Ernst von Wolzogen
Die tolle Komteß
Ernst von Wolzogen

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Viertes Kapitel.

Handelt von den schönen Augen des Fräuleins Sophie, und von dem Unfug, so damit geschieht. Wie Pastors Beate sich beinahe verlobt hätte und warum »Achnes« ein dummes Uez ist. Warum die tolle Komteß sich Gedanken macht und noch spät abends zum Fenster hinausschaut.

»Und dann noch eins, liebes Fräulein,« sagte die Gräfin zum Schlusse eines Gespräches unter vier Augen zu der neuen Hausdame. »Sie wissen schon aus meinem Briefe, daß Sie in ein streng christliches Haus kommen – ich habe also wohl nicht nötig, Ihnen noch besonders ans Herz zu legen, daß 54 Sie Ihren Lebenswandel auf das sorgfältigste selbst überwachen müssen. Es ist mir, gottlob, bis heute gelungen, meine Töchter von jeder Berührung mit der sogenannten großen Welt fernzuhalten, die meiner Ansicht nach schon längst verdient hätte, wieder einmal vom lieben Herrgott mit Pech und Schwefel gezüchtigt zu werden, wie einst Sodom und Gomorrha!«

»Ach ja!« seufzte das Fräulein Sophie und ließ die schweren Lider über ihre feurigen dunklen Augen und ihr feines Köpfchen auf die linke Schulter sinken. »Frau Gräfin haben leider nur zu recht!«

»Haben Sie etwa selbst die Nücken und Tücken des Satans erfahren?« Die Gräfin fixierte Fräulein Sophie mit einem Blicke, welcher eine drollige Mischung von Neugier und christlichem Erbarmen darstellte.

»Oh, Frau Gräfin,« versetzte das Fräulein, »wenn man, wie ich, schon in zarter Jugend in die Fremde hinausgestoßen worden ist, um sich sein Brot allein zu verdienen, dann macht man viele herbe Erfahrungen. Aber ich glaube, ich darf sagen, ich habe die Welt überwunden! Ich betrachte es als eine ganz besondre Gnade vom Herrn, daß er mich in Ihr Haus geführt hat. Hier darf ich hoffen, den Frieden meiner Seele völlig wiederzufinden, hier, wo von der gütigen Herrin des Hauses ausgehend, ein Hauch der Liebe, der Ruhe in Gott das ganze Haus durchdringt.«

Die üppigen Wangen der alten Dame erglühten für einen Augenblick in lebhaftem Rot. Sie fühlte sich sehr geschmeichelt, rückte etwas verlegen mit ihrem Polstersessel hin und her und glättete die Falten ihres seidenen Kleides über den Knieen, ehe sie wieder zu reden begann.

»Geben Sie mir Ihre Hand, meine Liebe. Ich denke, wir werden uns verstehen. Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, so kommen Sie nur zu mir. Ich bin ja auch einmal jung gewesen und weiß, was so ein Herzchen bisweilen zwickt – 55 das heißt nicht etwa, daß ich jemals Geschichten gemacht hätte, nein; dazu bin ich viel zu gut erzogen worden. Auf eins muß ich Sie aber doch aufmerksam machen: ich nehme nie ein Blatt vor den Mund. Wenn mir etwas an Ihnen nicht gefällt, dann können Sie sicher sein, daß ich es Ihnen gleich ins Gesicht sage!«

»Frau Gräfin können überzeugt sein, daß es stets mein eifrigstes Bestreben sein wird, Ihren leisesten Winken nachzukommen.«

Fräulein Bandemer verbeugte sich tief. Die Gräfin erhob sich von ihrem Sitze, um anzudeuten, daß die Audienz zu Ende sei. Als aber die junge Dame die Thür fast schon erreicht hatte, holte sie sie mit ein paar raschen Schritten ein, klopfte sie freundlich auf die Arme und sagte: »Ich will's Ihnen nur gestehen, wie Sie da vorhin zur Thür hereinkamen, da kriegte ich einen gehörigen Schreck! Ich hatte nämlich schon einmal ein hübsches Fräulein – na, und mit der habe ich schöne Erfahrungen gemacht! Und ich kann Ihnen sagen, die war gegen Sie doch nur dürftig. Ach du lieber Herrgott ja, die hübschen Lärvchen! Es ist ein Jammer, was die für eine heidenmäßige Zucht anrichten! Na aber, da Sie der Welt entsagt haben. . . . Uebrigens, der Inspektor ist ja Gott sei Dank in die älteste Pastorstochter verschossen, Brinkmann ist ein Bengel. Da bleibt nur unser neuer Oberverwalter – ein angenehmer Mann – er ist Witwer – der hat aber trübe Erfahrungen hinter sich!«

Das Fräulein hustete, und auf ihren Wangen erschienen, um die Backenknochen herum, thalergroße rote Flecke.

Die Gräfin fuhr fort, ohne sich unterbrechen zu lassen: »Denken Sie nur stets daran, liebe Bandemer, daß Sie ein leuchtendes Beispiel für meine Tochter Viktoria sein sollen. Meine älteste Tochter nenne ich gar nicht – die geht ihren Weg für sich und die rechne ich überhaupt gar nicht zu uns Frauenzimmern. Die hat Kräfte wie ein Mann in jeder Beziehung, 56 und wenn ihr was in den Weg kommt, dann wird sie es schon allein wegzuräumen wissen! Aber die Vicki, die ist, Gott sei's geklagt, noch wie ein Rohr im Winde. Es ist ja ein sehr gutes Kind, aber sie läßt sich so leicht beeinflussen, daß sie geradezu verloren wäre, wenn sie unter einen schlechten Einfluß käme. Und darum lege ich Ihnen die Vicki ganz besonders ans Herz.«

Das Fräulein küßte der Gräfin demütig die Hand, beteuerte ihren besten Willen und zog sich mit einer abermaligen Verbeugung, die jeder Hofdame Ehre gemacht hätte, zurück.

