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Weiteres über Karl Egon Emich, den Büsterloher. Heimlichkeiten beim Thee und Zerstreuungen bei der Abendandacht. Fräulein Sophie geht im Mondschein mit jemandem spazieren und Komteß Vicki kann nicht einschlafen.
Die allgemeine Lustigkeit, welche Hanswurstfinks Vorstellung verbreitet hatte, bewirkte auch, daß der Vetter Emich mit lautem Jubel begrüßt wurde. Er erzählte, daß er auf einer Reise durch Mecklenburg begriffen sei, um sich verschiedene verkäufliche Güter anzusehen, und da er einmal so nahe gewesen, habe er sich das Vergnügen, die lieben Verwandten unversehens zu überfallen, nicht nehmen lassen wollen.
»Sag mal, das wievielte Gut hast du denn da bereits in Augenschein genommen?« frug Komteß Marie lächelnd den blonden Vetter. »Es sind ja wohl schon fünf Jahre her, daß du mit der Absicht umgehst, dich anzukaufen?«
»Ja, allerdings, so lange ist es her,« versetzte jener. »Und ich glaube, es war das siebenunddreißigste Gut, das ich mir gestern besehen habe. – Ah – Pardon!« unterbrach er sich, des in der Ecke stehenden Paares ansichtig werdend, »ihr habt Gäste? Darf ich bitten, mich vorzustellen.«
»Um Verzeihung,« sagte der Graf und führte seinen Neffen zu jenen beiden. »Herr von Norwig – mein Neffe, Graf zur Bencken.«
Graf Bencken hatte bei der Verbeugung seinen goldenen Kneifer von der Nase fallen lassen; sobald er aber den Namen Norwig vernahm, stutzte er, setzte das Augenglas rasch wieder 4 auf und rief: »Herr von Norwig – habe ich recht gehört? Sind Sie der Passenhofener?«
»Allerdings; sollten Sie mich nicht wiedererkennen, Graf Bencken? Ich trage jetzt freilich Vollbart, aber . . .«
»In der That – ja,« näselte der lange blonde Kavalier, zog die Augenbrauen in die Höhe, was sein ausdrucksloses Gesicht nicht eben interessanter machte und rückte hochmütig sein Haupt in dem steifen Kragen zurecht. »Sehr merkwürdiger Zufall – finden Sie nicht auch? Ah – da ist ja auch Ihre Frau Gemahlin! Gnädige Frau – entzückt, Sie wiederzusehen!« Er verbeugte sich steif vor Fräulein Bandemer und griff nach ihrer Hand, um einen höflichen Kuß darauf zu drücken.
Aber das Fräulein entzog ihm ihre Hand und sagte äußerst erstaunt: »Herr Graf irren sich wohl, ich habe nicht die Ehre . . .«
Graf Pfungk und seine Gattin beeilten sich gleichzeitig, ihren Herrn Neffen lachend darüber aufzuklären, daß diese junge Dame keineswegs die Gattin ihres Oberverwalters, sondern vielmehr ein Fräulein so und so, Stütze der Hausfrau sei.
»Aber ich begreife nicht,« beharrte Graf Bencken, indem er mit einem argwöhnischen Seitenblick, der eine auffallende Aehnlichkeit mit dem eines scheuen Pferdes befaß, das geziert lächelnde Fräulein anstarrte: »Die Aehnlichkeit ist effektiv merveilleux! Sie werden mir zugeben, Herr von Norwig, daß man das Gesicht Ihrer Frau Gemahlin nicht so leicht vergessen kann, wenn man einmal den Vorzug gehabt hat!«
»Die Aehnlichkeit mit meiner verstorbenen Frau ist allerdings auch mir aufgefallen, als ich das Fräulein Bandemer zum erstenmal sah,« erwiderte Norwig mit niedergeschlagenen Augen.
»O, Sie haben Ihre Frau Gemahlin verloren?« schnarrte der Graf mit einem oberflächlichen, höflichen Bedauern im Ton. Quel malheur! So jung und so – Sie gestatten den Ausdruck: so schön! Ich hörte zuletzt, daß sie Ihnen nach New York gefolgt sei.«
5 »Ganz recht,« versetzte Norwig, »dort ist sie auch gestorben.« Er sah auf, um dem Grafen anzudeuten, daß er das Gespräch über seine verstorbene Frau für beendigt ansehen möchte; aber während er die Augen erhob, traf ihn ein seltsam gespannter, forschender Blick der Komteß Marie, vor dem er in Verwirrung den seinen niederschlagen mußte.
Da Graf Bencken immer noch das Fräulein Sophie mit zweifelnden Blicken anstarrte und vergebens nach einer gleichgültigen Wendung suchte, um das Gespräch in eine andre Bahn zu lenken, so wäre eine recht verlegene Pause eingetreten, wenn nicht der Hausherr durch die Vorstellung des jungen Malers seinem Neffen zu Hilfe gekommen wäre. Einen einfachen Finken begrüßte dieser außerordentlich hochgeborene Graf – er war nämlich einem im Aussterben begriffenen souveränen Fürstenhause verwandt und es standen nur noch ein knappes Dutzend Augen zwischen ihm und jenem allerliebsten Thrönchen – nur mit einem leichten Kopfnicken.
»Sehr angenehm! Sie sind Maler?« sagte er wohlwollend mit hochgezogenen Brauen. »Sie nehmen wohl das Schloß auf?«
»Nein, ich nehme die Frau Gräfin auf, wenn Sie gestatten, Herr . . .« Fink that, als suche er nach dem Namen. Um seine Mundwinkel zuckte es schalkhaft.
»Graf Bencken,« ergänzte jener, gekränkt, daß man seinen erlauchten Namen überhört hatte.
Und Vicki rief laut und feierlich im Heroldstone: »Karl Egon Emich, Graf und edler Herr zur Bencken-Büsterloh, Erlaucht.«
»Ah!« rief Fink bewundernd aus und verbeugte sich nochmals mit großer Heftigkeit.
