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Ein so heiterer Sonnenschein auch in den ersten Septembertagen über der Pfalz gebreitet lag, die Rebengelände vergoldete, unten auf dem Rheine sich spiegelte und oben in den Fenstern der Wachtenburg funkelte und blitzte, als stünden dort Reisige mit blinkendem Stahlhelm und Harnisch – Steineckers Haus, das er wie alle anderen außen umwob, konnte er innen nicht aufhellen und durchwärmen und fand dort keine fröhlichen Gesichter, die ihm sein wohlmeinendes Lächeln erwiderten. Wie hängendes, verstaubtes Spinnweb an nicht gesäuberten Wänden, so nisteten Unzufriedenheit und Verdrossenheit in den Stuben und Kammern und ließen die Gemütsverfassung, den Verkehr untereinander, das ganze Dasein der Bewohner grau in grau erscheinen.
Sie fühlten sich vereinsamt, vernachlässigt, beinah gemieden von so manchen, die sich früher zu ihnen gehalten hatten. Vor allem war das ehemals freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen und den Gersbachers mehr und mehr ein widerhaariges, feindliches geworden, und der Grund davon lag klar auf der Hand. Der einst beiderseitig gefaßte Plan einer Verheiratung von Sohn und Tochter der zwei Familien zerschlug sich oder hatte sich vielmehr bereits zerschlagen. Gersbacher löste sein Wort, das er Adam Steinecker für das Zustandekommen dieses Ehebundes gegeben hatte, nicht ein, denn obgleich er es noch nicht ausdrücklich zurückgenommen hatte, war doch an eine Erfüllung nicht mehr zu denken. Sie müßten ja blind gewesen sein, um nicht zu sehen, daß sich Franz mit Wissen und Billigung seiner Eltern von Jakobinen völlig losgesagt und so zu Armbrusters Trudi hingeneigt hatte, daß die öffentliche Kundgebung des Verspruches täglich zu erwarten war. Und war ihnen bis in die jüngste Zeit noch ein Zweifel daran geblieben, so hatte ihn Gersbachers grobe Abfertigung, die er dem Vater Jakobinens beim Schoppenglase hatte zuteil werden lassen, in nicht mißzuverstehender Weise endgültig beseitigt. Diese in Gegenwart anderer Gäste ihm zugefügte Beleidigung, auf die er die Antwort schuldig geblieben war, konnte Steinecker nicht verwinden.
Die Entstehung des Zerwürfnisses, besonders die Vereitelung des Heiratsplanes schrieb er dem, wie er glaubte, überall ihm entgegenarbeitenden Einflusse des mit Gersbacher sehr vertrauten Bürgermeisters zu, der, wie er behauptete, schon seit Jahren, sein entschiedener Widersacher wäre, weil er die Geschäftsverbindung mit Hammichel nicht abbrechen wollte. Aber auch seine Tochter Jakobine bekam bittere Vorwürfe von ihm zu hören, daß sie sich töricht und ungeschickt benommen, sich den fürsorglich für sie festgemachten reichen Bauernsohn entgehen lassen und nichts getan hätte, ihn festzuhalten, so daß ihn nun Armbrusters für ihre hergelaufene, habelose Niftel geangelt hätten.
Dazu schwieg die Gescholtene, weil sie das besser wußte als ihr Vater, ihn aber nicht darüber aufklären wollte. Außer dem, nicht einmal verdienten, väterlichen Zorn hatte sie aber auch bei vielen Wachenheimern großes Ärgernis dadurch erregt, daß sie sich bei dem Brande leidenschaftlich auf Franz geworfen hatte, um ihn an der Rettung Trudis zu hindern, weil er ja selber dabei verloren, d. h. ihr verloren gehen konnte. Das deuchte ihnen unweiblich und obendrein gefühllos gegen die in Lebensgefahr Schwebende, und manch einer und eine ließ das sie und ihre Familie deutlich empfinden.