Ein ganz eigen sinnendes Lächeln stand auf ihrem reizenden Gesicht, als sie nun langsam die Treppe hinunterschritt. Zufällig kam ihr der alte Graf entgegen und sobald er sie erblickt hatte, leuchteten seine blauen Augen vergnüglich auf und er stieg mit beschleunigten Schritten die Treppe hinan.

Fräulein Sophie wollte beiseite treten, um ihn vorbei zu lassen; aber ehe sie sich dessen versah, hatte der alte Herr sie beim Kinn gefaßt, indem er dabei zärtlich flüsterte: »Na Vickichen!«

Sie ließ sich geduldig die glatte Wange streicheln und flüsterte nur ganz demütig zurück: »Herr Graf irren sich!«

Der alte Herr fuhr erschrocken zurück, versetzte in komischer Verwirrung seiner irre gegangenen Hand selber einen leichten Schlag mit der andern und stammelte: »Ach, mein Fräulein, ich bitte tausendmal um Vergebung! Das schlechte Licht auf dieser Treppe . . . ich bin leider sehr kurzsichtig . . .«

Diese letztere Behauptung entsprach durchaus nicht der Wahrheit, indem Graf Pfungk sich vielmehr eines ungemein scharfen Auges erfreute. So bemerkte er denn auch, daß der Blick, mit welchem Fräulein Bandemer, das Köpfchen schämig zur Seite geneigt, zu ihm aufschaute, durchaus nichts von Feindseligkeit und Unversöhnlichkeit in sich barg. Er nickte ihr leutselig zu und schritt dann weiter die Treppe hinauf. Aber schon drei Stufen höher wandte er sich und veranlaßte durch 57 ein leises Räuspern auch das Fräulein sich umzuwenden. Da spitzte er den Mund und legte seinen Zeigefinger, an welchem er seinen in roten Karneol geschnittenen Siegelring trug, zum Zeichen, daß sie das kleine Mißverständnis für sich behalten möge, an die Lippen. Fräulein Sophie streckte mit vollendeter Grazie den kleinen Kopf auf dem schlanken Halse, sich leicht verbeugend, vor und huschte dann mit kindlich leichten Tritten vollends die Treppe hinunter.

»Süperb! Ganz süperb!« schnalzte der Graf leise für sich, wie wenn er eben einen Schluck eines köstlichen alten Weines mit verständnisvoller Zunge im Munde zerdrückt hätte. »Süperb, süperb!« wiederholte er immer wieder, nachdem er schon sein Zimmer betreten und es sich in einem eleganten, niedrigen Polsterstuhl bequem gemacht hatte, indem er die Füße auf einen Rohrstuhl ausstreckte. Er zündete sich eine sehr gute Cigarre an und nahm die Kreuzzeitung vor. Aber er schien nicht sehr von dem Leitartikel gefesselt zu werden, denn seine Augen folgten, über den Rand des großen Blattes hinweg, den zartblauen Rauchwölkchen und seine Gedanken schienen mit ihnen in dem breiten Lichtstreifen, der vom nächsten Fenster ausging, hinauf zu schweben in das blaue Reich der lachenden Sonne. Er legte auch bald die Zeitung fort und langte sich einen Brief von dem Lesetischchen ihm zur Rechten. Aus einem Umschlag von unbeschnittenem Büttenpapier, worauf ein altdeutscher Spruch in bunten Lettern gedruckt war, zog er einen ebenso stilvollen Briefbogen hervor und überflog die zierliche Damenhandschrift (zum drittenmal) mit leicht zugekniffenen Augen. Der Brief lautete:

»Hamburg, den 10. August 18 . . .    

»Verehrteste Frau Gräfin!

»Fräulein Sophie Bandemer, welche sich um die von Ihnen ausgeschriebene Stellung als englische Gesellschaftsdame und Stütze der Hausfrau beworben hat, ist zwar nur 58 wenige Wochen in meinem Hause gewesen, hat sich aber unsre Zuneigung und unser Vertrauen so vollkommen zu erwerben gewußt, daß ich nicht anstehe, Ihnen die Dame aufs wärmste zu empfehlen. Sie beherrscht die Umgangsformen wie eine Dame von Welt, besitzt eine nicht gewöhnliche Bildung, welche sie, im Gegensatze zu unsern überstudierten armen Gouvernanten, eigner Anschauung und Erfahrung verdankt, und ist endlich sehr umsichtig und selbständig in der Führung des Haushaltes. Ihrer etwas angegriffenen Lunge wegen sehnte sie sich nach einem ruhigen Aufenthalt in kräftiger Landluft. Wenn nicht verschiedene Anzeichen uns darauf aufmerksam gemacht hätten, daß die Anmut ihrer Erscheinung dem Herzen unsres einzigen Sohnes gefährlich zu werden drohe, so ließen wir sie gewiß nicht ziehen. Ich kann Sie jedoch versichern, gnädigste Frau Gräfin, daß ihr Benehmen meinem Sohne, sowie überhaupt der Herrenwelt gegenüber, nie zu den geringsten Zweifeln an ihren Grundsätzen Veranlassung gegeben hat. Alles übrige werden Sie aus ihren Papieren ersehen. Fräulein Bandemer kam nahezu mittellos und ohne eine Seele in Hamburg zu kennen, hier an. Sie wurde mir von einer Agentin zugeführt. – Denken Sie, wie leicht ein junges Mädchen ohne die strengsten Grundsätze unter solchen Verhältnissen ins Unglück geraten kann! Darum freute es mich ganz besonders, daß ihr guter Stern sie gerade in mein Haus führte. Möchte diese meine Empfehlung dem vortrefflichen Mädchen auch das Ihrige eröffnen.