»Bitte, bitte,« winkte der junge Graf gnädig ab: »Ich nenne mich natürlich einfach Graf Bencken. – Da ist mir übrigens eine drollige Geschichte passiert, lieber Onkel,« wandte er sich an den Hausherrn: »Denken Sie sich, ich fahre da zwischen Berlin und Güstrow mit einem Herrn allein im Coupé. Sieht ganz anständig aus: ich zögere deshalb nicht, ihm auf seine Bitte Feuer zu geben. Wir kommen 6 ins Gespräch – und ich muß gestehen, ich fand einen recht kenntnisreichen Mann. Offenbar guten Blick für Pferde, auf dem Turf merkwürdig zu Hause, obwohl er nicht selbst rennen läßt. Die Unterhaltung wurde recht lebhaft, und er überreichte mir seine Karte: Müller, einfach Guido Müller, Kaufmann und Lieutenant der Reserve! Natürlich bedauerte ich sehr, selbst keine Karte bei mir zu haben und stelle mich einfach als Lieutenant Bencken vor – ha ha ha! Ich wollte doch dem Herrn die Unbefangenheit nicht rauben!«
Vicki versteckte sich hinter den Rücken ihrer Schwester, da sie vor den Fremden ihrem erlauchten Vetter nicht gerade ins Gesicht lachen wollte. Auch die übrigen hatten Mühe, ihre Heiterkeit zu unterdrücken, besonders als die alte Gräfin ganz ernsthaft sagte: »Das war mal wieder ein schöner Zug von dir, Emich!«
Und zu Norwig und Fink gewendet, setzte sie hinzu: »Ja, unser Neffe ist immer so rücksichtsvoll – den armen Guido Müller hätte doch gleich der Schlag treffen können, nicht wahr?«
Karl Egon Emich schien nicht ganz im klaren darüber zu sein, ob solches Lob ehrlich gemeint gewesen, besonders da es aus dem Munde seiner frommen Frau Tante kam, deren Spottlust ihm wohl bekannt war. Uebrigens war er es so gewohnt, aufgezogen zu werden, daß er es kaum mehr merkte. Seine Kameraden hatten von jeher sich das Vergnügen gemacht, seinen erlauchten Namen und seine Aussichten auf das bewußte Thrönchen zu allerlei Scherzen zu benutzen, so daß der Träger aller dieser Würden schließlich nicht mehr Spott und Ernst unterscheiden konnte. Der Stolz auf seinen uralten Stammbaum und sein schilderreiches, durch eine Fürstenkrone glänzendes Wappen, war ja genau genommen das einzige geistige Besitztum, dessen er sich bewußt war. Seiner geringen Fähigkeiten wegen hatte man ihm in seinem Regimente den väterlichen Rat erteilt, seinen Abschied zu nehmen, ehe er zum andernmal bei der Beförderung zum Rittmeister übergangen werden würde. Abgesehen davon, hatte er sich im Kriege wie ein Held geschlagen und im Frieden stets als guter Kamerad und Mann von 7 anständiger Gesinnung bewährt. Seine grenzenlose Gutmütigkeit und Leichtgläubigkeit war unzählige Male gemißbraucht worden, ohne daß üble Erfahrungen jemals vermocht hätten, sein Herz und seine Taschen fester zu verschließen. Er war noch sehr jung gewesen, als sein Vater starb, und ihm dadurch die Verantwortung für die Verwaltung des recht bedeutenden Familiengutes anheim fiel. Dank der gänzlichen Verständnislosigkeit für diese schwere Aufgabe, dank den eigennützigen Ratgebern, der Ausbeutung falscher Freunde und der unheilvollen Einmischung seiner Mutter, nach deren Begriffen der Sohn gar nicht fürstlich genug auftreten konnte, war das Verhängnis über ihn hereingebrochen. Er hatte Herrschaft und Schloß mit großem Verluste verkaufen müssen und war nun genötigt, von dem übrig gebliebenen Erlös auch noch seine Mutter und mehrere unverheiratete Schwestern standesgemäß zu erhalten. In Schloß Büsterloh aber hatte ein fetter jüdischer Herr von der Börse seine Sommerresidenz aufgeschlagen. Allerdings ermöglichten dem Grafen Emich die Zinsen seines geretteten Vermögens immer noch ein vergnügtes Dasein, ohne daß er um sein tägliches Diner und seine Flasche Rotspohn sich mit Sorgen zu quälen brauchte. Der Kauf, Verkauf und Tausch von Reitpferden, der Aerger über ungeschickte Stallknechte und die Pflege des bereits altersschwach gewordenen ererbten Mobiliars bildeten so ziemlich seine einzige Beschäftigung – neben der sehr zeitraubenden und sorgfältigen Toilette. Dagegen erlaubten ihm seine Mittel nicht, in seinem Auftreten mit seinen eigentlichen Standesgenossen zu wetteifern; auch empfand er in ihrer Gesellschaft doch nur zu häufig die Mängel seiner Bildung, welche in ihrer Lückenhaftigkeit wirklich allumfassend genannt zu werden verdiente! Er hatte sich in einen der Vororte Berlins zurückgezogen und lebte dort ein wahres Einsiedlerleben, welches nur einmal im Monat durch die kameradschaftlichen Zusammenkünfte eines Vereines ehemaliger Offiziere unterbrochen wurde. Diese Abende bildeten die bescheidenen Höhepunkte seines Daseins; und wenn er gar Gelegenheit fand, einem neuen Gaste daselbst über seine Beziehung zu dem regierenden Hause oder über die Herkunft 8 des weißen Rosses in seinem Wappen Auskunft zu geben, so kehrte er glücklich und zufrieden zu seinen wurmstichigen Penaten zurück und legte sich im stolzen Bewußtsein seiner Würde und mit der seidenen Bartbinde bewaffnet in das Prachtbett seiner Ahnen. Aber der Tage, an welchen es ihm vergönnt war, in seinem aristokratischen Nimbus zu schwelgen, waren doch zu wenige, als daß nicht der Mangel an Beschäftigung und Verkehr ihm je länger desto schwerer auf die Seele gefallen wäre. Darum hatte er den Entschluß gefaßt, sich irgendwo eine kleine Besitzung zu kaufen, wo er in Frieden