Daraus machte sich Jakobine nicht viel, war überhaupt von allen im Hause am wenigsten bekümmert und schien sich über das Mißgeschick verschmähter Liebe merkwürdig leicht hinwegzusetzen. Die anderen begriffen ihre fast nie getrübte Heiterkeit nicht, weil sie deren geheime Ursache nicht kannten. Diese war das schmeichelnde, kitzelnde Gefühl, sich an der rächen zu können, wenigstens deren noch tieferen Sturz aus allen Himmeln nahe vor Augen zu haben, die sie ihrer Meinung nach aus einem Herzen verdrängt hatte, das sie selber in Wahrheit nie besessen hatte. Das Wildfangrecht war die Waffe, die sie zwar nicht geschmiedet hatte, mit der sie aber ihre Feindin tödlich treffen wollte.
Wie sie diese Waffe handhaben mußte, hatte Hammichel sie gelehrt, nicht durch eine Gebrauchsanweisung, sondern durch ein um so mehr reizendes Gebrauchsverbot.
Ihr Bruder Wilm traute seinen Ohren nicht, als sie ihm in fast befehlerischem Tone auftrug, ihr eine Zusammenkunft mit dem Junker Ulrich von Remchingen zu verschaffen. »Was willst du von dem?« fragte er.
»Ist meine Sache,« gab sie ihm kurzweg zur Antwort.
»Aber wie soll ich denn das in die Wege leiten?«
»Ist deine Sache,« lautete ihre ebenso kurze zweite Antwort.
Es behagte Wilm eigentlich nicht recht, sich von Jakobinen als Gelegenheitsmacher benutzen zu lassen. Einmal hatte er ihr Franz in die Laube bestellen müssen, und nun sollte er ihr auch den Junker heranholen. Da sie ihm jedoch auch öfter kleine Gefälligkeiten erwies, ihm z. B. in seinen häufigen Geldklemmen aushalf, so wollte er ihr den Spaß nicht durch seine Weigerung verderben, zumal er sich nicht dazu berufen fühlte, ihr Tugendwächter zu sein. So fügte er sich denn in die seltsame Laune seiner oft unberechenbaren Schwester und veranstaltete das von ihr gewünschte Stelldichein so schnell, daß es ihr selber rätselhaft war, auf welche Weise er das fertig gebracht hatte.
Es fand im Steinecker'schen Hause statt zu einer Stunde, wo der Vater gewöhnlich und so auch diesmal nicht daheim war. Die Mutter aber ließ ihre verhätschelte Tochter in allem gewähren, was sie wollte.
Wilm, so neugierig er auf den Zweck des schwesterlichen Begehrens war, versuchte nicht, die beiden zu belauschen, wußte es jedoch einzurichten, daß er sie gleich nach ihrem Beisammensein zu Gesicht bekam.
Der Junker verließ das Haus mit einem triumphierenden Lächeln, und Jakobine hatte einen hochroten Kopf und etwas zerzaustes Haar, schaute aber ebenfalls sehr vergnügt drein. Wilm sprach zu ihr: »Zur Belohnung dafür, daß ich dir den Junker so fix herbeigezaubert habe, könntest du mir doch nun wohl sagen, was du mit ihm angebandelt hast, denn bloß um dich von ihm abküssen zu lassen, hast du seinen Besuch doch wohl nicht so dringend verlangt.«
»O, ich könnte es dir schon sagen, Wilm,« erwiderte sie, »aber es ist nicht mein Geheimnis allein; darum mußt du dich noch ein wenig gedulden.«
»Also doch ein Geheimnis.«
»Jawohl, ein großartiges Geheimnis. Deine Überraschung wird blendend sein, wenn der Schleier davon fällt,« fügte sie mit freudeblitzenden Augen hinzu und sprang von ihm weg die Treppe hinauf.