»Genehmigen Sie, gnädigste Frau Gräfin, den Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung, mit welcher ich verbleibe

Ihre

ganz ergebenste        
Frau Konsul Wuwermann.«

59 Der Graf steckte das Schreiben wieder in den Umschlag und lehnte seinen schönen Velasquez-Kopf auf den Stuhlrücken zurück.

»Sie ist scharmant, trotz ihrer Grundsätze – ha ha!« lachte er leise und dann hauchte er einige kunstvolle Rauchringe in den Sonnenstreifen hinein und schloß endlich die Augen. –

Auch drüben im Wohnzimmer der Gräfin war Fräulein Bandemer der Gegenstand des Gesprächs gewesen. Die Gräfin Mutter hatte nicht versäumt, ihre Weltentsagung bei so viel Reiz und Jugend den Komtessen Töchtern als leuchtendes Beispiel vor Augen zu stellen.

Obwohl sie mit sittlicher Entrüstung die Gewohnheit des Mittagsschläfchens als eine ihr unbekannte menschliche Schwäche zu bezeichnen pflegte, fielen ihr doch regelmäßig zu einer gewissen Stunde nach Tische die Augen zu und die fleißig strickenden Hände sanken ihr in den Schoß. So auch heute. Die gute Gräfin hatte sogar die üble Angewohnheit, mit offenem Munde zu schlummern und ihre obere Zahnreihe währenddessen auf der Zungenspitze zu balancieren. Sobald das wohlbekannte, sanft schnurrende Geräusch des mütterlichen Atems ertönte, schlich sich Komteß Vicki auf den Zehenspitzen von ihrem Platz am Fenster nach dem Sofa hin, stellte das Vorhandensein des Traumzustandes durch einen Blick auf die bewußte Elfenbeingarnitur fest und winkte ihrer Schwester zu, worauf beide junge Damen geräuschlos das Zimmer verließen.

Ohne Hut, wie sie gingen und standen, traten sie aus dem Schloß und liefen, Arm in Arm, in den Park.

»Ist sie nicht reizend?« eröffnete Komteß Vicki das Gespräch.

Die große Schwester nickte nur und ließ Vicki ungestört im Geplauder fortfahren.

»Ach, Marie, solche entzückende Taille werde ich wohl 60 niemals bekommen!« klagte sie drollig, indem sie die Hände fest in ihre starken Hüften setzte. »Und dann, weißt du, dunkle Augen sind doch auch zu was Schönes! So apart, so unheimlich und doch so süß! Blaue Augen haben hier ja alle – denke doch bloß an die Pastorsgöhren! Weißt du nicht, ob es etwas gibt, womit man sich die Augen schwarz färben kann? Ich thäte es gleich – es könnte sogar ziemlich weh thun.«

Komteß Marie lachte laut auf. »Ach, du unglaublicher Kindskopf du! Wen wolltest du denn mit solchen herrlichen schwarzen Augen bezaubern? Vielleicht Brinkmann!«

Vicki stampfte mit dem Fuße auf und schmollte: »Ach, geh mir doch mit dem dummen Jungen! An Männer denke ich überhaupt nicht. Aber es wäre doch schon zu reizend, wenn ich mich bloß im Spiegel so anfunkeln könnte!«

»Du eitle kleine Katze! Du guckst ja schon viel zu viel in den Spiegel!«

Und dann faßten sich die großen Mädchen gegenseitig um die Taillen und trabten den dunklen Tannengang hinab nach dem Teiche zu. Sie bestiegen den kleinen Kahn und ruderten sich ein Stückchen hinaus. Dann ließen sie das leichte Fahrzeug treiben und begannen ihr vertrautes Gespräch aufs neue.

»Glaubst du, daß er sich auch gleich in das Fräulein verlieben wird?« fragte Vicki.

»Wer? Er?«

»Na, Herr von Norwig natürlich!«

»Ach so? Der ist also jetzt der Mittelpunkt deiner Gedanken! Ich glaube nicht, daß der große Lust dazu haben wird. Er ist schlecht auf die Frauen zu sprechen. Uebrigens . . .«

»Was denn?«

»Ach nichts!«

61 »Einen weiß ich, der sich ganz bestimmt in sie verlieben wird,« rief Vicki triumphierend.

»Pst! Nicht so laut,« beschwichtigte sie die Schwester; »Wir müssen ein bißchen auf Papa achtgeben – sonst muß er wieder büßen, wie damals, als Albertine es ihm angethan hatte!«

Und Vicki lachte lustig und schwatzte weiter: »Er ist zu reizend, wenn er verliebt ist! Und jetzt hat er schon so lange nichts für sein Herz gehabt, daß ich schon fürchtete, er würde nächstens anfangen, Pastors Beate den Hof zu machen! Ich finde es zu nett, wenn alte Leutchen noch so ein junges Herz haben. Wenn ich einmal eine Dame in gesetzten Jahren bin, werde ich mir's auch gewiß nicht nehmen lassen, hübsche junge Männer hübsch zu finden.«

»Was wird aber dein Mann dazu sagen?«

»Ach, der wird doch nicht so affrös sein!« rief das Komteßchen mit einer wegwerfenden Bewegung des Kopfes. Und dann beugte sie sich, plötzlich auf einen andern Gedanken überspringend, zu ihrer Schwester hinüber und sagte: »Glaubst du wohl, daß er mich auch gut leiden mag?«

Komteß Marie lachte herzlich, aber Vicki ließ sich nicht irre machen, sondern fuhr fort: »Nein, ich sage dir, wie er in den alten gräßlichen ›Homo sum‹ hineinschnüffelte und dann Puh! machte, das war zu reizend!«

Die Schwester lachte, bis ihr die Augen in Thränen standen. »Ach Vickchen, was soll das noch werden mit deinem butterweichen Herzen! Wenn einer nichts weiter nötig hat, als Puh! zu machen, um es zum Schmelzen zu bringen, dann wird es wohl zerflossen sein, ehe sich ein Stück Brot dazu gefunden hat.«

»Ich mache ja auch nur Spaß. Du weißt, ich denke gar nicht ans Heiraten! Die Männer sollen alle sehr schlimm sein. Wenn ich nur wüßte, ob das wirklich wahr ist. Ich werde einmal Fräulein Bandemer fragen.«

62 Während die beiden Schwestern so lustig fortplauderten, erschien am Ufer der Diener und meldete, daß der Herr Pastor Meusel mit seinen Damen zum Kaffee gekommen sei.