seinen Hafer pflanzen und mit einigen blaublütigen Nachbarn über Pferde reden könnte. Der Gedanke, auf seinen glänzenden Namen hin eine reiche Heirat zu machen, lag ja nahe genug, doch empfand der gute Graf eine gewaltige Scheu vor den anspruchsvollen und feingebildeten Damen der höheren Gesellschaft. Er war ehrlich genug gegen sich selbst, um einzusehen, daß er neben solcher Frau eine ziemlich unglückliche Rolle spielen würde, und dieser Gedanke war ihm unheimlich. Gegen das Ansinnen, seine Krone für eine jüdische Million einzutauschen, welches ihm schon wiederholt nahe getreten war, sträubte sich sein echt aristokratisches Empfinden sehr entschieden, und da er selbst im Grunde ein so gutes Herz besaß, so sehnte er sich auch, wenn auch vielleicht unbewußt, nach Liebe. Bei seinem, trotz des äußerlichen Schliffs und der anerzogenen militärischen Artigkeit gegen die Damen, doch stets ängstlich zurückhaltenden Auftreten war er niemals einer Frau gefährlich geworden, während sein eignes Herz gar leicht in bescheidentlich sehnsüchtige Wallung geriet. Ein hübscher Teint, eine schlanke Taille, geschmackvolle Toilette und besonders – ein kleiner Fuß waren genügend, um ihn zu bezaubern; doch gebrach es ihm an der nötigen Keckheit, um jemals einen ernstlichen Angriff zu wagen. Er hatte mehrere Passionen, aber keine einzige Liebe hinter sich. Die größte dieser Passionen war die reizende junge Frau von Norwig auf Passenhofen gewesen, und sie war auch die einzige, deren Koketterie es gelungen war, ihm einst in einer dämmrigen Fensternische das Geständnis zu entlocken, daß er – auf Ehre! – mit 9 Vergnügen bereit sein würde, sich ihr zu Liebe den Hals zu brechen, wenn . . . sie waren gestört worden und er hatte den Satz nie beendigt!
Kein Wunder, daß ihn der plötzliche Anblick dieser Doppelgängerin der einst Angebeteten in eine Erregung versetzte, welche selbst sein phlegmatisches Temperament und seine steife Förmlichkeit nicht ganz verbergen konnte. Man war inzwischen zum Thee geschritten und die Unterhaltung war lebhaft im Gange. Graf Bencken saß neben seiner Cousine Marie und war so von seinen Erinnerungen eingenommen, daß er nicht einmal ihrem höchst interessanten Pferdegespräch mit rechter Aufmerksamkeit zu folgen vermochte. Sie hatte ihm eben von ihrem so übel abgelaufenen Abenteuer mit dem bösen Hengste Bericht erstattet und hinzugefügt, daß sie wohl für längere Zeit verhindert sein werde, in den Sattel zu steigen.
Und darauf hatte er, den blonden Schnurrbart wohlgefällig ausziehend, erwidert: »Das ist ja scharmant, da können wir ja gleich morgen früh ein kleines Handicap reiten.«
»Du träumst wohl, Emich,« flüsterte sie ihm zu: »Kannst dich wohl immer noch nicht über unser hübsches Fräulein beruhigen? Ist die Aehnlichkeit wirklich so auffallend?«
Und ebenso leise gab der Vetter zurück: »Ich würde mich keinen Augenblick besinnen, vor Gericht einen Eid darauf abzulegen, daß dies Frau von Norwig sei. Wenn ich nur ihre Füße einmal sehen könnte! Es ist nicht denkbar, daß ein zweites Paar von Frau von Norwigs weltberühmten Füßen noch irgendwo existieren sollte.«
»Du warst wohl sehr verliebt in Frau von Norwig?«
»Ja, parbleu! Wie wir alle. Das heißt – ich war speziell in ihren Fuß verliebt. Du weißt ja: Elfenfüßchen sind meine Achillesferse, wie Kamerad von Bock immer sagte – ha ha! Wenn du mir versprichst, mich diesem fatalen Menschen dadrüben« – er streifte Norwig mit einem vorsichtigen Blicke – »nicht zu verraten, so könnte ich dir ein kleines Abenteuer . . .«
»Anständig?« warf die Komteß ein.
»Aber selbstredend! Wie würde ich mir sonst erlauben . . .« versetzte Karl Egon Emich errötend. »Also 10 denke dir: es ist mir effektiv gelungen, in den Besitz von einem Paar Schuhe zu kommen, welche die reizende Frau auf unserm Kasinoballe angehabt hatte!«
»Nun seh' einer den Duckmäuser an! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut,« flüsterte Base Marie. »Wie hast du sie nur dazu gebracht, dir die Schuhe zu schenken?«
»O sehr einfach: Ihre Zofe hatte immer eine offene Hand, sobald jemand nur eine Doppelkrone zückte!«
Der brave Karl Egon Emich bewies durch dies Herausplatzen mit der nackten Wahrheit, daß es ihm gar sehr an Phantasie gebrach, sonst hätte er doch nicht die gute Gelegenheit versäumen dürfen, durch eine geschickte Erfindung als Don Juan zu glänzen.
»Ist diese kostbare Eroberung noch in deinem Besitze?« fragte die Base neugierig.
»Gewiß. Ich führe sie sogar nebst einigen andern teuren Souvenirs immer in meinem Handkoffer bei mir.«
In den grauen Augen der tollen Komteß blitzte es schalkhaft auf; sie neigte sich dem Vetter noch näher zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Weißt du, Emich, da könnten wir ja eine richtige Prinzessinnen-Probe à la Aschenbrödel aufführen! Eine kostbare Idee! Nimm einmal deinen ganzen Geist und Witz zusammen – das kann dir ja nicht schwer werden! Mache dich niedlich um Fräulein Sophie und bringe sie dahin, daß sie sich von dir den Schuh anpassen läßt.«
»Was habt ihr denn da immer zu tuscheln?« rief die Gräfin-Mutter laut. Und das allgemeine Gespräch, das durch Finks Scherze und das Gelächter der übrigen die Aufmerksamkeit von den beiden Verschwörern abgelenkt hatte, schwieg für einen Augenblick.