Jakobine war in der Tat mit dem Verlauf ihres junkerlichen Abenteuers überaus zufrieden; es hatte ziemlich lange gedauert und war für die keineswegs Spröde sehr belustigend gewesen.
Seine von ihr beabsichtigte Wirkung hatte es einige Tage später auf der Wachtenburg.
Dort stand eines Morgens der Hühner- und Außenfaut Lippert Wallmann, der seinen Wohnsitz in Deidesheim hatte, vor dem Reichsfreiherren in dessen Zimmer und ließ sich also vernehmen: »Wir Faute sind neuerlich angewiesen worden, auf zugewanderte Fremdlinge in der Pfalz zu ahnden, und nun hab ich Euer Gnaden submissest zu melden, daß sich in Wachenheim ein Wildfang befindet.«
»Nun, hast du die Hand auf ihn gelegt?« fragte der Freiherr.
»Nein, noch nicht,« erwiderte der Faut. »Ich wollte in diesem Falle erst die Erlaubnis von Euer Gnaden einholen.«
»Dazu bedarf es doch nicht erst meiner Erlaubnis, sondern du hast ohne weiteres zu tun, was deines Amtes ist,« sprach der gestrenge Herr.
»Jawohl, aber dieser Wildfang ist die nahe Verwandte eines guten, alten Freundes von Euer Gnaden, des Bürgermeisters Armbruster.«
»Was? des Bürgermeisters? wen meinst du denn?«
»Seine Niftel, die Trudi, die aus dem Würzburgischen eingewandert ist.«
»Die Trudi, das junge Mädchen, das sich bei dem Brande so wacker benommen hat, das ist eine Fremde?« fragte der Freiherr verwundert.
»Ganz recht, Euer Gnaden, dieselbige.«
»Lippert, woher weißt du das?«
»Das, Euer Gnaden, bitte ich mir zu erlassen,« entgegnete Lippert verlegen; »ich soll's verschweigen.«
»Was fällt dir ein, Mensch? komm mir nicht mit so dummen Ausflüchten! Du hast zu antworten, wenn ich frage,« herrschte ihn der Gebieter an. »Von wem weißt du's?«
»Junker Ulrich hat mir's gesagt und darauf gedrungen, den Wildfang als Hörige und Leibeigene für den Herrn Reichsfreiherrn in Anspruch zu nehmen,« mußte der Faut nun gestehen.
»So! – Junker Ulrich!« sprach der Freiherr gedehnt. »Wie lange ist das Mädchen schon hier?«
»Zu Kreuz-Erhöhung wirds ein Jahr; also nur noch wenige Tage fehlen, dann soll ich die Fremde hier aufs Schloß bringen,« erwiderte Lippert.
»Hm!« machte Herr von Remchingen. »Nun, du hast wohlgetan, mich diesmal erst um Erlaubnis zu fragen. Vorläufig läßt du das Mädchen ungeschoren, bis ich dir den Befehl erteile, sie zu fahen. Ich will erst mit dem Bürgermeister Rücksprache nehmen, ob die Sache ihre Richtigkeit hat. Verstanden?«
»Zu Befehl, Euer Gnaden!«
»Gut! Dabei bleibt's. Du kannst abtreten. Und schreib dir's ins Achtbuch: Du hast nur mir zu gehorchen, niemand sonst!«
Der Faut verbeugte sich stumm und ging.
Das Zimmer des Freiherrn war ein gewölbtes, mit allerlei Schmuck und Zierrat reich ausgestattetes Gemach. An den Wänden hingen Waffen und Rüstungen, Jagdtrophäen, Geweihe und Gehörne, auf den Kandelbrettern prunkten Schüsseln und Trinkgeschirre von Silber, von blank gescheuertem Zinn oder bunt gebranntem Ton in den seltsamsten Formen. Dazu war es wohlbestellt mit geschnitzten Schreinen und Truhen, einem großen, schweren Eichentisch und hochlehnigen Armstühlen.