Die beiden Komtessen fanden die Kaffeegesellschaft in der Glasveranda versammelt, welche an die linke Seitenwand des Schlosses angebaut war, als ein Anhängsel des sogenannten Hubertussaales, und in der rauhen Jahreszeit zum Wintergarten umgestaltet wurde. Die Frau Gräfin, durch ihren kurzen Schlummer sichtlich erquickt und mit gutsitzendem Gebiß, präsidierte auf dem Rohrsofa der kleinen Tafelrunde. Ihr zur Rechten saß der Pastor loci, einer von der wohlfrisierten dunklen Art, mit kurz gehaltenem Backenbart und glatt ausrasierter Mittelpartie. Ihr zur Linken saß Herr Inspektor Reusche mit ungemein sorgfältig gebürstetem Anzug, sehr hart gewichsten Bartspitzen, feuchten, unruhigen Augen und stark gerötetem Antlitz. Der gute Herr Inspektor hatte auch eine höchst gewaltsame Anstrengung hinter sich; denn er hatte den Pastor mit seinen beiden Mädchen von der Pfarre nach dem Schloß begleitet und unterwegs dem Fräulein Beate seine auf den solidesten Absichten beruhende glühende Liebe zu erklären versucht. Fräulein Beate – oder vielmehr Be-oäte – war noch von der ausgestandenen Freudenangst kaum minder rot, als ihr schüchterner Ludolf – denn der Herr Inspektor Reusche führte diesen sanften Vornamen. Leider war er mit seiner Erklärung nicht ganz fertig geworden, da er erst beim Parkgitter angefangen hatte! Aber was vorher sein Mund verschwiegen, das schienen nun seine Stiefeln unter dem Tische zum Ausdruck bringen zu sollen, indem sie mit verliebter Andacht auf Beatens Zehen ruhten, welchen es hierdurch in den überengen Sonntagsstiefelchen durchaus nicht etwa gemütlicher wurde.

Pastors Aelteste war recht schlank, schmalschulterig und dünnarmig. Die Wespenhaftigkeit ihrer Taille fiel trotz der allgemeinen Schlankheit dennoch auf, weil das Fräulein doch 63 nicht ganz der Büste entbehrte. Der Kopf mit seinem losen blonden Haar war hübsch, die Formen des Gesichtes angenehm und die Haut zart – es störten nur etwas die leicht verklebten Augen und das allzu weichliche Kirschenmündchen. Uebrigens sah Be-oätens Schwester, Fräulein Agnes (sprich Achneß!) Meusel, ihrer Schwester so ähnlich, daß man sie für deren um einige Jahre jüngern Zwilling hätte halten können! Der einzige Unterschied war der, daß Fräulein »Achneß« an einer beständigen leichten Röte des linken Nasenflügels litt und daß die Umrisse ihrer Gestalt noch etwas schüchterner waren. Fräulein »Achneß« fand im stillen, daß Herr Brinkmann ein sehr liebenswürdiger junger Mann sei, doch war sie noch nicht so fest entschlossen, ihm ihre Hand zu reichen, wie es zur Zeit ihre Schwester in Bezug auf den sanften Ludolf war. Eine Unterhaltung fand übrigens nur zwischen der Gräfin und dem Pastor statt, seine Töchter pflegten sich im gräflichen Schlosse streng an die Vorschrift des Evangeliums zu halten, während Inspektor Reusche zwar das Zeug zu einem Redner in sich hatte, aber nur selten die richtige Wolle finden konnte, um daraus eine wirkliche Rede zu spinnen.

Als die beiden Komtessen eintraten, erhob sich, natürlich mit Ausnahme der Gräfin, die ganze kleine Gesellschaft zur Begrüßung, welche von seiten der ersteren durch kräftige Händedrücke ausgeführt wurde, wobei es Vicki einen ganz besondern Spaß machte, den Pastorsmädchen ihre scheuen Pfötchen mit überraschender Plötzlichkeit vom Körper abzureißen. Auf Wunsch der Mama, welche nicht wollte, daß man ihren Töchtern einen gewöhnlichen Adelsstolz nachsage, mußte sich Vicki noch immer mit den Pastorstöchtern duzen, obgleich ihr die beiden, seit sie in langen Kleidern steckten, so langweilig geworden waren, daß sie kaum mehr anders mit ihnen zusammenkam, als bei den üblichen vierzehntäglichen Sonntagsbesuchen. Vicki war es ganz unverständlich, wie die 64 Konfirmation aus den früher doch recht munteren Pastorsmädchen solche »Trauerhühnchen« zu machen im stande gewesen war. Vom Vater hatten sie die Duckmäuserigkeit nicht, denn der war ein recht wohlwollender, harmloser Fröhlichkeit nicht abgeneigter Herr, welcher sogar beim traulichen Glase Wein mit dem Grafen allein sich nicht ganz unbewandert zeigte im klassischen Repertorium altehrwürdiger Schwänklein und Meidingereien.