Graf Bencken schaute errötend und verlegen auf seinen Teller und führte rasch ein großes Stück Rebhuhn zum Munde; aber seine Base ergriff das Wort für ihn und wandte sich lächelnd an Fink: »Entschuldigen Sie unsre Ungezogenheit. Wir Sportsleute sind ein undankbares Publikum selbst für die besten Geschichten, sobald wir uns in ein Pferdegespräch vertieft haben. Vetter Emich erzählte mir 11 eine kostbare Geschichte, wie er einen schlauen Pferdejuden überlistet hat.«
»Aber ich habe ja gar keine Pferde mehr,« flüsterte der Graf bestürzt hinter der vorgehaltenen Serviette.
»Schweig doch still!« gab die Komteß mit einem kleinen Rippenstoß zurück.
Glücklicherweise waren die Geschichten des Vetters Bencken dafür berühmt, daß sie meist keine Spitze hatten und die Gesellschaft war infolgedessen nicht neugierig, diese letzterwähnte zu hören. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich vielmehr wieder dem Meister Fink zu, welcher mit überwältigendem Humor eine abenteuerliche Reise nach England schilderte, die er einst in Begleitung seiner Schwester und deren Kommode ausgeführt hatte. Jenes Unglücksmöbel hatte nämlich ihrem Fortkommen alle erdenklichen Schwierigkeiten in den Weg gelegt, da sein Gewicht und seine Unhandlichkeit allerorten die Gepäckträger zu offener Rebellion getrieben hatte. Am Ziele der Reise, einem kleinen Haltepunkte, der auf einem hohen Bahndamme lag, war es dann schließlich von dem verzweifelten Bruder durch einen energischen Tritt kostenlos die steile Böschung hinunter befördert worden; und die anschauliche Schilderung der über solche Behandlung jammernden Schwester, sowie des auf den kühnen Fremdling drohend eindringenden Bahnpersonals, wirkte in ihrer dramatischen Lebendigkeit und in ihrem Gemisch von Englisch und Hamburgisch so ergötzlich, daß die heiterste Laune bis zur Aufhebung der Tafel herrschte.
Fräulein Sophie allein erlaubte sich in ihrer Bescheidenheit nicht in das allgemeine Gelächter einzustimmen. Obwohl durch ihre Pflicht genötigt, öfters aufzustehen und sich an der Servante und dem Büffett zu thun zu machen, hatte sie doch das heimliche Gebaren jener beiden mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt als Finks lustige Geschichten. Und obwohl sie zu entfernt saß, um auch nur ein Wort aus ihrer Unterhaltung aufzufangen, so hatte ihr ihre scharfe Beobachtungsgabe doch verraten, daß sie selbst deren Gegenstand gewesen sei. Wußte sie doch seit jenem ersten Frühstück, bei welchem Komteß Marie so anzügliche Bemerkungen hatte 12 fallen lassen, daß sie in dieser unschönen jungen Dame eine ihr gewachsene scharfe Beobachterin und vielleicht gar gefährliche Feindin besitze. Sie mußte sich sagen, daß die Zahl ihrer Gegner ganz bedenklich im Wachsen begriffen sei: Beate Meusel mußte sie seit ihrem Unfall mit der Gartenthür nur noch grimmiger hassen; der alte Graf wagte sie seit jenem Tage gar nicht mehr anzusehen und hatte sie offenbar in dem Verdacht, ihn schnöde verraten zu haben; Komteß Marie gegenüber mußte sie mit jedem Worte, mit jedem Blicke auf der Hut sein und selbst Komteß Vicki konnte durch diesen verwünschten Vetter Fink leicht zur Partei ihrer Gegner hinübergezogen werden. Graf Bencken endlich war trotz seiner Leichtgläubigkeit und rührenden Harmlosigkeit dennoch den übrigen unter Umständen ein mächtiger Verbündeter. Ihre einzige verläßliche Stütze war demnach nur noch die alte Gräfin, sowie der Umstand, daß Norwig schweigen mußte. Aber so leicht gab sie ihre Partie nicht verloren und schon arbeitete ihr erfinderisches Gehirn an der Skizze eines neuen Feldzugplanes. – –
Die Abendandacht gestaltete sich heute durch die Anwesenheit der beiden fremden Herren zu einer ganz besonders feierlichen.
Die Gräfin hielt es, nachdem sie heute so viel und herzlich über die Späße des Weltkindes Hanswurstfink gelacht hatte, doppelt für ihre Pflicht, den fröhlichen Tag erbaulich abzuschließen.
Sie begann wie üblich mit einem Liedervers und zog dann die Losung. Mit fester, starker Stimme trug sie dieselbe vor: »Drei Stücke sind, denen ich von Herzen feind bin und ihr Wesen verdreußt mich übel. Wenn ein Armer hoffärtig ist und ein Reicher gern lügt und ein alter . . .« Hier stockte sie plötzlich in sichtlicher Verwirrung. Nein, was da stand, das konnte sie unmöglich vorlesen! Ihr guter Alter hatte ja ehrlich gebüßt und geschwitzt für seine kleine Verirrung. Es wäre zu grausam gewesen, ihm, nachdem er also seine Reue an den Tag gelegt und Besserung gelobt, vor dem versammelten Hausstande die Worte des Jesus Sirach zuzurufen: »Und ein alter Narr ein Ehebrecher ist« – so nämlich endete die unglückselige Losung.
13 Sie war einen Augenblick unschlüssig, was sie thun sollte. Sie hielt ihr Zettelchen weit von sich und blickte über ihre Brille hinweg darauf hin. Da kam ihr ein rettender Gedanke. »Was hier noch steht, das kann ich nicht lesen,« sagte sie. »Es ist so undeutlich gedruckt. Du hast ja so gute Augen, Helmut . . .« wandte sie sich an den hinter ihr sitzenden Gatten und reichte ihm den Zettel zu.
