befangenheit bequemte sie sich dazu, für Herrn von Norwig die Wirtin zu spielen.

»Darf man fragen, was Sie da lesen, Komteß?« eröffnete Norwig das Gespräch.

»Ach, es ist ein reizendes Buch – von Ebers. Ich vergesse immer, wie es heißt.«

Er nahm ihr den schmutzigen, abgegriffenen Band aus der Hand und sah nach dem Titel: »Homo sum« las er. »Ei ei, Komteß, in dieser Gesellschaft von ungewaschenen Einsiedlern befinden Sie sich wohl?«

»Aber Mama sagt doch, es wäre so christlich!« gab das große Mädchen kleinlaut zurück.

»Dieses Exemplar wenigstens,« lachte Herr von Norwig, »steht schon recht bedenklich im Geruch der Heiligkeit!« Er näherte das Buch vorsichtig seiner Nase. »Oh, puh! Wissen Sie auch, was für einen Höllenbrodem Sie entfesseln, welche ungezählten Heere von Bacillen greulichster Sorte Sie gegen sich selber loslassen, indem Sie in solchem Buche blättern? Leihbibliotheksschmöker halten sich erfahrungsmäßig in Krankenstuben am liebsten auf. Wie können Sie mit Ihren zarten weißen Fingern solch eine schmutzige Scharteke nur anfassen.«

Das gescholtene Komteßchen machte ein ängstlich betrübtes Gesicht. »Aber die Bücher aus der Leihbibliothek in Teterow sind doch alle so!«

»Da müssen Sie Ihren Herrn Vater bitten, daß er Ihnen neue Bücher schenkt. Sie würden doch gewiß kein Kleidungsstück anziehen, das aus dem Trödel gekauft ist, und das vor Ihnen doch irgend ein schmutziger oder gar kranker Mensch getragen haben kann. Aber Ihre Lektüre beziehen Sie unbedenklich aus dem Spittel! Wie reimt sich das zusammen?«

»Aber wir kaufen doch keine weltlichen Bücher!« rief Vicki weinerlich. »Mama ist auf vierzehn evangelische 36 Wochenblätter abonniert, Papa auf die Kreuzzeitung und die Mecklenburgische Landeszeitung – und die sind alle so gräßlich langweilig!«

»Nun, seien Sie nicht so betrübt, Komteß!« tröstete Norwig. »Vielleicht gelingt es mir, das Vertrauen Ihrer Eltern zu gewinnen, und dann will ich gern das Meinige dazu thun, um Ihnen zum mindesten eine saubere, nicht gesundheitsgefährliche Lektüre zu verschaffen.«

»Ach ja, versprechen Sie mir das!« rief Vicki freudig aus und streckte ihm ihre fleischige Hand entgegen, in die er lächelnd einschlug.

Komteß Marie kam herein. Sie hatte einen Herrenfilzhut auf dem Kopf und trug die Schleppe ihres dunkelgrünen Reitkleides über den linken Unterarm geschlagen.

»Morgen, Herr von Norwig!« rief sie mit ihrer angenehmen tiefen Stimme; »Sie schlafen doch nicht immer so lange?«

Er kam sich wie ein gescholtener Knabe vor und stammelte, wirklich verlegen, einige Entschuldigungen.

»Ja, wissen Sie, wir steh'n hier höllisch früh auf. Langes Toilettemachen und andern solchen Frauenzimmerkram kennen wir hier nicht. Wissen Sie auch, daß Sie den Morgensegen versäumt haben? Mama zieht sich schon zur Kirche an. Ich war heute schon zu Pferde und freute mich darauf, ein Stündchen mit Ihnen zu reiten. Wissen Sie, es schläft sich danach besser in der Predigt.«

»Ach! Du!« rief Komteß Vicki mit drollig entsetztem Blick. »Na, ich habe nichts gehört!« Und dann drehte sie sich wie ein Kreisel ein paarmal auf dem Absatz herum und lief mit ihrem »Homo sum« zum Zimmer hinaus.

Komteß Marie lachte und klopfte mit der Reitgerte ein Stäubchen von ihrem Kleide. »Nun kommen Sie aber rasch!« rief sie dem neuen Verwalter in befehlendem Tone zu. »Wir werden Papa schon irgendwo draußen finden.«

37 Sie ging mit großen Schritten voran und er folgte ihr gehorsam die Treppe hinunter aus dem Schlosse.

Die mit gelbem Kies bestreute Auffahrt bog sich im Halbkreis um die Rampe des Schlosses herum und fiel auf beiden Seiten ziemlich steil ab. Eine beschnittene Hecke faßte diese Auffahrt ein, und eine steile Rasenböschung baute sich wallartig darunter auf, an deren Sohle ein Abfluß jenes Teiches, den Norwig von seinem Fenster aus schon durch die Bäume schimmern gesehen, vorbeizog, welchen der Fahrweg auf zwei steinernen Bogen überbrückte. Hinter diesen Brücken vereinigten sich die beiden Wegbogen wieder zu einer breiten Fahrstraße, welche, ein wenig ansteigend, durch eine mächtige Pforte von reicher Schmiedearbeit in den weiten, gepflasterten Hof führte, um welchen die Stallungen, Scheunen und sonstigen Wirtschaftsgebäude herumlagen.