Auch heute wieder gaben sich die beiden jungen Damen des Hauses redlich Mühe, ihre Besucherinnen ins Gespräch zu ziehen, ohne jedoch etwas andres aus ihnen hervorzulocken als das ewige »ach ja« – »ach nein«. – Und so wäre auch dieser »Pastorssonntag« wieder genau nach dem Muster aller früheren verlaufen, wenn nicht der Eintritt des Fräulein Bandemer, welches mit der Kuchenschüssel dem das Kaffeegeschirr tragenden Bedienten voraufschritt, eine unvermutete Bewegung in die Gesellschaft gebracht hätte. Es war augenscheinlich, daß die reizende Erscheinung der jungen Hausdame sowohl auf den Pastor wie auf seine Töchter einen ganz eignen Eindruck machte, besonders aber auf Ludolf Reusche, welcher das Fräulein bei dieser Gelegenheit zum erstenmal erblickte und dermaßen von ihrer Anmut betroffen schien, daß er sogar vergaß, seiner Beate weiter auf den Fuß zu treten. Es mochte sich wohl durch das plötzliche Aufhören jenes Zehendruckes und das dadurch bedingte Zuströmen des Blutes nach dieser Extremität physikalisch erklären, daß Fräulein Beate nunmehr ebenso blaß wurde, wie sie vorher rot gewesen war.

Fräulein Agnes schaute kaum minder betroffen drein als ihre Schwester. Vor Erstaunen über den Liebreiz des Fräuleins Sophie vergaß sie sogar ihr wattenweiches Mündchen zu schließen. Das Riesenmaß und die stolze Ueppigkeit der Komtessen Pfungk hatte sie stets als notwendige Attribute ihrer Gräflichkeit, und auch die ländlich gesunden Reize der andern Gutsbesitzers und Pfarrerstöchter aus der 65 Nachbarschaft neidlos anerkannt; diese junge Dame aber trat wie ein Fremdling aus einer unbekannten Welt in ihren Gesichtskreis, sie erschien ihr als ein höheres, anbetungswertes Wesen. Agnes Meusel stand noch mitten in dem Alter, in welchem den jungen Mädchen die Schwärmerei ein Bedürfnis ist; wo sie sich noch ganz selbstlos an der Bewunderung fremder Vorzüge entzündet und entweder einen alten Herrn oder eine bevorzugte Person des eignen Geschlechtes zu ihrem Fetisch erkiest. Beate dagegen hatte auf den ersten Blick in der Fremden eine möglicherweise gefährliche Nebenbuhlerin erkannt und war sich sofort bewußt, daß sie sie hasse.

Fräulein Bandemer bereitete den Kaffee mit vieler Anmut und nahm dann zwischen den Pastorsmädchen Platz. Und es geschah das Wunder, daß das überaus schüchterne Fräulein Agnes seit seiner Konfirmation heute zum erstenmal sich überreden ließ, eine zweite Tasse Kaffee zu genießen und ihr Stück Kuchen wirklich aufzuessen! Ja, es wurde sogar bemerkt, daß sie, wenn auch nicht ohne über solche Unbescheidenheit tief zu erröten, die Herausforderung der Hausdame zu einem munteren Gespräche annahm und ihrem gewohnten: »ach ja« – »ach nein!« noch einige weitere Worte hinzuzufügen sich vermaß. Wogegen Fräulein Beate ihre Annäherungsversuche mit nicht übel gespielter Kälte zurückwies und andrerseits in der Kühnheit so weit ging, den offenbar geistesabwesenden Inspektor mit einer dreisten Frage nach den wahrscheinlichen Witterungsaussichten zu sich zu bringen – indem gleichzeitig unter dem Tisch ihre Schuhspitze seinem ungetreuen Fuße einen kleinen Stoß in die Seite versetzte.

Als die Gräfin erzählte, daß Fräulein Bandemer erst kürzlich aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt sei, wurde auch des Pastors Anteilnahme lebendig und er hatte so viel über amerikanische Zustände, besonders das Sektenwesen, zu fragen, daß das Fräulein bald den Mittelpunkt der Unterhaltung bildete. Der Graf hatte für sich und seinen 66 Oberverwalter den Kaffee auf sein Zimmer bestellt und sich entschuldigen lassen.

Als die Rede darauf kam, daß Fräulein Sophie nach ihrer Rückkehr zuerst in Hamburg in Stellung gewesen sei, wandte sich Pastor Meusel mit der Frage an die Frau Gräfin, wann denn der junge Maler aus Hamburg eintreffen werde, der dazu ausersehen war, ihr Bildnis für den Ahnensaal zu malen.

»Wir erwarten ihn noch im Laufe dieser Woche,« erwiderte die Gräfin. »Denken Sie sich, Herr Pastor, unsre Vicki hat ihm schon einen Spottnamen angehängt: er unterschreibt sich nämlich immer Hans W. Fink, und daraus macht das lose Ding Hans-Wurst-Fink.«

Ein ganz bescheidenes kleines Gelächter lohnte diese Erfindung Vickis, von welchem sich nur Fräulein Bandemer ausschloß, weil sie gerade in diesem Augenblick einen leichten Hustenanfall bekam. Er ging rasch genug vorüber, aber das Husten klang trocken und hart und um die Backenknochen bildeten sich wieder jene thalergroßen roten Flecke.