In einen solchen ließ sich Herr Dietrich nieder, schlug ein Bein über das andere und stützte den Kopf in die Hand.
»Verfluchte Geschichte, das mit dem Wildfangrecht!« hub er zu sich selber an. »Wird einen harten Strauß geben mit Chrischtoph Armbruster. Das brave Mädel soll ich ihm bannen lassen, statt es zu ehren und zu feiern für seine beherzte Tat. Was wird der alte Freund sagen, wenn ich ihn mit der Nachricht überfalle und als Friedensbrecher den Arglosen aus seiner stillen Behaglichkeit aufstöre! Aber ich kann's ihm nicht ersparen. – Und Ulrich? hübsch muß die Dirne sein, daß er sie hier aufs Schloß, in seinen Bereich haben will, der Junker Schürzenjäger. Wenn seine gute Mutter noch lebte, würde er auf diesen frechen Gedanken nicht kommen, aber auch so mag er sich hüten, das Mädchen anzurühren; ihm soll sie nicht leibeigen werden. Muß sie denn hörig werden? Ja, sie muß. Der Pfalzgraf befiehlt, und der Vogt hat zu gehorchen.« Unwillig erhob er sich vom Sessel und trat hinaus auf den kleinen Altan, der sich an der Außenwand des Gemaches befand und dort wie ein Schwalbennest hoch über dem Burggraben schwebte.
Ein freier Umblick bot sich ihm von hier oben über das rebengrüne Land vom Gebirge bis zum Rheine hin und noch darüber hinaus. Da hinten, weit rechts, ragte auf einem Bergvorsprunge der Haardt die Maxburg, nur noch die Ruine der einstigen alten Reichsfeste, die später den Bischöfen von Speyer zu eigen war. Dort gradaus schaute ihr herrlicher Dom mit seinen Türmen herüber, wo die mächtigen Kaiser im ewigen Schlafe ruhen. »Ja, Speyer!« sprach der Freiherr vor sich hin. »Unser unruhiger Nachbar, der Bischof, verlangt seinen ihm verbrieften Anteil an den Einkünften des Wildfangrechtes, und stopfen wir ihm nicht den Hals, so geht die Fehde wieder los, denn er lauert ja nur darauf, mit uns wieder anbinden zu können, dieser dreimal Gesiebte – wollte sagen Gesalbte des Herrn. Und da, wo in duftiger Ferne das Schloß von Heidelberg schimmert, da sitzt Herr Karl Ludwig, der Pfalzgraf, und lockt wie ein Vogelsteller die Gimpel arme Wildfänge ins Netz, um mit den Fahegulden und Steuerpfennigen seine Kassen zu füllen. Gern helf' ich ihm nicht dabei, das weiß Gott!« Er stampfte mit dem Fuß auf, daß der Sporn am Stiefel klirrte, ging in das Zimmer zurück und befahl, ihm sein Leibroß zu satteln. –
Als der Reichsfreiherr auf dem Abtshofe einritt, fand er die beiden Unzertrennlichen, Trudi und Ammerie, in der Pergola vor dem Hofe, aus der sie schnell herauskamen, den Ritter zu begrüßen.
Wohlgefällig musterte er Trudis anmutige Gestalt und fragte: »Ist das die Trudi?«
»Jawohl, Euer Gnaden!« antwortete Ammerie. »Das ist meine Muhme, die berühmte Trudi, von Geburt Würzburgerin, von Beruf Lebensretterin und außerdem vorzügliche Tänzerin, weil ich sie diese schöne Kunst gelehrt habe.«
Von Geburt Würzburgerin, – also wirklich eine Fremde! »Ich habe von deiner Tat gehört, du liebes Mädchen,« wandte er sich an sie, »und bezeuge dir meine größte Achtung und Freude darüber.« Dann stieg er ab und fragte: »Sagt mal, Kinder, ist kein Knecht da, der meinen Gaul in den Stall bringt? ich werde wohl einigen Aufenthalt beim Herrn Bürgermeister haben.«
»Dazu ist kein Knecht nötig, das kann ich auch besorgen,« sprach Ammerie. »Darf ich Euren Schimmel in den Stall reiten, Herr Reichsfreiherr? eins, zwei, drei bin ich oben.«
»In Trab und Galopp!« erwiderte der Freiherr belustigt und half ihr, wie sie sich behend in den Sattel schwang, natürlich quer, wie Frauen reiten.