An jenem Thor angelangt, wandte sich Norwig, um zum erstenmal die Vollansicht des gräflichen Schlosses zu genießen. Es war kein Meisterwerk der Baukunst, es zeigte keinen ausgeprägten Stil, aber mit seinen zwei Stockwerken, den hohen gotischen Fenstern im Mittelgeschoß, dem vielgiebligen Schieferdach und dem plumpen, eckigen Turme, der links hinten über das Dach beträchtlich hervorragte, sah es doch burgmäßig genug aus.

Norwig äußerte sich in diesem Sinne gegen seine hohe Begleiterin, während sie den Ställen zuschritten. Sie fanden den Grafen im Ochsenstall, wo er mit dem Hofmeister und einer ganzen Anzahl von Knechten und Mägden beschäftigt war, einem unglücklichen Ochsen Hilfe zu leisten, welcher sich an saftigem Klee überfressen hatte und nun nahe daran schien, an der Windsucht zu verenden. Das arme Tier war unförmlich aufgebläht und ließ den Kopf traurig hängen. Von Zeit zu Zeit stieß es ein todesbanges, kurzatmiges Gestöhn aus.

Der Graf nahm eben seine Mütze ab und trocknete sich mit seinem großen rotseidenen Tuche die Stirn. »38 Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht erwartet habe,« redete er Norwig an. »Man rief mich hierher. Da sehen Sie das Malheur! Mein schönster Ochse ist heute zum Sonntagsvergnügen über den Klee gelassen worden – und natürlich frißt sich das dumme Biest tot; er kann jeden Augenblick platzen.«

»Ist denn kein Tierarzt in der Nähe zu beschaffen?« versetzte Norwig ziemlich ratlos. »Das Tier müßte trokariert werden.«

»Ja, sehen Sie,« sagte der Graf und stieß ärgerlich die Zwinge seines derben Krückstockes gegen den Asphalt: »Der Brinkmann, der Windhund, der ja einen tierärztlichen Kursus durchgemacht und solche Dinge zu besorgen hat, den habe ich nach der Bahn geschickt, um das neue Fräulein abzuholen. Jetzt sitzen wir da mit der Bescherung; denn er hat das Trokar bei sich eingeschlossen.«

Während die Herren so hin und her redeten, hatte sich Komteß Marie die Handschuhe ausgezogen und mit ihrer schönen großen Hand vorsichtig die Flanken des kranken Tieres befühlt. Jetzt hielt sie inne, drückte den Daumen auf eine bestimmte Stelle und rief einen der Knechte an: »Jochen, hol mi mal dat Kleed up!«

Und während der junge Geselle mit verlegenem Grinsen ihrem Befehl nachkam und die Schleppe ihres Reitkleides so ungeschickt und ängstlich in seinen Fäusten hielt, wie etwa ein alter Junggeselle einen Täufling in der Kirche hantiert, rief Komteß Marie: »Hat nicht jemand ein scharfes Taschenmesser bei sich?«

Ein Ausruf der Ueberraschung entfuhr allen.

»Na, hör' mal, Marie,« sagte der Graf und legte die Hand auf ihre Schulter, »das ist mir denn doch ein bißchen zu viel riskiert.«

»Wenn er daran verendet, kannst du mir den Ochsen von meinem Nadelgelde abziehen!«

Herr von Norwig reichte ihr sein noch ziemlich neues 39 Taschenmesser hin. Es war ein sogenannter Genickfänger, zum Feststellen, mit Hirschhorngriff. »Komteß wollten es wirklich wagen?«

Sie ergriff rasch das Messer, richtete, ohne ihm zu antworten, die Aufforderung an die Umstehenden, wohl achtzugeben, daß das Tier nicht um sich schlage, und dann setzte sie vorsichtig die Spitze des Messers auf die Stelle, welche sie mit dem Daumen festgehalten hatte, und trieb es durch einen wuchtigen Schlag mit geballter Faust dem Tier in die Seite.

Das Blut bespritzte ihre weiße Hand und besudelte auch ihr Kleid. Der Ochse brüllte auf und machte den haltenden Männern gewaltig zu schaffen – aber sie hatte die richtige Stelle getroffen. Das Gas entwich und das wertvolle Tier war gerettet.

Man hielt sich noch eine ganze Zeit lang im Stalle auf, bis es den vereinten Bemühungen der Leute gelungen war, das Tier zu beruhigen und die Geschwulst vollends wegzustreichen. Dann erst verließ der Graf mit seiner Tochter und Norwig den Stall.

An der Pumpe wusch sie sich das Blut von der Hand und dann trocknete der Vater sie ihr mit seinem seidenen Tuche und führte sie galant an seine Lippen.

»Ich verdanke dieser kühnen Hand ein teures Leben,« scherzte er und streichelte sie zärtlich.