»Nehmen Sie sich nur recht vor Zug in acht, Fräulein,« mahnte die Gräfin. »Heute abend werden Sie mir ganz artig eine Tasse Brustthee trinken – das löst wundervoll!«

»Frau Gräfin sind sehr gütig,« versetzte das Fräulein, »ich denke, die herrliche Landluft wird mich hier bald kurieren!«

Man erhob sich vom Tische und ging in den Garten hinunter, um, wie dies gleichfalls für die sommerlichen Pastorssonntage eine stehende Gewohnheit war, auf dem prächtigen englischen Rasen eine Partie Croquet zu spielen. Für den Inspektor pflegte dies das Signal zum Abschiednehmen zu sein; heute aber wurde er von den fünf Damen – denn Fräulein Bandemer war auch zum Mitspielen aufgeforderr worden – zur Herstellung des Gleichgewichts notwendig gebraucht und erhielt auf seine ziemlich ungeschickt hervorgestotterten Entschuldigungen von der Gräfin den gnädigen 67 Befehl, sich den Damen zur Verfügung zu stellen. Beim Spiel standen die beiden Komtessen mit Agnes auf der einen Seite, Fräulein Bandemer, Beate und der Inspektor auf der andern. Und da letzterer sich als sehr ungeschickt erwies, so mußten ihm seine beiden Damen bei jedem Schlage, den er that, mit Rat und Beispiel behilflich sein. Beate war aufgeregt wie nie in ihrem Leben; sie wich ihrem Ludolf kaum von der Seite und sprach fortwährend eifrig auf ihn ein. Dadurch schien aber der gute Mann nur noch verwirrter zu werden und es bedurfte der deutlichen, ruhigen Erklärung Sophiens, um ihn vor den ärgsten Verstößen zu bewahren. Die unglückliche Beate fing mehr als einen dankbaren Blick auf, den ihr Ungetreuer an ihre schöne Nebenbuhlerin richtete, und der Aerger darüber raubte ihr selber derart die Sicherheit und Ruhe der Ueberlegung, daß es der ganzen Kunst Sophiens bedurfte, um dem starken Spiel der Gegenpartei einigermaßen die Wage zu halten. Schließlich wollte es gar das Unglück, daß sie sich beim Croquetieren so ungeschickt mit dem Hammer auf den Fuß schlug, daß sie sich nach der nächsten Bank führen lassen und somit sich selbst außer Gefecht setzen mußte. Fräulein Bandemer übernahm nunmehr ihren Ball mit und führte sehr schnell das Spiel für ihre Partei siegreich zu Ende.

Der Pastor kam bald darauf, um seine Töchter heimzuführen; er lud Fräulein Bandemer auf das dringendste ein, doch ja recht bald der Pfarre einen Besuch abzustatten, da es ihm eine große Freude sein werde, wenn seine Töchter aus ihrem Umgange Anregung und Belehrung schöpfen dürften.

Man verabschiedete sich gegenseitig und dann machten sich Meusels auf den Weg samt dem guten Inspektor, welcher sogar so galant war, Fräulein Beate des schmerzenden Fußes wegen seinen Arm anzutragen. Sie schöpfte neue Hoffnung und legte ihr dünnes Aermchen recht fest auf den 68 seinigen; doch konnte sie sich nicht enthalten, einige anzügliche Bemerkungen über seine offenbare Bewunderung der dunkeläugigen Fremden fallen zu lassen. Statt sich aber zu entschuldigen und mit den erwarteten schmeichelhaften Wendungen das auf dem Herwege abgebrochene Gespräch wieder aufzunehmen, stimmte dieser unglückselige Ludolf vielmehr einen entzückten Hymnus auf die verführerischen Reize Sophiens an, welcher die merkwürdige Wirkung hatte, Beatens Fuß urplötzlich zu heilen und sie der Notwendigkeit, sich seines stützenden Geleites zu bedienen, gänzlich zu entheben.

Als am Abend die guten Pastorsmädchen sich zur Ruhe legten, hatte sich durch die Schwärmerei der jüngeren für und die Empörung der älteren gegen Fräulein Sophie Bandemer der böse Geist der Zwietracht bereits derartig in diesem jungfräulichen Schlafgemache eingenistet, daß die beiden Schwestern statt mit einem herzlichen Gutenachtkuß mit verweinten Augen und grollend gerunzelten Stirnen in ihre Betten stiegen.

»Du bist überhaupt noch ein ganz dummes Uez!« rief Beate mit innigem Zorn.

»Und du eine alte, gräßliche Person!« gab Agnes schlagfertig zurück.

Und dann versanken die beiden erhitzten Mädchenköpfe in den gewaltigen Federbergen der Kissen. – –

Eine halbe Stunde später etwa betrat auch Komteß Marie das Schlafgemach, das sie mit Vicki gemeinsam inne hatte. Sie glaubte die Schwester schon schlafend zu finden, da sie noch eine ganze Stunde, nachdem Vicki hinausgegangen, mit einem Buche aufgesessen war. Zu ihrem Erstaunen aber schallte ihr ein lautes Gelächter entgegen, als sie das Zimmer betrat. Die Lampe brannte noch. Vicki lag im Bett und das Fräulein Sophie saß bei ihr und hatte den Kopf neben der jungen Komteß ins Kissen gedrückt.

»Ach Marie,« rief Vicki der Schwester entgegen, 69 »Fräulein Sophie hat mir zu komische Geschichten erzählt – ich habe mich immer noch nicht ausgelacht.«

Das Fräulein gab dem jungen Mädchen noch einen raschen Kuß auf die Wange und erhob sich dann eilig, um zu gehen. »Also wir sind gute Freunde,« rief sie ihr noch lachend zu und dann verbeugte sie sich leicht vor der älteren Komteß und sagte: »Ich will nicht länger stören – oder darf ich Ihnen vielleicht meine Dienste anbieten, Komteß?«

»Ach Marie,« rief Vicki, sich im Bett halb aufrichtend; »sie hat mir das Haar gebürstet und dann so mit allen zehn Fingern den Schädel geknetet – es war prachtvoll! Das mußt du dir auch machen lassen!«

»Aber geh doch, Vicki,« versetzte die ältere mit leichtem Vorwurf, »wie werde ich dem Fräulein so etwas zumuten! – Ja, ja, Fräulein Bandemer, verwöhnen Sie uns unsre Kleine nicht, sie schlief sonst immer so artig ein. Seien Sie ja nicht zu gut zu ihr; fängt man erst so mit ihr an, dann ist mit Vickichen nicht mehr auszukommen!«

Sie reichte Sophie gütig die Hand und diese betrachtete sich als entlassen und zog sich zurück.