Trudi erschrak über die Kühnheit, faßte das Pferd am Zügel und führte es, obwohl Ammerie das nicht leiden wollte. So zogen sie, auf dem Wege dahin einen Bogen über den Hof machend, mit dem geduldigen Tiere dem Stalle zu.
Da erschien Christoph Armbruster in der Haustür, übersah mit einem Blicke, was hier vorging, wußte aber auch sofort, was ihm nun bevorstand. »Aber Mädchen!« rief er.
»Laß sie doch!« lachte der Freiherr, »mein alter Pascha geht mit deinem Grashupf nicht durch.« Dann reichten sie sich die Hände.
Ammerie sprang vor dem Stalle vom Pferde und überließ es dem nun herzueilenden Knechte.
Den beiden Mädchen erteilte Christoph den Auftrag, einen Krug Wachenheimer Gerümpel und Gläser in seine Stube zu schaffen.
»Aha! hast's also doch nicht vergessen, Chrischtoph, was ich dir bei meinem vorigen Besuche sagte, als du mich mit meinem pfälzer ›Dorscht‹ ungetränkt abreiten ließest,« sprach Herr Dietrich in absichtlich scherzhaftem Tone, um nicht gleich von vornherein die trübklingende Saite anzuschlagen. »Nun, ich nehm's mit Dank an, und dein köstliches Gerümpel kommt mir sehr gelegen; es weht ein trockner Wind, der einem den Staub in die Kehle treibt. – Ein schönes Mädchen, deine Niftel! hab' ihr schon meine Anerkennung ausgesprochen über das, was sie getan hat,« fuhr er fort, während ihn der Bürgermeister ins Haus und in seine Amtsstube geleitete.
»Da setz' dich in meinen Sorgenstuhl,« sagte Christoph mit gedämpfter Stimme, denn ihm war schwer ums Herz.
»Im Sorgenstuhl hab' ich heut' auch schon gesessen. – deinetwegen,« erwiderte der Freiherr, dem auch nichts weniger als leicht zumute war, und sie nahmen einander gegenüber an dem großen Schreibtische Platz.
Jetzt brachten die Mädchen den Wein, und Ammerie schenkte die Gläser voll. Der Freiherr redete Trudi wieder an: »Also, liebe Trudi, gib mir noch einmal deine Hand, die so tapfer zuzugreifen versteht, wo's not tut. Das will ich dir gedenken, und wenn ich dir mal helfen kann, soll's gern geschehen; kannst auf mich bauen.«
Tief knicksend dankte Trudi und verließ das Zimmer mit Ammerie, die ihr draußen zuflüsterte: »Du, das gibt heut trotz Gerümpel einen Krach zwischen den beiden. Hast du dir ihre Gesichter angesehen? – gräßlich! Woll'n wir mal ein bißchen horchen?«
»Nein, gehorcht wird nicht!« lehnte Trudi ab. »Sind ja gute Freunde; was sollte sie denn entzweien?« –
Schweigend tranken die beiden Alten sich zu und stellten schweigend die Gläser nieder.