Wie ihre kleinen unbedeutenden Augen in heller Freude blitzten, und wie das lebhafte Rot ihren rauhen Wangen plötzlich einen so weichen Samtton zu verleihen wußte! Norwig blickte sie mit seltsamem Gefühl von der Seite an. Ja, dies Gesicht war und blieb häßlich, durchaus reizlos; und dennoch: wenn schon die Freude über eine rasche, verständige That es also zu verklären vermochte, sollte nicht die Liebe einen noch weit milderen Glanz darüber ausbreiten können? Unwillkürlich drängte sich ihm die Frage auf: »Was müßte das für ein Mann sein, um den die ›tolle Komteß‹ sich in ein 40 liebendes Weib verwandelte!« Er selbst hatte keine geringe Meinung von sich. Seine Gefährlichkeit für die Frauen war für ihn durch zahlreiche Abenteuer bewiesen – aber noch nie im Leben hatte er einem Menschen gegenüber gestanden, neben dem er sich so klein, so unbedeutend vorgekommen wäre, wie neben dieser derben, unschönen, weder geistreichen noch gefallsüchtigen jungen Gräfin.

Bei ihrem weiteren Rundgang durch die Wirtschaftsgebäude gesellte sich ihnen Inspektor Reusche zu, welcher sich schon für den Kirchenbesuch in kleine Gala geworfen hatte. Herr von Norwig begrüßte seinen ersten Untergebenen mit großer Höflichkeit aber auch Herablassung, welche jenen guten Mann etwas zu verstimmen schien. Er trug sonst immer dasselbe überaus gutmütige Lächeln auf seinem urgesunden Antlitz zur Schau, aber nach der Begrüßung des neuen Oberverwalters verschwand dieses Lächeln auf längere Zeit, um einem halb einfältigen, halb ärgerlichen Ausdruck Platz zu machen.

»Ach hören Sie, lieber Herr Reusche,« sagte Komteß Marie, »es wäre wirklich sehr nett von Ihnen, wenn Sie heute für uns drei mit andächtig sein wollten. Ich habe die größte Lust, heute die Kirche zu schwänzen und unsern neuen Verwalter ein wenig in unserm Reiche herumzuführen. Du nicht auch, Papa?«

Der Graf lachte gutlaunig und gab gern zu, daß er kein übermäßiges Verlangen nach der Predigt des guten Pastors Meusel trüge.

»Und Sie, Herr von Norwig?« wandte die Komteß sich an jenen.

»Oh, meine Gnädigste,« erwiderte er, »ich fühle mich gänzlich unwert, in so frommer Gemeinschaft ein Gotteshaus zu betreten, nachdem ich so viele Jahre hindurch kaum mehr das Innere einer Kirche gesehen habe.«

Der Graf bemühte sich, ein möglichst ernsthaftes Gesicht 41 aufzusetzen und sagte: »Ich will nicht hoffen, Herr von Norwig, daß Sie auch einer von diesen modernen Heiden sind! Denn sehen Sie, wenn erst die Pfeiler des Glaubens erschüttert sind, dann wankt das ganze Gebäude der Familie, der Gesellschaft, des Staates! Und darum halte ich es auch für eine selbstverständliche Pflicht des Adels, dem Volke hierin mit gutem Beispiele voranzugehen. Wenn ich einen Sohn hätte, und er käme mir von der Hochschule zurück mit diesen gottlosen neuen Ideen, dann würde ich den Jungen bei Wasser und Brot einsperren, bis er glaubt – oder ihn sollte der Teufel holen! – wie meine Frau zu sagen pflegt.«

Herr von Norwig verbeugte sich mit einem leichten Lächeln und erwiderte: »Ich gebe Ihnen vollkommen recht, Herr Graf: Noblesse oblige! Aber wenn man, wie ich, so lange in der großartigen Einsamkeit des Urwaldes, oder in dem grünen Meer der Steppe umhergewandert ist, dann hat man sich dem Schöpfer weit näher gefühlt, als jemals in der dumpfen Kellerluft einer Kirche. Die ehrfürchtige Bewunderung der Natur ist auch ein Gebet, Herr Graf!«

»Allerdings, allerdings!« gab der Graf zu, indem er die Augenbrauen kritisch in die Höhe zog, »aber . . . ach lieber Reusche, bitte, teilen Sie doch der Gräfin mit, daß wir zu unserm lebhaften Bedauern durch das Unglück mit dem Ochsen verhindert wären, dem Gottesdienste beizuwohnen.«

Der Inspektor nahm militärisch die Hacken zusammen, grüßte und ging. Er hatte der Auseinandersetzung seines neuen Vorgesetzten mit dem Ausdruck maßlosen Staunens zugehört. – Ja, dem beobachtenden Blicke der Komteß war es sogar so vorgekommen, als hätten sich seine steifen, aufgewichsten Schnurrbartspitzen unter dem Eindruck jener volltönenden Worte demütig zur Erde gesenkt.

Die Herrschaften schritten jetzt aus dem Hofraum hinaus ins Feld. Der Graf gab seinem neuen Verwalter Auskunft über die ungefähre Ausdehnung der einzelnen bebauten Flächen, 42 womit sie im vergangenen Sommer bestanden gewesen wären, und beantwortete seine Fragen über die bisherige Art der Bewirtschaftung. Damit ging wohl eine gute Stunde hin; und dann übernahm es die Komteß, Norwig die weiter gelegenen Gebietsteile zu zeigen. Man ging nach dem Stall. Die Komteß befahl für Norwig einen noch jungen Fuchswallach, mecklenburgischer Zucht, zu satteln, während sie selbst sich ihr Leibroß, einen feurigen Graditzer Hengst, vorführen ließ.