Doch dieser hatte kaum einen Blick auf jenen verfänglichen Schlußsatz geworfen, als er auch schon hastig hervorstieß: »Hm – hm – unmöglich! Vollständig unleserlich!«
»Na, dann laß man!« sagte die Gräfin, indem sie ihm den Zettel wieder abnahm und zu einer kleinen Kugel zusammenrollte. »Es ist ja auch schon schlimm genug, wenn ein Armer hoffärtig ist und ein Reicher gern lügt!« Bei den letzten Worten fiel es ihr plötzlich schwer aufs Gewissen, daß die Vermahnung wider die Reichen sie ja nun selber treffe und dieses Bewußtsein verwirrte sie dermaßen, daß sie fürderhin kaum wußte, was sie las und sich alle Augenblicke versprach.
Den größten Eindruck machte der ganze Vorgang zweifelsohne auf den Hamburger Künstler, dessen feines Gefühl für allerlei Humore sich sozusagen mit allen Poren vollsog. Dabei widmete er auch der reichen Fülle der andächtigen Physiognomieen ein eifriges Studium und bedauerte lebhaft, daß der Anstand ihm verbot, die Scene mit seinem Bleistift festzuhalten. Er beschloß jedoch, an jedem Abend eine dieser Figuren so aufmerksam zu studieren, daß er im stande wäre, sie aus der Erinnerung zu zeichnen. An diesem ersten Abend fesselten ihn zumeist des Küchenmädchens Line anspruchslose Züge, welchen der harte Kampf gegen den tückischen Morpheus eine seltsame Beweglichkeit verlieh.
Neben Fink saß Vicki, die frischen, vollen Wangen von dem köstlichen Rosenrot ihrer kindlichen Aufregung überhaucht. Welch ein lustiges Leben das jetzt werden sollte! Dieser junge Mann war doch wirklich noch viel netter, als Herr von Norwig, der immer so ernst dreinschaute und so klug redete.
Graf Bencken folgte der erbaulichen Vorlesung mit 14 wichtiger Miene. Der Umstand, daß Fräulein Bandemer ihm gerade gegenüber saß, gewährte ihm die erwünschte Gelegenheit, ihre regelmäßigen weichen Züge in Ruhe zu studieren. Sie saß neben dem Inspektor Reusche im Centrum der Gesindeseite, hielt die Hände fromm im Schoß gefaltet, das dunkle Köpfchen zur Seite geneigt und die Augen niedergeschlagen. Karl Egon Emich verwandte kaum einen Blick von ihr – die Aehnlichkeit war doch zu wunderbar! Und jetzt, als die Gräfin den Grolmus beiseite legte und nach dem Gesangbuch griff, beugte das schöne Fräulein ihr Haupt auf die andre Seite und zugleich streckte sie ihre Füße unter dem Saume des Kleides vor und legte sie leicht übereinander. Ha! Dieser zierliche ausgeschnittene Schuh mit der Atlasrosette! War es möglich, daß noch eine zweite Frau dieselbe Nummer trug, wie einst die unvergeßliche Herrin von Passenhofen?!
Der unaufmerksamste unter allen Versammelten war ohne Frage Ludolf Reusche, der nun schon über acht Tage lang das schmerzlich süße Glück genoß, neben der bezaubernden Sophie zu sitzen. Seine wasserblauen Augen thaten ihm schon weh von dem allabendlichen Schielen, und er wagte kaum mehr seine Joppe zuzuknöpfen, aus Furcht, daß sein wildpochendes Herz einmal die Knöpfe sprengen könnte. Leider schien ihm seine berückende Nachbarin ebenso spröde als schön zu sein, und wo sollte er, der nicht einmal gewagt hatte, Pastors Beate über seine nunmehr verflossenen Gefühle aufzuklären, den Mut hernehmen, dieser stolzen Schönen Geständnisse zu machen! Herr von Norwig blickte auch immer so eigentümlich zu ihr hinüber, Graf Bencken verwandte kein Auge von ihr, und wie der alte Herr Graf sich zu ihr zu stellen gesonnen war, das wußte er ja nur zu gut von Beate – wie in aller Welt sollte er eine so vornehme Nebenbuhlerschaft überwinden!
Die Abendandacht war beendet, das Personal wünschte gute Nacht, und die Herrschaften zogen sich in das Wohnzimmer zurück. Draußen vor der Thür wünschte der Inspektor mit einer tiefen Verbeugung dem Fräulein Sophie recht wohl zu schlafen und war im Begriff, sich mit einem 15 vernehmlichen Seufzer zu entfernen, als das Fräulein ihn noch einmal zurückrief.
»Wie ist es draußen heute abend?« fragte sie. »Ich möchte gern noch ein bißchen frische Luft schöpfen, wenn es nicht zu kalt ist. Ich bin den ganzen Tag nicht aus dem Hause gekommen.«
»O, es ist heute so warm wie lange nicht,« beeilte sich Herr Reusche zu versichern. »Sie sollten wirklich die frische Luft noch genießen, Fräulein. Und der Mond scheint auch so schön!«
»Dann will ich mir nur schnell mein Tuch holen und noch ein wenig in den Park hinunterschlüpfen,« sagte Sophie und stieg leichtfüßig die Treppe empor.
Obwohl sie ihn nicht ausdrücklich dazu aufgefordert hatte, harrte doch Ludolf Reusche ihrer laut klopfenden Herzens vor der Hausthür. Und sie kam wirklich schon nach wenigen Minuten heraus, ohne Hut, nur ein dunkles Chenilletuch um die Schultern geschlagen.
»Ah, Herr Inspektor, da sind Sie noch?« rief sie leise, wie freudig überrascht.