»Chrischtoph,« begann endlich Herr von Remchingen ernst, fast feierlich, »wir sind von Kindesbeinen an zusammen durchs Leben gewandert, und unsere Freundschaft hat in Freud' und Leid standgehalten. Drum zweifle auch heut' an der meinigen nicht, wenn ich dir ein Wort sagen muß, das, falls es dir nicht völlig fremd ist, dich ein wenig erschrecken wird. Chrischtoph, das Wildfangrecht klopft an das Tor des Abtshofes.«
»Ich weiß es, Dieter,« sprach Christoph. »Du kommst Trudis wegen und willst sie hörig machen.«
»So ist es. Kennst du das Wildfangrecht?«
»Ja! vom Schultheißen hab' ich's mir erklären lassen. Nun rate du mir, wie ich mich dagegen verhalten soll.«
»Wüßt' ich nur Rat, mein Alter! dann wollt' ich's wahrlich nicht daran fehlen lassen,« versetzte der Freiherr. »Du hast gehört, was ich eben Trudi gesagt habe.«
»Gerade aus deinen Worten schöpft' ich die Hoffnung, daß du das Mädchen mit der Hörigkeit verschonen könntest, wenn ich – wenn ich dich darum bitte.«
»Bitten, Chrischtoph! Du mich bitten! als ob ich darauf wartete!« sprach der Freiherr. »Ich habe den Faut bereits angewiesen, vorläufig noch nicht die Hand auf Trudi zu legen. Aber der Aufschub nützt nichts, dauernd kann ich's nicht hindern.«
»Du könntest nicht verhindern, daß mir eine solche Schmach zugefügt wird?« fragte Christoph erstaunt und zugleich bestürzt.
»Nein, das kann ich nicht; sonst tät ich's, Chrischtoph.«
»Das will mir nicht in den Kopf.«
»Mir will manches nicht in meinen grauen Kopf, was ich doch tun muß, ob gern oder ungern. Da bleibt nichts übrig als gehorchen und schweigen.«
»Dazu schweig' ich nicht, Dieter!« rief Armbruster erregt, »du wirst mich doch nicht im Stich lassen in meiner Bedrängnis, wirst mich von dieser malefizischen Gewalttätigkeit, die mir an die Ehre meines Namens und meiner Familie geht, nicht widerstandslos knechten und knebeln lassen?«
»Mach deinem Herzen Luft! das kann ich verstehen, aber helfen kann ich dir nicht,« erwiderte Remchingen.
»Ich halte mich an dich. Wer will dich zwingen, ein himmelschreiendes Unrecht zu begehen? wer mich zwingen, es mir gefallen zu lassen? Wenn du die Hand dazu bietest, wenn du dich dazu hergibst, es über mich zu verhängen, so machst du dich zum Mitschuldigen daran,« kam es heftig aus des Bürgermeisters Munde.
»Chrischtoph, vertrau mir!« sprach der Freiherr mit nicht geringer Selbstüberwindung gegenüber diesem harten Vorwurf. »Ich kam als dein Freund, um dir in Ruhe eine Maßregel anzukündigen, die ich mir nicht ausgedacht habe, die ich aber nolens volens auch gegen dich durchführen muß ohne Ansehen der Person.«
»So! dann – ich will dirs nicht verhehlen, Dieter – dann gibt's hier in der Stadt einen allgemeinen Aufstand, den ich auch nicht verhindern kann, selbst wenn ich's wollte, und ich werd' es nicht wollen.«
»Du mußt wollen, du mußt ihn unterdrücken, denn du bist dafür verantwortlich,« hielt ihm der Freiherr streng entgegen. »Eine offene Rebellion wäre eine Unbesonnenheit, die ihr blutig zu büßen haben würdet.«
»Würdest du zum Kampf bis aufs Blut gegen uns anrennen?« fragte Christoph.
»Wenn' s sein muß, – ganz gewiß!«
»Das willst du auf dein Gewissen nehmen?«
»Ohne Zaudern und mit allen Konsequenzen!« sprach der Freiherr gereizt, kaum noch an sich haltend.