Herr von Norwig hielt ihr der Sitte gemäß seine Hand hin, damit sie beim Aufsteigen ihren Fuß hineinsetzen sollte; aber sie lachte ihn aus: »Lassen Sie das nur bleiben. Mich kriegen Sie nicht hoch. Wissen Sie, was ich wiege?«

Norwig lächelte fein: »Sie haben mir gesagt, daß Sie keine Schmeicheleien lieben, Komteß: und wenn ich Sie nun überschätzte? Das würden Sie doch nicht dulden, nicht wahr? Und unterschätzen kann ich Sie nicht!«

»Das wollte ich mir auch ausgebeten haben!« rief die Amazone leicht errötend. »Nun, wir wollen einmal sehen, was Ihr Arm zu meinen hundertachtundsechzig Pfund sagt.«

Herr von Norwig bekam einen gelinden Schrecken, umfaßte aber doch mutig ihren Fuß und siehe da, sie sprang mit einer solchen Federkraft vom Boden ab, daß sie schon im Sattel saß, eh er ihres Gewichtes recht gewahr geworden war. Die Komteß schien mit ihm zufrieden zu sein, denn sie gönnte ihm einen wärmeren Blick, als noch je bisher. Im nächsten Augenblick hatte auch er sich mit edler Leichtigkeit in den Sattel geschwungen. Der Graf ging noch eine kleine Strecke neben dem ruhigeren Fuchs einher, während seine Tochter auf dem wilderen Hengste schon eine Strecke vorausgesprengt war. »Geben Sie ein wenig acht auf meine Tochter,« sagte der Graf. »Sie ist ja eine perfekte Reiterin, aber ich bin doch immer etwas unruhig, wenn sie auf dem Hengst sitzt. Sie wird sich Ihnen heute vielleicht etwas zeigen wollen – halten Sie sie wenigstens von zu großen Tollheiten zurück!«

43 Herr von Norwig versprach, sein Bestes zu thun, und der Graf nahm von ihm Abschied mit den Worten: »Na, lassen Sie sich nur recht gründlich informieren! Hier in unserm Walde sind übrigens auch Stellen, wo Sie Ihre Sonntagsandacht auf Ihre Art verrichten können. Ich werde hier inzwischen das Fräulein Sophie Bandemer erwarten. Ich gestehe Ihnen, ich bin äußerst neugierig, haha! Muß nach dem Bilde ein bezauberndes Geschöpf sein! Verraten Sie mich nur nicht der Gräfin – ich habe ihr das Photogramm heute früh aus ihrer Schreibmappe stibitzt. Wissen Sie, um mich vorher etwas zu orientieren!«

Mit jenem schalkhaften gedämpften Lachen, welches vornehmen alten Kavalieren so wohl ansteht, holte er ein Photogramm aus der Brusttasche und reichte es Norwig hinauf. Der aber hatte nicht sobald einen Blick darauf geworfen, als er zusammenzuckte, wie vom Blitz getroffen, und für einen Augenblick leichenblaß wurde.

»Pikantes Lärvchen, was?« fragte der Graf. »Scheint Sie auch so auf den ersten Blick zu frappieren wie mich.«

Norwig lachte und stotterte einige unverständliche Worte hervor, während er dem Grafen das Bild zurückgab. Und dann setzte er dem Pferde die Sporen in die Flanken und jagte davon, als ob die dunklen verheißungsvollen Augen, die ihm aus jenem Kartenblatt entgegengeblickt, ihn in wilde Flucht gejagt hätten.

Als Norwig das Hofthor erreichte, kam Komteß Marie in der Kastanienallee, welche sich bis an den Forst erstreckte, ihm bereits wieder entgegengetrabt.

»Wo bleiben Sie denn?« rief sie ihm ungeduldig zu. »Hat der Gaul etwa Sperenzien gemacht? Brachten Sie ihn nicht vom Stall weg?«

Norwig entschuldigte sich kurz damit, daß der Herr Graf ihn noch zurückgehalten habe; aber der Ausdruck verhaltenen Zornes im Ton seiner Stimme, und die fast drohenden Blicke, 44 mit denen er seine Worte begleitete, machten die Komteß stutzig. Sie mußte annehmen, daß ihre schroffe Art ihn verletzt habe. Ein flüchtiges Rot huschte über ihr Antlitz. Sie war es nicht gewohnt, daß jemand seinem Mißfallen über ihre Art und Weise solchen Ausdruck gab. Sie war nun einmal nicht, was man für gewöhnlich rücksichtsvoll nennt, sie sagte jedem ihre Meinung frei ins Gesicht und kleinliche Uebelnehmerei war ihr ein Greuel.

»Ah, mein Herr!« sprach sie bei sich selbst, »wenn Sie mit Handschuhen angefaßt sein wollen, dann werden Sie auf das Vergnügen meiner näheren Bekanntschaft verzichten müssen.« Sie setzte eine trotzige Miene auf und überließ es ihm, die Unterhaltung in Fluß zu bringen.