»Ja, ich wollte auch noch etwas den schönen Abend genießen. Wenn Sie mir vielleicht gestatten, Sie zu begleiten?«
»Sie sind sehr liebenswürdig,« erwiderte sie lächelnd und begann an seiner Seite nach dem Wasser zu hinab zu schreiten. Der Vollmond goß sein mildes Licht über die schon herbstlich bunten Baumgruppen und glitzerte kühl und geisterhaft auf dem Wasserspiegel. Die Grillen zirpten in dem weißgrau leuchtenden Rasen, ein paar Fledermäuse taumelten leise pfeifend durch die Luft, und von der alten, hohen Silberpappel herab lachte ein Käuzchen.
»Solch Mondschein ist doch wirklich sehr was Schönes!« rief der Inspektor schwärmerisch aus. Und dann seufzte er wieder tief auf.
»Gewiß,« pflichtete das Fräulein ernsthaft bei. »Man erkältet sich nur zu leicht.«
»Finden Sie wirklich?! In Ihrer Nähe könnte ich mich nie erkälten, selbst wenn ich am Nordpol im Sommeranzug spazieren gehen müßte!«
16 »Aber Herr Inspektor, wie können Sie so etwas sagen!«
Er errötete tief und verfiel wieder in das vorige Schweigen. Erst nach einer längeren Pause wagte er das Gespräch von neuem mit der Frage zu eröffnen, wie es ihr hier im Hause gefalle.
»O, sie sind ja alle sehr gut gegen mich,« antwortete Sophie. »Als armes, alleinstehendes Mädchen macht man so traurige Erfahrungen über die Lieblosigkeit der Menschen, daß einem ordentlich das Herz aufgeht, wenn man es einmal so gut trifft, wie ich hier im Hause.«
»Ja, da haben Sie recht,« versetzte Reusche. »Die Herrschaften sind wirklich sehr freundlich. Der alte Herr Graf ganz besonders gegen hübsche junge Damen . . .«
»Mein Gott, haben Sie auch von der dummen Geschichte etwas gehört? Ach, glauben Sie nur nicht, daß ich solche Abenteuer gern habe. Ich weiß sehr wohl, daß die vornehmen Herren doch nicht viel Gutes mit einem im Sinne haben. Gleich und gleich gesellt sich gern – damit habe ich es immer gehalten.«
»Wirklich, Fräulein?« rief Ludolf hoffnungsvoll bewegt. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht. Und sehen Sie: Wenn Sie solchen Herren begünstigen, weiß er es ja noch gar nicht einmal so zu würdigen, wogegen ein einfacher Mann, wie ich zum Beispiel, sich unendlich glücklich schätzen würde, wenn . . .«
Sie that, als sei sie seiner Rede nicht gefolgt und unterbrach ihn mit den Worten: »Nur einer ist hier im Hause, den ich gar nicht recht leiden mag. Ich thue ihm vielleicht unrecht, aber ich kann mir nicht helfen – ich finde ihn unausstehlich hochmütig, Sie müssen ihn ja übrigens besser kennen wie ich, da Sie ja so viel mit ihm zu thun haben.«
»Ah, Sie meinen unsern neuen Oberverwalter!« rief ihr Begleiter gedämpft. »Mit dem geht es mir gerade so wie Ihnen. Der Herr hat gewiß ein paar gelehrte Bücher gelesen und behandelt nun uns erfahrene Oekonomen wie Schuljungen. Er denkt wahrscheinlich, weil er von Adel ist, dürfte er sich alles herausnehmen!«
17 »Ja, nicht wahr?« pflichtete Sophie bei: »Er hat auch so etwas von einem Jesuiten und Erbschleicher an sich. Wer weiß, was der alles im Schilde führt!«
Der Inspektor lachte überlegen: »Nun, das ist mir ganz klar: Er geht darauf aus, sich bei dem Grafen gehörig einzu-Vetter-Micheln und gleichzeitig unsre tolle Komteß in sich verliebt zu machen.«
»Ah, nicht möglich!«
»Wie ich Ihnen sage. Die ersten Tage ist er kaum von ihrer Seite gekommen; und Sie hätten nur sehen sollen, wie er da den Kavalier spielte! Und nun vollends wie das Unglück mit dem Hengst passierte, da hat er sich Dinge gegen unsre Komteß herausgenommen, daß man sich förmlich schämt davon zu reden!«
Trotz dieser abschreckenden Andeutung ersuchte ihn das Fräulein so schmeichelnd um nähere Aufklärung gerade über diesen Punkt, daß er sich genötigt sah, haarklein zu berichten, was er an jenem Morgen mit eignen Augen gesehen oder durch den alten Hinrich erfahren hatte. Ganz besonders entrüstet zeigte er sich darüber, daß jene beiden auf dem Heimwege französisch gesprochen hätten! Das könnte doch gewiß nichts Anständiges gewesen sein!
»Und Komteß Marie läßt sich das alles ruhig gefallen?« rief das Fräulein sittlich entrüstet.
»Es scheint doch so,« versetzte er achselzuckend. »Sie ist überhaupt jetzt kaum wiederzuerkennen gegen früher. Sie hatte immer ein so resolutsches Wesen, daß wir sie alle wie einen Mann ansahen; aber jetzt ist sie auf einmal so sanft und still geworden wie ein richtiges Frauenzimmer.«
»Es gehört aber doch Courage dazu, eine so garstige Frau zu heiraten,« höhnte Sophie. »Wissen Sie denn, ob sie das Gut erbt? Oder ist es ein Majorat?«
»Ich glaube nicht. Der Graf hat auch oft im Spaß zu ihr gesagt: ›Wenn du einmal hier Herr bist, dann gründest du gewiß ein Gestüt und baust nichts wie Hafer‹.«
»Dann begreife ich allerdings!« lachte das Fräulein. »Die Männer sehen doch alle nur aufs Geld.«
»O nein, Fräulein, doch nicht alle!« rief Reusche innig 18 und blickte sie dabei verliebt an. »Ich zum Beispiel würde nur aus Liebe heiraten. Ich bin so sehr für das Ideale! O wenn Sie wüßten . . .«
Vom Hause her ertönte ein langgezogener Pfiff, das Zeichen, mit welchem Friedrich die beiden Hunde herbeirief, wenn er abends die Hausthüre schloß.