»Nun, um den Mut beneid' ich dich nicht!« ließ sich Christoph hinreißen, höhnisch zu erwidern. »Wie denkst denn du über dieses infame Wildfangrecht? wagst du's, es mir ins Gesicht hinein zu verteidigen?«
Das war dem stolzen Burgherrn zu viel. Mit dem schneidenden Kommandoton des alten Reiterobersten fuhr's ihm heraus, als ob er blank zöge: »Darüber bin ich Euch keine Rechenschaft schuldig, Bürgermeister!«
»Aber Gott dem Allwissenden, Herr Reichsfreiherr!«
»Dem werd' ich einst Rede stehen, aber nicht Euch. Als pfalzgräflicher Obervogt verlang ich auch beim Wildfangrecht unbedingten Gehorsam.«
»Den ich Euch verweigere, Herr pfalzgräflicher Obervogt!«
»Bürgermeister!!« – – Der Freiherr war aufgesprungen und sofort auch Christoph Armbruster. Zornbebend, schwer atmend standen sie sich gegenüber und bohrten Blick in Blick; der Tisch war zwischen ihnen. Allmählich aber trat in des Freiherrn Zügen ein Wechsel ein wie von Gewitterdrohen zu Sonnenschein; ein halb gutmütiges, halb überlegenes Lächeln glitt darüber hin, und ruhig sprach er: »Chrischtoph, wollen wir zwei alten Kerle uns hier beim Wein über Dinge zanken, an denen wir beide nichts ändern können? Komm' her! stoß an, pax nobiscum!«
Damit war der Bürgermeister entwaffnet; nicht eine Sekunde lang zögerte er. Glas klang an Glas, und jeder tat einen kräftigen Zug. »So! nun laß uns vernünftig miteinander reden.«
Sie setzten sich wieder, und Remchingen behielt das Wort: »Deine Niftel muß hörig werden, das ist nicht abzuwenden, aber ich kann die Zügel straff ziehen oder am Boden schleifen lassen. Wenn nur der vorgeschriebenen Form genügt wird, in der Sache läßt sich manches mildern.«
»Wie denn? womit denn mildern?« fragte Christoph.
»Der Faut legt die Hand auf Trudi, spricht sie in meinem Namen hörig und fordert den Fahegulden. Den wirst du doch zahlen?«
»Zehnfach, hundertfach!« rief Christoph, »wenn ich sie damit frei kriegte.«
»Das nicht, ablösbar ist das Wildfangrecht nicht,« belehrte ihn der Freiherr. »Dann ist sie also meine Leibeigene, und ich kann mit ihr schalten und walten nach meinem Belieben, kann ihr in Dienst und Fron große Erleichterungen gewähren, kann sie hier auf dem Abtshofe bei euch wohnen lassen –«
»Mit dem unauslöschlichen Makel der Hörigkeit wie mit einem ihr vom Henker aufgebrannten Schandmal gezeichnet,« fiel der Bürgermeister wieder heftig werdend ein.
»Ein unsichtbares, nur eingebildetes,« sagte der Freiherr. »Es ist keine Strafe und keine Schande, wie auch eine alte Narbe von einem Schwerthieb kein Schimpf ist, sondern eine Ehre.«
»Dieter, du bist ein freier Herr, und ich bin ein freier Bauer,« sprach Christoph. »Wir haben beide für unser Vaterland mit dem eingedrungenen Feinde gekämpft und können von ehrenvollen Narben reden. Wunden, die das Wildfangrecht schlägt, verharschen niemals.«
»Ja, Chrischtoph, – mehr, als ich gesagt habe, kann ich nicht tun,« erwiderte der Freiherr achselzuckend.