Eine ganze Weile trabten sie schweigend nebeneinander her. Er blickte düster sinnend vor sich hin und schien mit seinen Gedanken weit ab zu sein von der Herrlichkeit dieses Spazierrittes in der frischen Kühle dieses dunklen Laubgewölbes. Sein Pferd empfand ihn wohl als einen Fremden; es hatte schon allerlei Unarten versucht, ohne daß ihm eine durchgelassen worden wäre. Jetzt scheute das Tier plötzlich vor einer Krähe, die dicht vor ihm aufflog, stieg in die Höhe, drehte sich kurz um und versuchte in entgegengesetzter Richtung durchzugehen. Da aber mußte es zu seinem Schaden seinen Meister spüren; denn Norwig nahm es mit mächtigem Druck zwischen die Schenkel, riß seinen Kopf mit solcher Gewalt herum, daß es nachgeben mußte und setzte ihm schließlich die Sporen dermaßen in die Weichen, daß das Blut zu beiden Seiten in halbfingerbreiten Strömen den Bauch herunterrieselte. Dann aber ließ er dem Pferde plötzlich die Zügel und setzte es in Karriere, es durch Peitschenschläge und wilde Zurufe, wie er sie wohl von den Gauchos in Südamerika mitgebracht haben mochte, zu immer tollerem Laufe antreibend. Die Komteß, welche anfangs zur Seite abgelenkt hatte, um zu beobachten, wie er mit seinem unartigen Tiere fertig werden würde, gab 45 nun dem lebhaften Drange ihres Hengstes nach und sprengte in gestrecktem Galopp hinter Norwig her. Jetzt bog dieser aus der breiten Kastanienallee in einen Feldweg ab, der am Ufer eines kleinen Sees entlang über die Wiesen und weiterhin in den Wald führte. Dem größeren und auch edleren Tiere gelang es ziemlich schnell, den Mecklenburger Fuchs einzuholen und beide sprengten nun in ziemlich gleichmäßiger Geschwindigkeit auf dem weichen Wiesengrunde dahin. Ein ziemlich breiter Graben wurde von beiden Pferden mit leichtem Sprunge genommen. Ebenso etwas später einige Schafhürden, die für den Tag zu vieren hintereinander aufgestellt waren.

Die Komteß mußte sich sagen, daß sie kaum gewagt haben würde, von Obotrit, so hieß der Fuchswallach, eine solche Leistung zu verlangen. Eine um so größere Kühnheit war dies von einem, der das Pferd zum erstenmal ritt. Ueberhaupt: dieser Norwig verstand zu reiten, das mußte man ihm lassen! Er wollte ihr wohl zeigen, was er könne, sie dafür bestrafen, daß sie vorhin so höhnisch an ihm gezweifelt. Sie nahm diese Strafe gern hin und es schmeichelte ihr, daß dieser Mann so viel daran wagte, um sich ihre gute Meinung zu erringen. Obotrit war mit nichten ein berühmter Springer – die Komteß hätte zehn gegen eins gewettet, daß er an dem ungeschickten breiten Hindernis mit den Hinterfüßen hängen bleiben würde. Und bei der Gelegenheit hätte auch die Herrlichkeit des neuen Herrn Oberverwalters ein recht voreiliges Ende nehmen können.

Noch immer rannten beide Tiere, den Bauch fast auf der Erde, mit weit vorgestreckten Hälsen nebeneinander her. Das Reitkleid der Komteß war bereits mit Schaumflocken über und über bedeckt, ihr Antlitz glühte, ihr Busen wogte, ihr Atem hastete – und Norwig saß immer noch über den Hals des Pferdes gebeugt mit demselben düster gespannten Ausdruck in den Zügen im Sattel, nur hin und wieder einen wilden Zuruf zwischen den geschlossenen Zähnen hervorstoßend. 46 Die Komteß war völlig außer Atem, sie zog die Zügel fester an und setzte das Pferd ein wenig auf die Hinterhand. Der Mecklenburger dagegen jagte immer weiter. Erst nach geraumer Zeit bemerkte Norwig, daß die stolze Amazone nicht mehr an seiner Seite ritt. Er wandte sich um, schwenkte seine Peitsche wie triumphierend im Kreise, ließ einen langgezogenen, fremdartigen Ruf ertönen und dann erst mäßigte auch er den Gang seines Pferdes allmählich bis zum Schritt herab und ließ die Komteß an sich herankommen.

Als sie in kurzem Trott an seinem zitternden, ängstlich keuchenden Wallach vorbeitrabte, zog er seinen Hut tief ab und fragte mit etwas schadenfrohem Lächeln: »Nun, Komteß, was meinen Sie, nehmen wir's miteinander auf?«

Sie stellte sich in den Bügel und hob die herrliche Gestalt etwas aus dem Sattel. »Ihr armer Obotrit wird an diesen Morgen noch lange zurückdenken!« keuchte sie atemlos, ohne seine eigentliche Frage zu beantworten und dann preßte sie die Linke auf die Brust, um ihre immer noch tobende Lunge zu beruhigen.

»Verzeihen Sie mir, gnädigste Komteß!« begann Norwig, nachdem er sich lange genug an ihrer Aufregung geweidet hatte: »Verzeihen Sie mir, daß ich Sie zu diesem tollen Ritt verführte – und verraten Sie mich nicht dem Herrn Grafen: ich hatte ihm versprochen, dafür zu sorgen, daß Sie es nicht zu toll trieben!« Er lachte laut auf, aber das Lachen klang hart und gezwungen.