Fräulein Sophie entzog ihrem so schön im Zuge befindlichen Liebhaber schnell die Hand, die er zu ergreifen gewagt hatte, und lief eilig nach dem Hause zu, um nicht ausgesperrt zu werden. Der Inspektor mußte sich gleichfalls in Trab setzen, um mit ihr Schritt zu halten.
»Werde ich bald wieder das Vergnügen haben, Sie begleiten zu dürfen?« keuchte er. »Es plaudert sich so schön bei Mondschein!«
»O gewiß, ich spreche mich auch so gern einmal aus zu meinesgleichen, wenn ich fühle, daß ich verstanden werde. Aber Sie dürfen nicht so ungestüm sein, lieber Herr Inspektor.«
Lieber Herr Inspektor! hatte sie gesagt – wie das berauschend klang! Er preßte einige recht feurige Küsse auf ihre weiße Hand und dann ließ er sie allein die Auffahrt hinauf laufen.
Er saß, in seinem kahlen Junggesellenzimmer im Wirtschaftsgebäude, noch lange am offenen Fenster und starrte beseligt in die Mondnacht hinaus. Ja, er versuchte sogar zu dichten; doch ließ sich seine spröde Muse nur eine einzige Strophe abtrotzen. Sie lautete:
»Du bist so schön, so schön, so schön,
Wie ich zuvor sonst nichts geseh'n!
Was gibt es doch für himmlische Gestalten –
Ich hätt' es nie für möglich gehalten!«
Bezüglich des Versmaßes schien ihm zwar etwas nicht ganz in Ordnung zu sein; aber dennoch bewahrte er das Manuskript dieses »Liedes« sorgfältig in der Tasche seines Wirtschaftskalenders auf. – –
Die gräflichen Damen hatten heute selbst den Cigarrenrauch nicht gescheut, um nur noch länger die Gesellschaft des lieben Vetters Karl Egon Emich und besonders die 19 Unterhaltung Hanswurstfinks genießen zu können. So war es denn zum größten Erstaunen der Frau Gräfin Mitternacht geworden, ehe man sich in der heitersten Stimmung trennte.
Der alte Graf war so höflich, seinen Neffen selbst in sein Schlafzimmer hinauf zu begleiten. Als sie dort allein waren, sagte er: »Apropos, lieber Emich: diese Geschichte mit der Frau von Norwig ist ja äußerst pikant. Habt ihr etwas miteinander gehabt – Eh? Es fiel mir auf, daß du und Norwig so sonderbar reserviert gegeneinander wart. Bist ihm wohl mal ins Gehege gekommen – kleiner Schwerenöter!«
»O nein, weit gefehlt!« schnarrte der jüngere Graf; und mit sehr wichtiger, fast drohender Miene setzte er hinzu: »Ich kann dir nur sagen, daß mir der Herr äußerst fatal ist. Und wenn er mir nicht über gewisse Vorkommnisse vollkommen befriedigende Aufschlüsse erteilt, so dürfte er bald genug Gelegenheit finden, mit einem gewissen Graf Bencken seine Klinge zu kreuzen.«
»Hollah, das klingt ja ganz gefährlich! Was zum Henker habt ihr denn miteinander gehabt?« rief Graf Pfungk. Aber da der Neffe sein Geheimnis durchaus nicht preisgeben wollte, so mußte er sich endlich kopfschüttelnd entfernen.
Trotz der so ungewohnten späten Abendzeit hätte Vicki gern noch ein Stündchen mit ihrer Schwester verplaudert; doch Marie wollte davon nichts hören. Sie antwortete ihr gar nicht und zwang sie so zu Bett zu gehen. Ihr selbst freilich schwirrten die Gedanken noch so lebhaft im Kopfe durcheinander, daß von Schlafen vorläufig keine Rede sein konnte.
Sie hatte den ganzen Abend über, auch während sie mit den andern lachte und scherzte, nur an das eine gedacht: Er hat dich belogen, er hat dich und alle getäuscht! Diese angebliche Sophie Bandemer ist ganz bestimmt seine Frau. An eine solche wunderbare Aehnlichkeit glaube ein andrer! – Sie erinnerte sich deutlich der ersten Begegnung Norwigs mit dem Fräulein im Walde und der unverkennbaren Ueberraschung, welche dasselbe dabei an den Tag gelegt hatte. Selbst wenn ein ungewöhnlicher Zufall Herrn von Norwig hier eine Dame in den Weg geführt hätte, welche seiner 20 Frau so täuschend ähnlich sah, so wäre es doch nicht mehr glaublich gewesen, daß auch er eine auffällige Aehnlichkeit mit einem ihrer alten Bekannten aufweisen sollte! Sie war also ohne Zweifel wirklich seine Frau. Weshalb aber dann dieses Versteckspiel? Weshalb gestand er ihr, daß er geschieden sei, und sagte den Eltern, seine Frau wäre tot? Waren sie wirklich geschieden, und sie war ihm dennoch wieder in dieses Haus gefolgt, um ihn durch ihre Anwesenheit zu quälen, oder vielleicht zu irgend einem Zugeständnis zu zwingen, warum trat er dann nicht offen gegen sie auf, enthüllte ihren Eltern sein wahres Verhältnis zu diesem sogenannten Fräulein und forderte sie auf, ihn durch dessen sofortige Entlassung aus einer so unwürdigen Lage zu befreien? Was in aller Welt konnte ihm Schweigen auferlegen, wenn nicht auch seinerseits eine Schuld vorlag, welche ihn mit gebundenen Händen der Willkür jenes ränkesüchtigen Weibes auslieferte? Er machte doch auf jeden den Eindruck eines höchst entschiedenen, willensstarken Mannes: warum floh er vor dieser Frau, die ihm das Leben zerstört hatte, von Weltteil zu Weltteil, anstatt sich ein für allemal, und wenn es sein mußte gewaltsam, von ihr zu befreien? Dies Rätsel war nicht zu lösen ohne die Annahme, daß auch ihn eine dunkle Schuld in Fesseln schlage.