Gerade wie die kleine Agnes in der Pfarre, so gab auch Komteß Vicki ihrer Begeisterung über die neue Hausgenossin in den köstlichsten Superlativen Ausdruck und war recht ungehalten darüber, daß die große ihr nur so lau beipflichtete; endlich aber ergriff Marie das liebe junge Ding bei den Schultern, küßte es tüchtig ab und drückte es in die Kissen nieder. »Nun schläfst du mir aber, Kind!«

Und Vicki bewährte sich als gutes Kind und schlief.

Komteß Marie war heute ungewöhnlich langsam beim Auskleiden. Sie hatte einen Frisiermantel lose um die entblößten Schultern und Arme gehängt und kämmte sich das reiche, dunkelblonde Haar wohl eine Viertelstunde lang. Die einzige Kerze auf dem Spiegeltisch erhellte nur matt das 70 ziemlich große Zimmer, so daß man die blaßblauen elektrischen Fünkchen knisternd über die Zinken des Kammes hätte springen sehen können. Im unteren Stockwerke hörte man noch einige Thüren dumpf zuschlagen, Schritte verhallten in dem entfernten Korridor, die Hinterthür nach dem Hof wurde geöffnet und auf einen Pfiff des Dieners kamen mit einem leichten Gebell die beiden großen Hunde herbeigesprungen, um ihre Schlafstelle unter der Treppe einzunehmen. Dann wurde unten der Riegel vorgeschoben und gleich darauf ward es totenstill im Hause – bis auf die tiefen Atemzüge des großen Kindes dort im Bett und das leichte rasche Ticken einer Standuhr.

Die tolle Komteß ließ den Kamm sinken, stützte ihren rechten Ellenbogen auf den Tisch und dachte nach. Sie hatte wohl bemerkt, welchen überraschenden Eindruck das liebliche Gesicht und die zierliche Weise der neuen Hausgenossin auf alle Bewohner des Schlosses und zumal auf die Männer hervorgebracht habe. Ihre Gedanken wurden durch diese Beobachtung auf einen Weg geführt, den sie wohl noch nie betreten haben mochten. In dem ganzen, allerdings nicht großen Kreise ihrer Bekannten befand sich nicht ein einziges weibliches Wesen, welches so sehr alle die Eigenschaften in sich vereinigt hätte, durch die der Männerwelt der Kopf verdreht wird, wie dieses Fräulein Sophie. Sie hatte den Eindruck von ihr gewonnen, als ob sie überall, wo sie auftrete, sogleich zum Mittelpunkte eines pikanten Romans werden müsse. Ganz ohne Reiz für ihre Einbildungskraft war diese Ahnung freilich nicht; doch hatte sie, wie wohl manches ehrliche Landedelfräulein, die Vorstellung, daß alle solche »Affairen«, wie sie in den Romanen stehen, von Rechts wegen nur weit draußen in der Welt, in den gefürchteten »Sündenbabels«, wie die Mutter alle Städte über hunderttausend Einwohner zu nennen pflegte, jedenfalls aber nicht in den mecklenburgischen Großherzogtümern oder gar in dem gräflich Pfungkschen Burgbann 71 sich ereignen könnten. In ihren Kreisen wurde gesäet und geerntet, geheiratet und getauft, anständig gelebt und nobel begraben. Und sie selbst hatte diesen Kreislauf der Dinge bisher wohlzufrieden als goldene Regel hingenommen. Nur sie selbst hatte insofern eine Ausnahme von dieser Regel gebildet, als sie den Firlefanz und Mummenschanz des Mädchendaseins nicht mitgemacht, sondern sich für die fehlenden kleinen Siege der Eitelkeit durch das Bewußtsein ihrer Tüchtigkeit und Nützlichkeit entschädigt hatte, durch welche es ihr gelungen war, ihren Eltern den Sohn zu ersetzen. Ueber ihr häßliches Gesicht hatte sie sich stets ohne Bitterkeit lustig gemacht, ja, sie hatte diese Häßlichkeit dankbar als einen Vorzug empfunden, weil sie ihr eine größere Freiheit im Verkehr mit Männern gestattete. Ihre Schwester Viktoria war trotz ihrer sechzehn Jahre immer verliebt und das fand die tolle Komteß ganz natürlich und überaus spaßhaft. Sie selbst hatte nie auch nur eine Anwandlung von solcher Schwäche gehabt und glaubte annehmen zu müssen, daß sie eben nicht danach organisiert sei. Sie meinte wie ein Mann zu fühlen und zu denken, und betrachtete ihre Weiblichkeit gewissermaßen als ein Versehen des Schöpfers, ohne ihm jedoch allzusehr deswegen zu grollen; denn der Umstand, daß sie Weiberröcke tragen mußte, schützte sie doch vor mancherlei Untugenden, welche ihr oft die Männer unangenehm oder lächerlich erscheinen ließen. Sie brauchte ihren Mund nicht zum Schornstein zu machen, sich nie zu betrinken, nicht zu fluchen wie ein Stallknecht und war sicher, niemals wegen eines dummen Mädels in Ungelegenheiten zu kommen! Im Genusse so vieler eigentümlicher Vorzüge war sie bis auf den heutigen Tag glücklich ohne Ueberschwang, zufrieden ohne Einfalt gewesen.