»Ich rate Ihnen, meinem Vater dergleichen nicht wieder zu versprechen!« rief die Komteß mit einem seltsamen Aufblitzen ihrer grauen Augen. »Ich habe mich sozusagen selbst in Freiheit dressiert, ich dulde weder Zaum noch Zügel!« Sie warf den Kopf verächtlich zurück: »Ueberhaupt müssen Sie es aufgeben, mich wie ein Frauenzimmer zu behandeln, wenn Sie mit nur gut Freund bleiben wollen! Ich verlange weiter nichts, als daß man sich der Form nach gegen mich 47 beträgt wie gegen eine Dame: aber dem Wesen nach sehe ich keinen großen Unterschied zwischen mir und einem vernünftigen Menschen!«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie Ihr Geschlecht nicht zu den vernünftigen Menschen rechnen?«

»Ihr Männer rechnet es ja nicht dazu! Ihr setzt es auf einen Altar, wie eine vergoldete Holzpuppe und beräuchert es mit eurem Flausendunst; aber nur, um nachher um so leichteres Spiel damit zu haben, wenn es sich benebeln ließ! Oder halten Sie es etwa eines vernünftigen Menschen für würdig, sein ganzes Leben auf einen so blinden Zufall zu bauen, wie es die Ehelotterie für ein Mädchen ist?«

Norwig ritt eine ganze Weile schweigend neben ihr und lächelte zu ihrem größten Aerger nur ironisch vor sich hin. Endlich konnte sie nicht länger an sich halten und rief: »Ha! da haben wir's! Sie lächeln! Das ist die gewöhnliche Antwort der Herren, wenn eine Frau sich herbeiläßt, vernünftig mit ihnen zu reden. Wissen Sie auch, daß ich das Recht habe, so zu reden? – Ich weiß sehr wohl, daß ich nicht begehrenswert bin: ich habe ein Gesicht wie ein Pfannkuchen und kann zuweilen recht unliebenswürdig sein. Aber wissen Sie auch, daß ich mich trotzdem recht wohl befinde? Daß die Aussicht, eine alte Jungfer zu werden, gar nichts Abschreckendes für mich hat? – Ich habe mein Lebtag lieber mit Männern verkehrt als mit Frauen, weil mir die kleinen Weiberinteressen unendlich gleichgültig sind, und weil ich in einem Manne niemals einen solchen Gegenstand des süßen Schreckens sehen konnte!« Sie lachte laut auf und gab ihrem Potrimpos einen leichten Schlag auf den Hals, so daß er sich in Trab setzte.

Norwig hatte sie zu verschiedenen Malen zu unterbrechen versucht. Jetzt erwiderte er ihr, indem er sich gleichfalls in Trab setzte: »Sie haben mein Lächeln völlig mißdeutet, Gnädigste! Es kommt mir so drollig vor, eine Frau mit 48 solcher Bitterkeit von der Ehelotterie sprechen zu hören – als ob für uns die Chancen etwa andre wären? Was weiß denn ein Mann von dem Mädchen, dem er seine Hand anträgt? In unsrer guten Gesellschaft wenigstens, wo die Heiraten vorschriftsmäßig nach alter Sitte zustande kommen? Er sieht sie auf einem Balle, findet sie reizend und springt aus dem sicheren Fahrzeug der Vernunft über Bord in den Ozean der Liebe – in welchem es bekanntlich von unzähligen heißhungrigen Haifischen wimmelt. Manchmal freilich schrumpft der Ozean gleich nach dem Sprunge zu einem seichten Tümpel ein und der arme Mann über Bord sieht sich nach einigen warmen Sonnentagen gar aufs Trockene gesetzt. Andre, vorsichtigere Leute bleiben an Bord der Vernunft und segeln mit ihr in einen Hafen ein, in dem sie gute Geschäfte zu machen hoffen dürfen, – mit Empfehlungsschreiben wohl versehen, ha ha! Das sind die Heiraten, welche von den Schwiegereltern und Tanten unter dem Beistand des Bankiers und des Rechtsanwalts geschlossen werden. Man kauft also doch wahrhaftig die Katze im Sack – oder man bekommt sie geschenkt! Wenn nun aber nach vierzehn Tagen oder schon früher das Los sich als eine Niete erweist, was dann? Sie wissen, eine Scheidung ist nicht so einfach, und in jedem Falle mit Unannehmlichkeiten verbunden, die sehr kräftig abschreckend wirken. Wo sind denn die glücklichen Ehen zu finden? Ich möchte behaupten, daß sie so selten sind, wie etwa die Gewitter im Winter. Das Durchschnitts-Eheglück, das man die Leute sehen läßt, beruht zumeist auf einem Kompromiß – den natürlich der gebildete Mensch leichter zu finden und besser innezuhalten weiß, als der rohe Mensch, der nicht gelernt hat, seine Leidenschaften zu zügeln. Und nun sagen Sie selbst, haben wir wirklich so viel vor Ihrem Geschlecht voraus? Ist nicht vielmehr ein liebenswürdiges, begehrtes Mädchen besser daran als wir? Wenn ihr Herz nicht spricht, kann sie ja ablehnen, und der Fall ist erledigt. Und selbst 49 wenn sie eine falsche Wahl getroffen hat, so kann sie sich doch, falls sie nur nicht kinderlos bleibt, von dem ungeliebten Manne innerlich trennen und in der Liebe zu den Kindern dennoch für ihr Gemüt reichen Ersatz finden. Was ist aber ein Mann, der eine Niete gezogen hat, für ein bedauernswürdiger Geselle? Wenn alle Bande zerrissen sind, die er sich einst mit Wonne um den Hals legen ließ, so bleibt ihm doch immer noch die schwere Kette von tausend Pflichten zu schleppen übrig, die er nicht abwerfen darf, ohne in den Augen der Welt als ein Ehrloser zu erscheinen!« Norwig sprach noch eine ganze Zeit in diesem Sinne weiter, während sie ihre Pferde gemächlich durch den prächtigen Laubwald dahinschreiten ließen.