»Das seh ich noch nicht ein,« sprach der Bürgermeister. »Wozu hast du deine fast unbeschränkte Vollmacht?«
»Am Gesetz findet sie ihre unübersteigbare Schranke.«
»Du nennst das ein Gesetz; ich nenn es eine frevelhafte Willkür, eine unerhörte Tyrannei.«
»Ich habe dir schon versprochen, Chrischtoph, die Willkür zu mäßigen soviel ich nur irgend vermag.«
»Wohl! das weiß ich dir Dank, Dieter! aber – –«
»Noch ein Aber?«
Christoph nickte. »Das traurigste muß ich dir nun noch offenbaren.«
Dietrich von Remchingen blickte den Freund erwartungsvoll an.
»Unsere Trudi und der älteste Sohn Gersbachers lieben sich und wollten sich heiraten. Das ist nun nicht möglich, Franz Gersbacher kann keine Hörige freien. Das Wildfangrecht macht alle ihre Hoffnungen jämmerlich zunichte, sie müssen ihrem Glück entsagen.«
»Chrischtoph, wenn ich ein junger Bursch wäre und liebte ein Mädchen, so nahm' ich's zum Weib, auch wenn's hörig wäre,« kam es fast jugendlich aus des Freiherrn Munde.
»Und würdest damit selber hörig,« warf der Bürgermeister ein. »Unfreie Hand zieht die freie nach sich.«
»Wer sagt das?«
»Der Schultheiß Gottfried Bosinger, und der muß es wissen.«
»Das ist ein Irrtum, eine falsche Auslegung der Bestimmungen.«
»'s ist eben Wildfangrecht,« bemerkte der Bürgermeister mit beißendem Spott.
»Nein, das ist nicht Wildfangrecht,« widersprach der Freiherr, »wenigstens steht diese Klausel nicht in dem jüngst proklamierten Edikt. Vor hundert oder zweihundert Jahren mag das so gehandhabt worden sein; heute gilt das meines Wissens nicht mehr.«
Christoph erhob sich. »Das gibt der Sache ein anderes Gesicht,« sagte er freudig aufatmend. »Aber wenn auch,« fuhr er schnell wieder ernüchtert fort, »Florian Gersbacher läßt es nicht zu, daß sein Sohn eine Hörige nimmt.«
»Wenn er sich weigert, so beruft euch auf mich und auf das, was ich dir zugestanden habe,« tröstete ihn der Freiherr. »In ihrer Liebe soll Trudi frei sein; bis ins Herz hinein soll das Wildfangrecht nicht greifen, das laß ich nun wieder nicht zu. Steht eure Niftel in meiner Gewalt, so steht sie auch unter meinem Schutz. Also macht euch keine unnützen Sorgen, Alter!« schloß er und erhob sich ebenfalls.
»Unnütze, Dieter? mit all deinem Troste kannst du sie mir nicht verscheuchen,« sprach der Bürgermeister. »Was in dem Edikt steht oder nicht steht, weiß ich nicht, aber aufgehoben wird die Bestimmung über die Verheiratung eines Wildfanges nicht sein, also gilt sie noch, damit man statt eines gleich zwei Überrumpelte in der hinterlistig gelegten Schlinge hat. Trudi, meine Niftel, hörig und leibeigen! es ist mir wie ein Schlag vor den Kopf.«
»Chrischtoph, du wirst bei ruhiger Überlegung anders davon denken und dann die Sorgen von dir abschütteln,« sagte der Freiherr, aber es klang matt und unsicher; er glaubte offenbar selber nicht an seine Worte. »Jetzt laß mir den Gaul bringen, 's ist Mittagszeit, und grüß' mir deine Frau Eheliebste.«
Bald scharrte das Pferd auf dem Hofe. Nach einem festen Händedruck der beiden alten Freunde saß Dietrich von Remchingen auf und ritt finsteren Gesichtes ab.
Als er schon zum Tore hinaus war, stand Christoph Armbruster, in Sinnen versunken, noch immer auf den Stufen vor der Tür. Dann schüttelte er hoffnungslos das Haupt, wandte sich und ging langsam ins Haus.