Bis zum heutigen Tage! Ja – wie sie da so saß und sann, überfiel sie zum erstenmal in ihrem Leben jene Bangigkeit, welche garstigen und doch liebebedürftigen Frauen so 72 grausam die Jugendjahre zu verbittern pflegt. Und dies Gefühl war über sie gekommen durch die Beobachtung des mächtigen Zaubers, welchen Sophie Bandemer ausübte auf alle Männer des Hauses, von ihrem alten Papa angefangen herunter bis zu dem windigen Brinkmann, ja bis zu Friedrich dem Bedienten; denn auch diesen hatte sie dabei ertappt, wie er heimlich das Fräulein mit großen verliebten Augen anstarrte. Das alles hätte sie aber sehr kalt gelassen, wäre nicht Herr von Norwigs Benehmen dieser Dame gegenüber so auffallend gewesen. Nicht nur bei der ersten Begegnung im Walde, sondern auch während des Mittagessens, wo er, der sonst so Gesprächige, kaum drei Worte zur Unterhaltung beigesteuert hatte. Der tolle, herrliche Morgenritt hatte sie diesem Manne so nahe gebracht, seine Reden hatten ihr die frohe Hoffnung erweckt, daß im Umgange mit diesem Vielerfahrenen ihr Leben an Inhalt, ihr Denken an Tiefe gewinnen würde – und nun erfaßte sie plötzlich die Furcht, daß die Reize jener hübschen Person ihn gleichfalls bestricken und bewirken würden, daß er ihr auch den Anteil entzöge, den er ihrer schönen Verwegenheit und ihrem Hunger nach geistiger Speise zu schenken so bereit schien. Komteß Marie war immer so klar über sich selbst gewesen: sie mußte sich zu ihrem eignen Schrecken eingestehen, daß diese plötzliche Angst vor dem drohenden Verluste dessen, was sie noch gar nicht besessen, nur ein Beweis sei, daß sie nach dem Besitze getrachtet – vielleicht sogar als Weib danach getrachtet habe! Ein flüchtiger Blick traf den Spiegel – und ein bitteres Lächeln trug nicht dazu bei, den breiten Mund zu verschönen. Sie sprang vom Stuhl auf und schlang hastig das üppige Haar zu einem leichten Knoten für die Nacht zusammen. Dabei glitten die weiten Aermel des Frisiermantels hinauf und gaben ihre starken, prächtig modellierten Arme bis zu den schwellenden Muskeln hinauf frei. Und als sie die Haarnadeln befestigt hatte, da wand sie diese nackten, rosigen Arme 73 ineinander und reckte sie gerade vor sich aus. Ein leichter Schauer überlief sie, sie stand mitten im Zimmer, tief atmend, und blickte auf ihre Arme hinab.

Da drang durch die Stille der Nacht ein Geräusch an ihr Ohr, welches sie zusammenfahren ließ wie einen Dieb auf nächtlichem Schleichwege. In dem Zimmer ihr zu Häupten war ein Stuhl gerückt worden. Nun erklangen einige feste Männertritte, dann ein Klappen und Schurren, welches leicht dahin zu deuten war, daß da oben sich jemand die Stiefeln auszog. Es war Norwigs Zimmer, welches über dem der jungen Gräfinnen lag. Sie wußte das und sie sagte sich, daß der Oberverwalter jetzt erst sein Lager aufsuche, nachdem er bisher Briefe geschrieben habe oder dergleichen. Einen Augenblick horchte sie noch hinauf mit jener Gespanntheit, womit man in stiller Nacht jedes Geräusch zu verfolgen pflegt, und dann, als alles ruhig war, warf sie rasch ihre Kleidung von sich und war eben im Begriff, sich niederzulegen, als ein neues Geräusch von da oben sie stutzen machte. Das hatte geklungen wie ein gedämpfter Schreckensruf – sie glaubte plötzlich zwei Stimmen zu hören! Aber das währte nur wenige Augenblicke, dann war wieder alles still – und dann begann es da oben hin und her zu wandern mit schweren Schritten auf weichen Sohlen, welche aber doch die Decke so erschütterten, daß die Ampel ganz leise davon erzitterte und klirrte.

Konnte sie recht gehört haben? War wirklich jemand zu Herrn von Norwig in das Zimmer getreten? Oben im zweiten Stockwerk war auch Fräulein Bandemer untergebracht, allerdings durch mehrere unbewohnte Räume von dem Oberverwalter getrennt. Sollte sie . . . aber nein, das war ja ein unsinniger Verdacht!

Komteß Marie schlüpfte hastig in ihren Morgenrock, löschte das Licht, tappte im Dunkeln nach demjenigen Fenster, welches gerade unter dem der kleinen Stube da oben lag und 74 öffnete es vorsichtig. Aus dem oberen Fenster fiel ein matter Lichtschein auf die dunklen Tannenwipfel im Park. Die Komteß beugte sich weit hinaus; die übrigen Fenster da oben waren alle dunkel; sie hätte den schwächsten Lichtschein bemerken müssen. Sie lauschte mit angehaltenem Atem hinauf; vernahm aber nur das ferne Rauschen des künstlichen Wasserfalls weit hinten im Park, das Flüstern der leicht bewegten Wipfel und hin und wieder den Pfiff einer Fledermaus oder das Lachen eines Käuzchens. In dem Augenblick aber, wo sie sich wieder ins Zimmer zurückwandte, meinte sie da oben die Thür gehen zu hören. Sie lehnte sich wieder zum Fenster hinaus, so weit sie vermochte und siehe da! – nach wenigen Sekunden erhellte sich das erste Fenster der Reihe droben, das Fenster von Fräulein Bandemers Schlafzimmer.

Sie saß auf dem Fensterbrett, spähte und lauschte hinaus, bis in den beiden Zimmern da oben die Lichter gelöscht wurden und sie fröstelnd der kühlen Nachtluft gewahr ward. Da endlich begab sie sich zur Ruhe. Sie saß noch eine Weile aufrecht im Bett und sann nach. Und dann ballte sie im Finstern die schlanken Hände und flüsterte vor sich hin: »Schlange! Schlange! Wenn ich dich fasse!«

Komteß Vicki lachte in diesem Augenblick laut auf, indem sie sich auf die andre Seite wälzte. Sie mochte wohl von der lustigen Geschichte träumen, die ihr das reizende neue Fräulein heute abend erzählt hatte. 75

 


 


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