Komteß Marie hatte niemals die Ehefrage in solchem Sinne besprechen hören. In dem Kreise, in dem sie aufgewachsen war, galt jede Sitte für heilig, von einem Naturrecht war den wenigsten jemals eine Ahnung aufgedämmert, und wer jemals in die Lage gekommen war, am eignen Fleische die bösen Nadelstiche der aufrührerischen Natur zu empfinden, der hütete sich doch ängstlich vor jedem aufrührerischen Worte. Denn es ist ja eine alte Erfahrung, daß die Menschen immer meinen, Ordnung und Sitte müsse aus den Fugen gehen, wenn ihre Nachkommen nicht ebenso unerbittlich von diesen beiden Gewalten gemaßregelt würden, wie ihrer Zeit sie selber. Der Neid ist ebenso fest in der Menschennatur begründet, wie der Hunger und die Liebe. Und nichts verzeiht man seinem Nebenmenschen schwerer, als die Vorzüge, die er vor uns voraus hat. Alle Eltern predigen ihren Kindern, wenn sie zu klagen wagen über den Druck der bestehenden Vorurteile: »Wir sind dabei groß geworden, warum solltest du es besser haben müssen!«

Man wird freilich groß – trotz alledem!

Komteß Marie war eine ausgesprochene Realistin. Sie sah die Dinge mit ihren eignen klaren Augen an und rechnete 50 nur mit dem, was sie selbst erkannt hatte. Sie hatte nie geschwärmt und geträumt, auch niemals an überspannten Romanen Gefallen gefunden. Sie war keine grüblerische Natur, aber sie machte sich doch ihre Erfahrungen zu nutze, wie ein nüchtern denkender, und dabei warm fühlender Mensch. Nur daß eben ihre Erfahrungen sehr geringe und sehr einseitige waren. In ihrem neuen Oberverwalter trat ihr zum erstenmal im Leben ein Mann entgegen, der die Eindrücke von Welt und Menschen in einer wesentlich unbefangeneren Weise hatte auf sich wirken lassen, als alle die Männer und Frauen ihres Kreises, welche sich ausnahmslos durch ihre Geburt und ihre Lebensstellung an ganz bestimmte Ansichten gebunden glaubten. Was dieser Herr von Norwig ihr da sagte, leuchtete ihr ohne weiteres ein, nur verwirrten sie seine bestimmten, ausführlichen Auseinandersetzungen für den Augenblick so, daß sie ihm nicht gleich zu antworten, oder den Bohrer eines Zweifels an einer bestimmte Stelle anzusetzen vermochte.

Ihre Wangen waren noch von dem scharfen Ritt gerötet, ihre Augen nachdenklich zu Boden gesenkt, ihre Lippen von dem Lächeln leichter Befangenheit umspielt. Sie war nicht häßlich in diesem Augenblicke – Herr von Norwig fand das auch, als er so von der Seite den Blick an ihrer stolzen Gestalt hinabgleiten ließ; er wehrte seinem Fuchs nicht, als er sich nun nahe an seinen Graditzer Kameraden herandrängte, wahrscheinlich um durch das Spielen seiner Ohren, das Schnobern seiner Nüstern und das stumme Plappern seiner Lippen jenem über seinen neuen Reiter seine Meinung zu sagen.

»Sehen Sie wohl, gnädigste Komteß, daß Sie mir heute schon zum zweitenmal Unrecht gethan haben? Geben Sie wir nicht das Zeugnis, daß ich im stande bin, auch mit einer Dame Vernunft zu reden?«

»Muß ich Abbitte thun?« entgegnete die Komteß lächelnd.