Sie, die tolle Komteß, war diesem Manne mit einem Vertrauen entgegengekommen, wie keinem je zuvor. Sein ritterliches Auftreten, seine Weltkenntnis, seine klare und freie Ausdrucksweise hatten sie ungemein gefesselt. Gerade der denkende Mensch in ihr, welcher im elterlichen Hause bisher ein nur wenig beachtetes Dasein gefristet hatte, war durch Norwig aus seinem bescheidenen Seelenwinkel hervorgelockt worden. Ja noch mehr! In heimlicher Zwiesprache mit ihrem eignen Herzen mußte sie sogar zugeben, daß dieser Mann ihr geholfen habe, in sich selbst erst das Weib zu entdecken! Zum erstenmal, soweit ihre Erinnerung reichte, war ihr im Gespräch mit diesem Manne jener leichte Champagnerrausch wohliger Befangenheit zu Kopfe gestiegen, welcher dem trunkenen Bewußtsein der Liebe in heißblütigen Menschenherzen voraufzugehen pflegt; und in die Erinnerung an seine 21 Unterhaltung hatte sich mehr als einmal ein Gefühl unklaren Sehnens gemischt, dessen sie mit brennenden Wangen sich angstvoll bewußt geworden war. Sollte sie die Erstlinge ihres stolzen Herzens einem unwürdigen Götzen geopfert haben? Er hatte es ihr erst zum Bewußtsein gebracht, daß das, was in den Augen ihrer kleinen Welt vornehmlich ihre Tollheit ausmachte, nichts andres war als der urwüchsige Drang ihrer Seele nach Freiheit im Denken und Fühlen, nach Wahrhaftigkeit und ehrlicher Natürlichkeit in der Führung des Lebens. Und nun sollte der Meister, der solche Weisheit ihr gepredigt hatte, selbst so tief in die Lüge verstrickt sein, daß er nicht einmal mehr wagen durfte, ehrlich gegen jene andre Lüge, die ihn so grausam verfolgte, das Schwert zu ziehen?!
Aber sie fühlte sich trotz ihres gesunden Wirklichkeitssinnes und ihres klaren Verstandes doch so wenig welterfahren, daß sie wohl annehmen konnte, es gebe in dem bewegten Leben eines Mannes Verhältnisse, von denen sie keine Ahnung haben könne und welche stärker seien als der festeste Wille zur Wahrhaftigkeit. Ach, wenn sie ihm doch helfen könnte, so wie er ihr geholfen hatte! Gern wollte sie alle die thörichten Vorschriften der landläufigen Sitte beiseite setzen, wenn es ihr nur vergönnt würde, der bedrückten Seele dieses Mannes wieder freien Atem zu verschaffen, so wie er jüngst ihrer Lunge, und ihm als Charakter wieder in den Sattel zu helfen, so wie er jüngst ihrem Körper in den Sattel geholfen hatte.
So weit war sie in ihrem Grübeln und Sinnen gekommen, als sie sich plötzlich leicht am Arme berührt fühlte. Der Vollmond erhellte trotz der herabgelassenen Vorhänge das Schlafzimmer so weit, daß sie deutlich ihre Schwester erkennen konnte, die in ihrem weißen Nachthemd mit dem duftigen Spitzenjabot und den darüber lose herabfallenden Haaren wie ein Geist, und zwar ein sehr freundlicher und wohlgenährter Geist, neben ihrem Bette aufgetaucht war.
»Aber Vicki, was soll das?« fragte Marie: »Bist du ein bißchen mondsüchtig geworden?«
»Ach, ich kann durchaus nicht einschlafen – laß mich ein bißchen bei dir kuscheln!«
22 Die große Schwester machte ihr mit Vergnügen Platz, nahm die kleine Nachtwandlerin in ihre Arme und zog sie zärtlich an sich. »Nun, was hast du denn, was drückt dir denn das Herz ab?« neckte sie den lieben Gast.
»Ach, denke dir nur, Ma – ich habe zwar versprochen es nicht weiter zu sagen, aber ich glaube, es wäre unrecht, wenn ich es dir verschwiege . . .«
»Was denn, Kind? Du machst mich neugierig.«
»Es war doch zu merkwürdig, nicht wahr, daß Emich unser Fräulein für Frau von Norwig hielt? Und denke dir, es ist auch herausgekommen, daß sie eine Cousine von Herrn Fink ist! Es war so sonderbar! Sie wollte gar nichts davon wissen und erzählte so schlechte Sachen von Herrn Finks Papa! Ich sollte zwar niemand etwas sagen, aber . . .«
»Beruhige dich nur; ich habe fast die ganze Unterhaltung mit angehört. Du hattest wieder einmal die Thür offen gelassen!«
»Ach wirklich? Dann hast du wohl auch gehört, was sie nachher zusammen gesprochen haben, nachdem ich fortgelaufen war?« rief Vicki sehr lebhaft.
»Ja, einiges habe ich allerdings gehört.«
»Was hat er denn von mir gesagt?«
»Wer denn?«
»Na Fink natürlich!«
»Warum soll er denn etwas von dir gesagt haben? Man pflegt doch gewöhnlich nicht gleich jedem Menschen seine Meinung über einen andern aufzudrängen.«
»Ach bitte, bitte, sag mir's doch!« beharrte Vicki. »Er hat gewiß etwas gesagt.«
Komteß Marie konnte der Schmeichlerin nicht lange mehr widerstehen und verriet ihr endlich, daß Hanswurstfink erklärt habe: Sie sei ganz sein Genre.
»Siehst du? siehst du! Ich wußte es doch, daß er von mir gesprochen hat! Ich hörte ordentlich die Glocken läuten, wie ich den Tannengang hinunterlief. Ganz sein Genre! Ist das nicht reizend? Findest du ihn nicht auch süß?«
23 »Ach Vicki, Vicki, was soll denn das mit dir noch werden?« lachte Marie. »Du und Papa, ihr müßt auch immer verliebt sein!«