»Gewiß nicht!« versetzte er höflich. »Aber es würde 51 mich glücklich machen, wenn Sie mir auch ferner die Erlaubnis geben wollten, so zu Ihnen zu reden – so, was Sie und ich vernünftig nennen. Wissen Sie, daß ich gestern die größte Lust hatte, mit dem nächsten Zuge davonzufahren, nach den Erschütterungen meines Innersten durch das Fahrzeug des alten Hinrich? Aber da kreuzten Sie meinen Weg und Sie hießen – ich darf es wohl vor Ihren Ohren wiederholen, was alle Leute sagen? – die tolle Komteß! Das Wort übte einen merkwürdigen Zauber auf mich aus – es zwang mich unbewußt zu bleiben; denn ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Menschen, welche der Allgemeinheit für toll gelten, in Wirklichkeit nur darum Ausnahmen sind, weil sie die wahren Vernünftigen sind. Sehen Sie, Komteß, da sind wir wieder unter uns vernünftigen Leuten.«

»Ah, das muß ich sagen, Herr von Norwig, so schwer es mir auch wird, Ihnen das zuzugestehen, aber dies ist die erste Schmeichelei, die mir wirklich Spaß gemacht hat!« Dabei lachte sie freundlich auf und sah ihm voll ins Gesicht. »Ich habe so eine Ahnung, als ob ich von Ihnen etwas lernen könnte – und ich lerne gern, besonders, wenn es ohne Bücher und so lustig zu Pferde abzumachen ist. Sie scheinen auch von uns Frauen mehr zu wissen, als ich selbst; Sie würden wohl nicht zu Ihren Anschauungen gekommen sein ohne eigne Erfahrung.«

Seine Züge nahmen wieder den düster gespannten Ausdruck von vorhin an. Er pfiff durch die geschlossenen Zähne und schlug sich mit der Reitgerte gegen die Stiefelschäfte. Als er empor sah, traf sie ein eigen leuchtender, forschender Blick, der sie zwang, ihre Augen niederzuschlagen: »Ja, Komteß,« sagte er, »Ihnen und den Bäumen hier sei es anvertraut: ich habe diese Erfahrung gemacht; die Frau, die ich aus Liebe, aus blinder, wahnsinniger Liebe mir zu eigen gemacht hatte, hat mir mein ganzes Leben zerstört mit einer Grausamkeit, einer lächelnden Kaltblütigkeit . . .«

52 Die Erinnerung übermannte ihn, er vermochte den Satz nicht zu vollenden.

Mit innigem Mitgefühl wandte sich Komteß Marie zu ihm und sagte leise: »Sie sind erlöst, nicht wahr? Sie ist tot?«

Sie waren eben an derselben Stelle angekommen, wo gestern die tolle Komteß zum erstenmal Norwigs Weg gekreuzt hatte, und gerade so wie gestern kam auch heute in diesem Augenblick das leichte Wägelchen dahergerollt, mit welchem Brinkmann das Fräulein Sophie Bandemer von der Station geholt hatte.

Norwig und die Komteß erblickten gleichzeitig das Fuhrwerk, und ersterer, der schon den Mund zur Antwort geöffnet hatte, schloß ihn plötzlich wieder, wandte sein Pferd nach der entgegengesetzten Richtung und machte Miene, davonzusprengen, als die Komteß freundlich ihre Hand auf seinen Arm legte und ihm leise zuraunte: »Wohin? Wollen Sie nicht unser neues Fräulein begrüßen? Sie scheint sehr hübsch zu sein. Mein Papa ist schon ganz aufgeregt vor Erwartung.«

Norwig zwang seine Mienen zu einem verbindlichen Lächeln und ritt langsam an ihrer Seite dem ebenso langsam sich nähernden Wagen entgegen.

Brinkmann ließ die Zügel lose auf der Pferde Rücken liegen, hatte sich ganz herumgewendet und sich dermaßen in ein Gespräch mit dem Fräulein Sophie vertieft, daß er das Herannahen der Reiter nicht eher gewahr wurde, als bis das Fräulein, ein lustiges Gelächter plötzlich unterbrechend, ihn aufmerksam machte. Er setzte sich mit einem Ruck in Positur, faßte die Zügel fester und grüßte mit der Peitsche; während die Dame eine sehr ehrbare, bescheidene Miene annahm und sittig den Gruß der Komteß erwiderte.

»Fräulein Bandemer, nicht wahr?«

»Allerdings, gnädige Frau!« erwiderte die Gefragte.

»Nun sehen Sie, Fräulein, wie feierlich Sie eingeholt 53 werden!« lächelte die Komteß: »Die älteste Tochter des Hauses reitet Ihnen mit dem Herrn Oberverwalter entgegen. Hier stelle ich Ihnen Herrn von Norwig vor.« Norwig trieb sein Pferd zwei Schritte vor, denn die Komteß hatte ihn bisher vor den Augen des Fräuleins verdeckt, und nahm seinen Hut ab.

Da öffnete das Fräulein im Wagen den reizenden kleinen Mund und die dunklen Augen weit, alle Farbe wich aus ihren vollen roten Lippen und ihre rechte Hand griff krampfhaft nach der Seitenlehne des Sitzes.

»Kennen sich die Herrschaften vielleicht schon?« fragte die Komteß, verwundert über dies Gebaren.

Da kehrte ebenso rasch, wie sie geschwunden, dem hübschen Gesicht die lebhafte Farbe wieder, und mit gut gespielter Verlegenheit versetzte Fräulein Bandemer: »O nein, doch nicht. Es war nur eine merkwürdige Aehnlichkeit auf den ersten Blick, die mich so frappierte. Aber nein, der Herr hat ja eine ganz andre Nase – ich bitte sehr um Verzeihung!«

 


 


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